Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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Drittes Buch
Kampf und Liebe

XXXVI. Kapitel.

Was für ein Mann Herr Drögemüller war und was für Lieder deutsche Kinder singen.

Der erste Eindruck, den Asmus Semper von Herrn Drögemüller, seinem Hauptlehrer und Vorgesetzten, empfing, war nicht übertrieben verlockend. Der Kopf des Mannes glich einer stark vergrößerten Billardkugel, der man einen Rettichschwanz als Bart angeheftet und die man im übrigen noch mit einer blauen Brille geschmückt hat. Nase, Mund und Stirn wären in jedem Signalement als gewöhnlich bezeichnet worden. Herr Drögemüller kanzelte gerade einen kleinen, kümmerlich dreinschauenden Buben ab, weil er auf Holzpantoffeln zur Schule kam. Er behandelte das gleichsam wie einen moralischen Defekt, dessen man sich zu schämen habe, und erklärte dem verschüchtert dastehenden Kinde, wenn das noch einmal vorkomme, werde er ihm einen »Tadel in Ordnung« geben.

»Wenn man das hingehen läßt,« sagte Herr Drögemüller, »dann kommen immer mehr mit Holzpantoffeln, und man kann das Geklapper auf den Treppen nicht mehr aushalten.«

Asmus hatte auf der Zunge, zu sagen: »Aus Übermut trägt wohl der Mensch keine Holzklötze an den Füßen; Stiefel sind ihm ohne Zweifel bequemer, wenn er sie hat«; aber er wollte sich nicht gleich opponierend einführen und sagte deshalb nur:

»Gibt es nicht einen Verein, der solche Kinder mit Stiefeln versorgt?«

»Gewiß!« versetzte der Hauptlehrer; »ich könnte ihm ein Paar Stiefel anweisen; aber seine Mutter, das ist eine ganz Renitente. Als ich ihr sagte, sie solle den Jungen doch taufen lassen – getauft ist er nämlich auch nicht – da sagte sie, das täte ihr Mann nicht, und was ihr Mann wolle, daß wolle sie auch.«

»Hm,« machte Asmus. Ein Pestalozzi war dieser Mann nicht, das war schon festgestellt.

Er unterschied sich insofern vorteilhaft von dem »Schulmeister von Stanz«, als er sauber und ordentlich gekleidet war; aber es war Ordnung ohne Geschmack und Gefälligkeit, eine Ordnung mit schlechtsitzenden Hosen und kreuzweis geknoteten Bindeschlipsen, und als Asmus wie hypnotisiert die Karrees des grauen Rockes betrachtete, da las er unaufhörlich 1 × 1 × 1 × 1 × 1 × 1 . . . .

Nein, ein Dichter, wie der unordentliche Verfasser von »Lienhard und Gertrud« war dieser Mann gewiß nicht, »Abendstunden eines Einsiedlers« träumte er sicherlich nicht; aber das konnte man auch schließlich nicht verlangen, und als er die Papiere des ihm von der Behörde zugewiesenen Jünglings eingesehen hatte, bemerkte er sogar liebenswürdig, er beglückwünsche sich, einen Mann von solchen Fähigkeiten gerade an der »ihm unterstellten« Schule angestellt zu sehen.

Wie ganz anders ward Asmussen ums Herz, als er sich wenige Tage später mitten in einen Garten von sechzig jungen Menschenpflanzen gestellt sah, wo sechzig lebendige Brünnlein aus roten Lippen sprangen. In einem Punkte freilich hinkte der Vergleich mit einem Garten bedenklich: die Pflanzen haben die gute Gewohnheit, ihren Ort nicht willkürlich zu verändern; diese Menge von Kindern aber war in ihren Bewegungen höchst willkürlich, und Asmussen kam es vor, als habe er einen Topf voll Mäuse zu hüten und müsse aufpassen, daß keine über den Rand springe. Einige zwar saßen bang und verschüchtert da; sie mochten ein unerhört Neues, ein fürchterlich Geheimnisvolles erwarten und waren vielleicht mit der Vorstellung gekommen, daß der Bakel unaufhörlich durch die Schulstube sause wie die Sense des Mähers übers Feld; denn es gibt Eltern, die die Arbeit des Lehrers liebevoll vorbereiten, indem sie Kindern, die sie nicht bändigen können, mit der Aussicht drohen: »Na, warte nur, wenn du zur Schule kommst! Der Lehrer wird dich schon bläuen.« Aber sobald diese Beklommenen merkten, daß der »Herr Lerrer« kein Menschenfresser sei und sogar großartigen »Spaß« mache, zogen gerade sie die weitesten Konsequenzen und gingen über Tisch und Bänke. Und sieh, da schritt schon einer festen Schrittes auf die Tür zu.

»Wohin?« fragte Asmus.

»Ich will'n büschen 'raus!« versetzte das Bürschchen unbefangen.

»Was willst du denn draußen?«

»Och, 'n büschen spielen.«

»Ja, Mensch, so allein spielen, das macht doch keinen Spaß. Wart' nur noch einen Augenblick, dann gehen wir alle hinaus und spielen »Jäger und Hund«.

Das leuchtete dem Flüchtling ein. »O djä!« rief er, senkte beide Fäustchen in die Hosentaschen und ging wieder auf seinen Platz.

»Du, ich hab' Limburger Käse aufs Brot!« rief eine Stimme aus dem Hintergrunde. Asmus ging hin und äußerte seine teilnehmende Begeisterung über den Limburger Käse. Natürlich mußte er jetzt den Inhalt zahlloser Frühstücksdosen bewundern.

»Ich hab' Leberwurst auf'm Brot!« »Ich hab' 'ne Apfelsine!« »Ich hab' Schokolade!« schrie es durcheinander.

»Ihr könnt wohl lachen!« sagte Asmus. »Meine Mutter hat mir keine Schokolade mitgegeben.«

»Da!« Ein Junge sprang aus der Bank und hielt ihm ein Stück Schokolade hin.

Asmus dankte gerührt, löste das Papier von der Schokolade und wollte sie dem Geber in den Mund schieben; der aber lehnte entschieden ab.

Da sah Asmus zwei brennende Augen in verzehrendem Verlangen auf sich gerichtet; es waren die Augen eines dürftig gekleideten, blassen Bürschchens.

»Soll er sie haben?« fragte Asmus den Spender.

Der nickte eifrig ja, und begierig griff der Verlangende nach der köstlichen Leckerei.

Um den Schwarm endlich zu beruhigen, sagte Asmus: »Soll ich euch mal 'ne Geschichte erzählen?«

»O ja, man zu, man zu!« schrien sie durcheinander. Und er erzählte ihnen das Ur- und Anfangsmärchen vom Rotkäppchen, das sie alle verstehen und das sie beim hundertsten Male ebenso gern hören wie beim ersten Male.

Als er mitten im Erzählen war, kam ein Junge aus der Bank heraus, ging auf Asmussen zu, ergriff dessen Hand und sagte:

»Du, ich mag dir gerne leiden.«

»Soo?« sagte Asmus; »Junge, das ist ja prachtvoll; ich dich auch; aber dann mußt du jetzt auch ganz still sitzen bleiben und zuhören!«

»Ja,« erklärte der Kleine überzeugt und ging ruhig wieder an seinen Platz.

Für einen andern aber hatte Asmussens Erzählung offenbar keinen Reiz. Er erhob sich und steuerte geraden Wegs auf die Tür zu.

»Was willst du denn?« fragte Asmus.

»Ick will noh Hus,« lautete die sehr entschiedene Antwort.

»Jä, dat geiht ober nich; du muß noch'n bitten hierblieben.«

Der kleine dicke Bursche explodierte in einem furchtbaren Geheul.

»Ick will ober noh Huuus!« brüllte er.

»Wat wullt du denn dor?«

»Ick will bi min Mudder sin!«

»Minsch, de Klüten (Klöße) sünd jo noch gornich fertig.«

Der Kleine nahm die Fäuste von den Augen und starrte ihn sprachlos an.

»Du wullt wull gern Klüten un Plum'n (Pflaumen) eeten, wat?« fragte Asmus.

»Jo,« versetzte der Kleine, von so viel Verständnis seiner Seele überrascht.

»Jä, Hein, de sünd jo noch gornich gor! Bliev man noch'n bitten sitten; ich segg Di denn Bescheed, wenn din Mudder se fertig hett.«

Auf diesen Kontrakt ging Heinrich Lohmann ein und verfügte sich langsam wieder an seinen Platz

Als die Geschichte zu Ende war und die Geisterchen wieder nach allen Himmelsrichtungen auseinanderfielen, sprach er:

»Nun paßt aber mal auf, was jetzt kommt!«

Sie waren plötzlich still.

Mit geheimnisvollen Mienen ging Asmus an einen Schrank.

»Was ich wohl hier im Schrank habe!« sagte er.

»Frühstück!«

»Nein.«

»Schokolade!«

»Nein.«

»'n Bilderbuch!«

»Nein. In diesem Schrank hab' ich einen Vogel; wenn man den streichelt, dann singt er.«

»Oooh – laß ihn mal 'raus!« riefen einige.

»Ja, ich will ihn mal herauslassen.« Er öffnete den Schrank und nahm einen Geigenkasten heraus.

»O, ich weiß, Herr Lehrer, ich weiß!« riefen ein paar Gescheite.

»Pst! Nichts verraten! Das ist das Vogelbauer. Paßt gut auf, daß er nicht herausfliegt,« sagte er zu den Nächsten, und sie spreizten die Händchen und öffneten die Mäulchen, als wollten sie den Flüchtling mit Mund und Händen auffangen. Die Hintensitzenden stiegen auf die Tische und reckten die Hälse. Asmus öffnete den Kasten und nahm Geige und Bogen heraus.

»Hurra – hallo,« schrien sie alle; aber dann wurden sie noch stiller als zuvor, und nun hatten alle die Schnäbel offen.

Asmus setzte den Bogen an und spielte einen raschen Lauf vom kleinen  g bis zum dreigestrichenen.

Da waren sie plötzlich wie »voll süßen Weins«, sie gingen über Tisch und Bänke, hopsten, sprangen und faßten sich an und tanzten.

»Was soll ich nun 'mal spielen« fragte Asmus.

Ach, was mußte er da für Erfahrungen machen! Einige nannten ein paar Spiellieder, die sie in einem Kindergarten gelernt hatten; die meisten aber nannten Gassenhauer und Operettenmelodien, die auf die Drehorgel gekommen waren. Ein rechtes, gutes Volkslied nannte nicht einer; denn das deutsche Volkslied wird im deutschen Hause nicht mehr gesungen.

Asmus erzählte ihnen von dem Häslein, das der Jäger totschießen wollte, und dann sang er:

Als der Mond schien helle,
Kam ein Häslein schnelle,
Suchte sich sein Abendbrot,
Hu, ein Jäger schoß mit Schrot.

Er sang, wie das Häslein den Mond bat, sein Licht auszulöschen, und wie es dem Jäger entkam.

Häslein ging zur Ruhe,
Zog aus Rock und Schuhe,
Legte sich ins weiche Moos,
Schlief wie auf der Mutter Schoß.

und die Lieblichkeit von Wort und Weise, die Unschuld der Kindertage, da er sie zuerst gesungen, die Schönheit der Stunden, da er sie bei Meister Bruhn gehört und gegeigt, und die saugende Andacht all dieser reinen Augen, die durstig an seinen Lippen hingen, überströmten sein Herz mit einem so überschwenglichen Glück, daß ihm die Augen feucht wurden.

»Nun will ich's einmal spielen,« sprach er und spielte das Lied.

»Wollt ihr jetzt 'mal mitsingen?«

Jubelnd ergriffen sie diesen Vorschlag.

Und alle sangen sie mit. Ei, ei, ei, war das eine Musik! Es klang noch ganz furchtbar. Aber sie fanden es schön, und am eifrigsten sang Peter Brandenburg, dessen Gehör und Stimme nur einen einzigen Ton hatten, und der klang wie das Surren einer Hummel, die man in eine Schachtel eingesperrt hat.

»Wer will mir nun 'mal was vorsingen?« fragte Asmus.

Manche getrauten sich nicht; aber die meisten hielten mit ihrem Talent nicht zurück und sangen frisch von der Leber weg.

»Denke dir, mein Liebchen,
Was ich im Traume geseh'n«

oder

»Dat Scheunste, wat man hett,
Dat is so'n Zigarett'«

oder

»Ach, mein Schreck, ach, mein Schreck!
Meine teure Hulda ist weg!«

nein, so viel Asmus auch horchte und forschte und hoffte, er hörte nichts Gutes, Schönes, Gesundes. Wohl aber begann ein Bürschlein frisch und frei ein ausgesprochenes Zotenlied zu singen.

»Genug, genug!« rief Asmus und hieß das Kind schweigen. Dies Lied, von frischen Kinderlippen ahnungslos gesungen, hatte ihm einen furchtbaren Eindruck gemacht. Die Schule lag in der Hafengegend; unter ihrem Publikum gab es mancherlei Armut und Verwahrlosung, und unter den Schülern waren auch Kinder »anrüchiger« Straßen.


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