Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XLII. Kapitel.

Der Skat und die Metaphysik, das Billard und Emilia Galotti, Herr Strecker und die deutsche Treue, Herr Drögemüller und ein Krach.

Erholung und Stütze fand Asmus auch bei den Herren seiner Schule, und es hatte nicht lange gewährt, bis er, einen einzigen ausgenommen, zu allen in das beste kollegiale Verhältnis kam. Wie natürlich, hatte aber sein Herz unter diesen Männern eine engere Wahl getroffen und am besten hatten ihm zwei gefallen, Fritz Goers, ein wohlbeleibter, jovialer Riese, der Asmussens Vater sein konnte, und Klaus Heide, ein sehniger, knorriger Dithmarscher. Und wenn es nun in den Konferenzen etwas Gutes und Neues durchzusetzen galt, zogen diese Triumvirn an einem Strang.

Aber sie zogen nicht nur an einem Strang, sie sogen auch oft an einem Trank, der bei Herrn Kuhlmann besonders kühl und frisch verzapft wurde. Herr Kuhlmann hieß Akademos, und sein Garten wurde die Akademie genannt. Es war für Asmus zunächst eine Skat- und Billard-Akademie. Dem Skat vermochte er keinen Geschmack abzugewinnen; er gewann es nicht über sich, diese Kunst mit dem strengen, sittlichen Ernste zu üben, den sie verlangte; er dachte immer an irgend etwas andres, »wimmelte« Aß und Zehn in die Stiche des Gegners hinein und hatte außer fortgesetzten Verweisen wegen Unaufmerksamkeit nichts davon als die Ehre, bezahlen zu dürfen. Dagegen entwickelte er unter Goers, des Riesen mildväterlicher Führung das Billardspiel zur Leidenschaft. Um Mitternacht begann dann die pädagogisch-ästhetisch-philosophische Sitzung, die Heide gewöhnlich durch irgendein wildes Paradoxon eröffnete, welches Paradoxon dem Asmus Semper alsbald wie eine Rakete durch den Leib fuhr. Damit es an Meinungen und Temperament nicht fehle, kam gewöhnlich noch Heides Freund, der kleine Stockelsdorf hinzu, und in der Regel endeten diese schweren Verhandlungen morgens um sechs Uhr unter einer Straßenlaterne, mit einem Streit über die Frage, ob Raum und Zeit Anschauungen a posteriori oder a priori seien, oder über ähnliche Bagatellfragen, und die vorübergehenden Milch- und Brotleute pflegten sich über die Erregung der Herren baß zu verwundern. Eines herbstlichen Abends aber, als sie auf dem Hamburger Gänsemarkt, dem Lessing-Denkmal gegenüber, in einem Café saßen, ward Asmus plötzlich stumm.

»Was hast du?« fragte Heide, der Dithmarscher.

»Ich betrachte schon eine ganze Zeit lang dies wunderbare Licht da auf dem Scheitel des Lessing,« sagte Asmus, »und kann mir nicht erklären, woher dieser rötliche Schein kommt. Diese Erscheinung hat für mich etwas Ergreifendes.«

Die andern bestätigten seine Beobachtung und zerbrachen sich den Kopf, wo dieses magische Licht seinen Ursprung haben möge.

»Das ist die Sonne,« sagte der Kellner, der eben eine Runde Grog brachte.

»Wieso Sonne?« rief Asmus. »Die Mitternachtssonne, was?«

»Es ist sechs Uhr,« sagte der Kellner.

Die vier zogen gleichzeitig die Uhr. Es war sechs. Sie hatten in ihrer Unschuld gemeint, es sei ein bißchen nach Mitternacht.

Jetzt tranken sie ihren Grog aus, traten auf den Markt hinaus und hatten vor dem Lessing-Denkmal noch einen dreiviertelstündigen Streit darüber, ob Emilia Galotti den Prinzen liebe oder nicht; dann schlenderten sie in die Vorstadt hinaus und befriedigten auf dem Wege unaufhörlich metaphysische Bedürfnisse.

»Wie kann ein Volk wie das französische ohne Metaphysik leben!« krähte Stockelsdorf um die Wette mit einem Hahn, der aus einem nahen Stalle seinen Weckruf erschallen ließ.

Und Asmus, der nicht ohne Metaphysik leben konnte, bewies Stockelsdorfen, daß man sehr gut ohne Metaphysik leben könne; denn es war in diesem Kreise stillschweigendes Gesetz, daß keine Behauptung unwiderlegt bleiben dürfe. Das war eine gute Übung; denn was sie dabei an Unsinn produziert hatten, das fiel ihnen am andern Tage von selbst ein und war eine wohltätige Verschärfung ihres Katers.

Trotz dieser außerordentlichen Anstrengungen schnitt Asmussens Klasse bei der Osterprüfung vortrefflich ab, und ein angesehener Spezialist des Rechenunterrichts sagte: »Die Klasse rechnet besser als die meine.« Auch Herr Drögemüller fand nicht das geringste zu erinnern; aber Frieden konnte er darum doch nicht halten. Der Bund der Triumvirn war ihm ein Pfahl im Fleische; denn die Festigkeit der Dreie steifte auch andern Herren den Nacken. Freilich hatte er einen gewissen Trost und eine stille Freude an Herrn Strecker. Herr Strecker war ein Mann, der wiederholt nicht nur vor dem ökonomischen, sondern vor allen möglichen anderen Bankrotten gestanden hatte. Als es am schlimmsten um ihn stand, hatte er Buß' und Reu' in sich erweckt; fromme Hände, die gewöhnlich mächtig sind, hatten ihm unter die Arme gegriffen und ihn vor der Katastrophe bewahrt, und nun suchte er den oberen Stellen seine Schönheit zu beweisen durch strotzende Religiosität, heftigen Patriotismus mit gelegentlicher Denunziation von Majestätsbeleidigern und durch lackierte Pflichterfüllung. Seine Schüler sprangen wie ein Mann auf die Füße, wenn der Herr Hauptlehrer eintrat, gingen auf dem Hofe immer genau zu Vieren, und jeden Morgen eröffnete er mit Gebet und Choral. Zwar kam er manchmal zu spät; aber seine Schüler konnten ihn schon von weitem die Straße heraufkommen sehen, und wenn er dann den Schirm hob, setzten sie sofort ein mit

»Dich seh' ich wieder, Morgenlicht! –«

so vorzüglich waren sie geschult. Seine Hefte waren immer richtig korrigiert; er hatte aber auch für die Korrektur der Hefte, die größte Plage des Lehrers, ein ingeniöses, zeit- und nervensparendes Verfahren erfunden. Der Präparand nämlich, der bei ihm hospitieren und die Kunst des Unterrichtens erlauschen sollte, stand hinter einer geöffneten Schranktür, hatte im Schrank die Hefte und die rote Tinte vor sich und korrigierte. Wenn dann Herr Drögemüller zur Tür hereintrat, rief Herr Strecker:

»Rieffelstahl! Sitz gerade!«

oder

»Rieffelstahl! Schau hierher!«

und »Rieffelstahl!« war immer das Zeichen, daß der Präparand die Schranktür unauffällig schließen und mit einem sittlich reinen Angesichte hervortreten solle. Solche Mannen wie Strecker – »ich bin ein deutscher Mann«, pflegte er zu sagen, – sind nun freilich keine starken Helfer im offenen Streit; aber er trug seinem Hauptlehrer manche schätzenswerte Nachricht über seine Kollegen zu; auch er führte ein Notizbuch. Und so berichtete er Herrn Drögemüller unter anderem, daß Herr Semper im Zeichenunterricht allerlei Allotria treibe, die gar nicht im Lehrplan dieses Unterrichts stünden.

Asmussens Schüler hatten nämlich schweigend, aber deutlich gezeigt, daß sie die unaufhörliche Fabrikation von senkrechten, wagerechten und schrägen Strichen, von Vierecken, Dreiecken, Sechsecken und ähnlichen schönen Figuren betäubend langweilig fänden, und Asmus hatte ihnen darin von Herzen zugestimmt. Er ließ sie darum im letzten Teil der Stunde allerlei Dinge zeichnen, die ihnen Vergnügen machten und die sie mit Feuereifer nachzubilden suchten. Er verfolgte damit ein Prinzip, von dem ihm schien, daß jeder vernünftige Unterricht es zum Ausgang nehmen solle. Da kam Herr Drögemüller in die Stunde, ging zwischen den Bänken umher und entbot dann Herrn Semper für die nächste Pause in sein Kontor.

»Herr Semper, ich muß Sie abermals ersuchen, sich in Ihren Stunden durchaus an den Lehrplan zu halten.«

Asmus zwang sich zur Ruhe und versuchte, seinem Chef in höflichster Form seine Beweggründe mitzuteilen. Um gerade Striche machen zu lernen, sei es doch nicht nötig, daß man ununterbrochen gerade Striche nebeneinander setze; man könne das doch auch an Figuren lernen, die dem Leben entnommen seien: oberstes Gesetz sei doch, daß der Unterricht lebendig und interessant sei; Striche und Quadrate seien aber weder lebendig noch interessant für kleine Kinder . . .

Aber das waren sozusagen Gedanken, und auf Gedanken ließ sich Drögemüller, um kein Präjudiz zu schaffen, niemals ein.

»O, Herr Semper,« rief er, »Quadrate sind wohl interessant, wenn Sie sie nur vorher mit den Kindern ausführlich besprechen, wie ich es Ihnen gezeigt habe.«

»Was Sie mir gezeigt haben, ist Geometrie und gehört – da Sie doch immer auf den Lehrplan pochen – in eine höhere Klasse. Das würde mich nun zwar nicht hindern; aber eine lange und breite Besprechung des Quadrats würde die Kinder schon deshalb öden, weil sie gar nicht begreifen würden, was ein Quadrat sie überhaupt angehe.«

Mit dem Hinweis auf den Lehrplan hatte dieser fatale Semper recht, und darum wurde Drögemüller jetzt ganz unangenehm.

»Herr Semper,« heulte er nach Art einer Schiffsirene, »ich frage Sie formell und dienstlich, ob Sie sich meinen Anordnungen fügen wollen oder nicht!«

»In diesem Falle nein,« versetzte Asmus.

»Gut. Dann werde ich dem Herrn Schulrat Bericht erstatten.«

»Ich auch,« sagte Asmus und ging.

Nach drei Tagen hatte er die Vorladung vor den Schulrat Dr. Korn.


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