Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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LVII. Kapitel.

Fängt fröhlich an und endet traurig; das Schicksal fordert seinen Zoll.

Zu allen diesen Freuden schenkte das Schicksal, das ihn verziehen zu wollen schien, unserm Asmus noch eine sonnige Weihnacht. Schon zur vorigen Weihnacht hatte er die bisherige Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt und seinen Eltern den Tannenbaum geschmückt; diesmal, da er wieder ein feistes Honorar von siebzig Mark errungen hatte, sollten sie das zu essen bekommen, was in seinem Elternhause immer als das Weihnachtsgericht der Reichen gegolten hatte: Karpfen! Und Weißwein sollte dazu getrunken werden, ja Weißwein! Unmittelbar vor der allgemeinen Bescherung aber winkte Hilde ihren Gatten auf die Seite, zog ihn ins andere Zimmer, schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn du lieb bist, hab' ich noch ein besonderes Geschenk für dich – freilich noch nicht heute.« Er sah ihr mit jähem, frohem, fragendem Staunen ins Gesicht.

»Ja ? ? !«

Sie nickte eifrig.

»Wann denn?«

»Ich denke, im Juli oder August.«

Da küßte er sie unzählige Male und zog sie in das Weihnachtszimmer und war, noch bevor er den Weißwein genossen hatte, so trunken, daß er die Lichter des Tannenbaumes nicht doppelt, nein siebenfach, nein hundertfach sah.

Rebekka Semper fand den Karpfen köstlich, fand überhaupt, daß Hilde eine »gebor'ne Köchin« sei, und Ludwig Semper lächelte sein stillstes und innigstes Lächeln, als habe er den Weg zurückgefunden zu den strahlenden Tannenbäumen seines Elternhauses. Er sprach mit Asmus von dessen Gedichten und nannte die, die ihm besonders gefallen hatten, und obwohl eines Vaters Beifall zu den Werken seines Sohnes vor der Welt keinen Klang hat, so wußte Asmus doch, daß ihm nie ein schönerer Lorbeer gedeihen könne als dieses schweigsamen Mannes Lob und Lächeln. Diesem großen und stillen Herzen zu gefallen, das war ein großer und stiller Ruhm. Aber nur ein Semper konnte das wissen.

Ludwig Semper war aufgeräumt und gesprächig wie seit langem nicht; er erzählte, wie Asmus einst mit kleinen Kinderschrittchen neben ihm über die Wiese getrippelt sei und gerufen habe: »O Vater, hier ist es gerade so wie dein Geburtstag!« wie der Kleine unzählige Male an seinen Arbeitstisch gekommen sei und ihm nach Wunsch aus dem »Freischütz«, aus der »Nachtwandlerin« und wohl aus zwanzig andern Opern vorgeblasen, was er aufgefangen habe, ja, Ludwig Semper stieg weit in die eigene Kindheit hinab und sprach von seinem Vater, dem Kaufmann Carsten Semper, auf dessen Diele jeder Besucher Schinken essen und Kornschnaps trinken konnte, ohne zu bezahlen, und von dem Tage, da der Justizrat quer über die Straße auf seinen Vater zugelaufen kam und rief: »Wissen Sie schon, Herr Semper, Goethe ist tot!« Es war wie Sammlung und Rückblick in diesen Reden Ludwig Sempers; aber die Seinen merkten es nicht. Wohl war ihnen aufgefallen, daß er die Speisen kaum berührt hatte, selbst die Karpfen nicht; aber da er ihre Besorgnis mit Lachen zurückwies, so hatten sie sich beruhigt. Freilich hatte Frau Rebekka erklärt, daß er schon länger an Appetitlosigkeit leide und daß sie ihn »natürlich« nicht zum Arzt kriegen könne.

Als Asmus seine Eltern am Sylvestertage besuchte, hörte er, daß sein Vater sich von der Weihnachtsfeier nur mit unsäglicher Mühe nach Hause geschleppt habe. »Ich werde den Weg nicht wieder machen können,« sagte Ludwig Semper mit wehmütigem Lächeln. »Ei was!« rief Asmus, »dann holen wir euch einfach in der Droschke; wir haben's ja!« Und er dachte sich, welch eine Lust es sein werde, die »Alten« im Triumph einzuholen, zu Wagen, wie ein Fürstenpaar! Und noch einmal ging er beruhigt heim.

Beim nächsten Besuch fand er seinen Vater zum Schlimmen verändert. Er konnte nicht mehr arbeiten, saß in seinem alten Lehnstuhl und mochte nicht sprechen. Seine Gesichtsfarbe war grau geworden, und wie Frau Rebekka mit Kümmernis erzählte, schlief er den größten Teil des Tages. Sein Appetit war nicht zurückgekehrt.

Mit Bangen im Herzen ging Asmus diesmal davon. Sollte das Schicksal –? Nein, einen so harten Zoll konnt' es nicht fordern; so grausam konnt' es sein Glück nicht verkürzen wollen! Ja, wenn es ein achtzig-, neunzigjähriger Greis wäre, dann müßte man sich mit der Notwendigkeit versöhnen. Aber mit siebenundsechzig Jahren konnte das Schicksal diesen Mann nicht hinraffen wollen, diesen Mann nicht! Selbst völlig fremde Menschen mußten dem Zauber dieses Mannes huldigen. Als Asmus vor nicht langer Zeit im Lehrerverein geredet und die Kunst als Erzieherin proklamiert hatte und auch sein Vater als Gast zugegen gewesen war, da hatte die Versammlung dem Redner ein Hoch gebracht. Gleich darauf aber hatte sich der Vorsitzende erhoben und gesprochen: »Ich glaube, nicht fehlzugehen, wenn ich in dem ehrwürdigen Manne, der unserm Semper zur Seite sitzt, seinen Vater vermute.« Und dann hatte er mit kühner, launiger und geschickter Psychologie aus dem Wesen des Sohnes ein Bild des Vaters konstruiert und hatte diesen Vater gefeiert, und mit brausendem Hurra hatte die Versammlung ihm zugestimmt. Asmus hatte heimlich nach seinem Vater geschielt und hatte gesehen, wie er sich freute, und daß dieser Mann, der sein ganzes reiches Pfund in Weltabgeschiedenheit vergraben hatte, nun doch einmal vor aller Welt die Ehren genoß, die ihm gebührten, das war doch von allen Erfolgen Asmussens der beglückendste gewesen.

Und sollte das die letzte große Freude im Leben Ludwig Sempers gewesen sein? Nein, nicht die letzte.

Als Asmus wieder nach Oldensund kam, waren Hilde und die kleine Isolde mit ihm. Und als sie zu dem Vater ins Zimmer traten, saß er schlafend im Lehnstuhl; er erwachte auch nicht von ihrem Eintritt. Bekümmerten Herzens hörten sie, was Mutter Rebekka mit leisem Weinen berichtete. Er schlafe fast den ganzen Tag, sei nicht zum Essen zu bewegen und verstehe oft gar nicht, was man zu ihm sage. Während sie noch sprach, öffnete der Kranke die Augen; immer weiter öffnete er sie, bis sie so groß und freundlich waren wie in seinen besten Tagen.

»Wem gehört das allerliebste Kind?« fragte er leise, mit frohem Staunen.

Sie sagten ihm, daß es ja Isolde sei, Asmussens und Hildens Kind und seine eigene Enkelin.

Da verbreitete sich noch einmal von diesen Augen aus über das ganze Gesicht des Leidenden das große, unerschöpflich gütige Lächeln, das über Asmussens ganzer Kindheit wie eine treulich wiederkehrende Sonne geleuchtet hatte, und dann schlossen sich die Augen wieder, und der Kranke war wieder entschlummert.

Die Besucher schlichen hinaus, und draußen nahm Asmus seine Mutter auf die Seite und fragte: »Was sagt denn der Arzt?«

Da konnte sich Rebekka nicht mehr halten: laut jammernd rief sie: »Ach Gott, der schreckliche Mensch sagt, es wäre vielleicht Magenkrebs, – ich werd' ja verrückt, wenn ich bloß daran denke!«

Das machte Asmus vom Kopf bis zu den Füßen erstarren. Über all seine Befürchtungen hatte immer wieder die Hoffnung gesiegt, es werde vorübergehen. Dieser Schlag betäubte ihn. Aber nur für einen Augenblick. Er schickte Hilden und das Kind nach Hause und rannte zum Arzt.

»Ja,« sagte der, »alle Anzeichen sprechen dafür. Ich habe keine Magensäure gefunden, das ist das sicherste Symptom.«

»Herr Doktor,« stammelte Asmus, »Sie dürfen mir nicht zürnen, – Sie sind ja auch nur ein Mensch, – Sie müssen sich in meine Lage versetzen, – es ist mein Vater, – würden Sie es mir übelnehmen, wenn ich noch einen zweiten Arzt befragte?«

»Durchaus nicht,« versetzte der Arzt, »Sie machen sich freilich unnötige Kosten; aber wenn es Sie beruhigt –«

Asmus eilte zu einem Altenberger Arzt, der ihm als besonders tüchtig empfohlen war. Der ließ ihn kühl an. Wer denn seinen Vater behandle?

Der Doktor Soundso.

Ja, das sei ja ein sehr tüchtiger Arzt. Er wisse nicht, was er da solle.

Asmus flehte ihn an, er möchte doch kommen.

»Nun ja, ich kann ja hinkommen.«

Und Asmus ging mit neuer Hoffnung: Der wird vielleicht zu einem anderen Ergebnis kommen.

Als er andern Tages ins Elternhaus kam, war der zweite Arzt noch nicht dagewesen. Der Kranke aber delirierte und konnte nur mit größter Mühe im Bette festgehalten werden. Da kam Asmussen der Gedanke: Ins Krankenhaus. Hier, in diesen ärmlichen, beschränkten Verhältnissen konnte ja der Vater nicht gepflegt werden wie im Krankenhause, und wenn eine Operation nötig war, mußte er doch dorthin. Und dort waren die besten Ärzte. Er besorgte die Aufnahme ins Krankenhaus, nahm eine Droschke und fuhr vors Elternhaus. Nun holte er seinen Vater in der Droschke! Aber nicht im Triumph, ach Gott, nicht im Triumph! Ohnmächtig lag ihm sein Vater im Arm wie ein Kind, und als er so mit seinem Vater im Wagen allein war, rannen seine Tränen unaufhörlich. Als er den Vater endlich wohlgebettet sah, eilte er zum Arzt des Krankenhauses und erstattete ihm Bericht über den Kranken. Dieser Arzt war ein feiner und milder Mann; er hörte den Sohn, aus dessen Worten er wohl die fliegende Angst des Herzens vernahm, mit großer Teilnahme an und entließ ihn mit neuer Hoffnung. Nun kann noch alles gut werden, dachte Asmus. Dieser Arzt ist ein vortrefflicher Mann, und im Krankenhause hat man alles zur Hand, was man zur Pflege eines schwer Erkrankten braucht.

Andern Mittags, als er auf der Schule heimkam, war sein erstes Wort:

»Ist Nachricht vom Krankenhause da?«

»Ja,« sagte Hilde ernst, »der Bote war hier.«

»Und?« rief er begierig.

»Du weißt es doch schon, nicht wahr?« sprach Hilde sanft. Er starrte sie an. »Ist er –?« Er brachte das Wort nicht heraus.

Sie nickte stumm und legte den Arm um seinen Hals. Er aber fiel mit einem einzigen, lauten Aufschluchzen in die Sofaecke.

Das also hatte er mit allen Mühen und Ängsten erreicht, daß sein Vater nun einsam gestorben war. Zwar: Ludwig Semper war nach dem Bericht der Wärter nicht wieder zum Bewußtsein erwacht, und morgens um zwei Uhr war er gestorben. Aber wenn er nun doch noch einen lichten Augenblick gehabt und wenn er Weib und Kinder gesucht hatte – mit diesem Gedanken zerfleischte sich Asmus das Herz, während er durch die Straßen rannte und die Formalitäten für die Bestattung erledigte. Dabei lief er oft stundenlang durch Gegenden, in denen er nichts zu suchen hatte; er wußte nicht, womit er sonst seine Zeit ausfüllen sollte.

Als er dann an der Bahre seines Vaters stand und den starren, tränenlosen Blick auf das weiße Haupt des Toten heftete, da mußte er unaufhörlich denken: König Lear – König Lear. Dieser Mann hatte nicht aus Torheit ein Kind verstoßen, war kein Tyrann gewesen – und war seine Liebe vergolten worden, wie sie's verdiente? Die Liebe eines Vaters kann man nicht vergelten, dachte er; jeder Vater ist ein König Lear. Und als er seine arme, gebeugte Mutter sah, als er daran dachte, daß ihre Kinder von ihr gegangen waren und das beste Teil ihres Herzens an andere gegeben hatten, da fügte er hinzu: und jede Mutter ist eine Niobe.

Er riß sich gewaltsam empor aus seinem Brüten und sah sich um. Von seinen Freunden war nur einer erschienen: Dr. Rosenberg. Und das war die erste Freude in all diesem Leid.

Als er am Grabe stand, war es wieder wie immer; er konnte nicht weinen. Er dachte, was müssen die Menschen von dir denken, daß du am Grabe deines Vaters ohne eine Träne stehst. Aber als er das dachte, konnte er um so weniger weinen. Er hatte seit jenem Aufschluchzen in Hildens Armen nicht geweint; auch als er heimgekommen war, weinte er nicht. Erst am Abend des folgenden Tages, als Hilde zu einer Besorgung das Haus verlassen hatte und er allein an seinem Schreibtisch saß, legte er den Kopf in den Sessel zurück und weinte, weinte unaufhaltsam wie ein kleines Kind, das im Gewühl und Gedränge der Menschen die Hand des Vaters verloren hat.


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