Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XXII. Kapitel.

Wie Asmus verlor, was er gefunden.

Diesen Abend nicht zu vergessen – es sollte dem armen Sturm nicht schwer werden. Wohl erholte seine Mutter sich nach einigen Wochen zusehends; aber dann kam Schlimmeres. Es sollte gerade wieder das »Stiftungsfest« der »Treue« begangen werden, und Sturm und Semper gedachten durch »Adelaide«, »Das Lied an den Abendstern«, »Tom der Reimer« und andere Kostbarkeiten die Welt in Erstaunen zu versetzen, da kam am Morgen des großen Tages der Vater Sturms zu Asmus ins Seminar und bat mit seiner leisen, höflichen Stimme um Entschuldigung für seinen Sohn, der heute nicht kommen könne, weil er einen Blutsturz gehabt habe. Es habe wohl nichts Schlimmes zu bedeuten; aber er müsse natürlich im Bette bleiben.

Asmus nahm an den folgenden Stunden ohne Aufmerksamkeit teil und eilte sofort nach Schluß des Seminars an das Bett des Freundes. Sein Gesicht war fahler denn je, die Augen groß und feucht. Aber von Krankheit wollte er nichts wissen. Die Eltern erzählten, daß er durchaus am Abend zum Stiftungsfest wolle und beschworen Semper um seinen Beistand. »Was Sie sagen, das tut er,« meinten sie. Asmus bezweifelte das, behandelte aber dem Kranken gegenüber den Besuch des Festes als etwas selbstverständlich Unmögliches. Da wurde Sturm, der sich anfangs über Sempers Anwesenheit gefreut hatte, bitter und verbissen; mit einem zürnenden Blick sagte er: »Du bist wie alle andern« und kehrte sich zur Wand. Asmus streichelte ihm leise die Hand und ging.

Am Abend erschien Alfred Sturm auf dem Stiftungsfest, heiter und humorvoll, und was Asmus auch einwenden mochte, Sturm wollte ihn auf dem Klavier begleiten. »Soll vielleicht Morieux dich begleiten?« fragte er mit einem krankhaften Feuer in den Augen. Man mußte ihn gewähren lassen. Aber als die Lieder gesungen waren, war seine Munterkeit wie abgeschnitten; ohne das Mahl und den Tanz abzuwarten, hüllte er sich in seinen Überzieher, legte sorgsam und glatt, wie es einem eleganten jungen Kaufmann geziemt, das seidene Tuch um den Hals und ging heim.

Der Exzeß schien ihm nichts geschadet zu haben; nach acht Tagen saß er wieder im Kontor. Aber schon nach vier Wochen streckte ein neuer, heftigerer Anfall ihn nieder.

»Ich möchte mich zerfleischen,« sagte er zu dem Freunde, der an seinem Bette saß. »Ich bin abscheulich gegen meine Eltern und meine Geschwister, und dabei opfern sie sich für mich auf. Das weiß ich ganz genau, und doch kann ich nicht anders. Mich ärgert alles, was ich sehe, und wenn ich allein bin, heul' ich vor Reue wie ein dummer Junge.«

Er rappelte sich abermals heraus und zog nun ans Elbufer; von der Lust dort hoffte er Genesung. Zu einer weiteren Reise langten die Mittel nicht. Dort hatten die beiden in Ritschers Garten noch einen schönen, sonnigen Nachmittag.

»Ich hab' in einer Ewigkeit keine Zigarre geraucht,« sagte Sturm leise vor sich hin, »ob ich's mal wieder riskiere?«

Asmus riet ihm ab. »Wart' noch 'n bißchen, dann kannst du rauchen, soviel du willst.«

»Meinst du wirklich, daß ich wieder ganz gesund werden kann?« fragte Sturm schnell, eifrig, mit sehnsüchtig heiteren Blicken. Das Licht der untergehenden Sonne stand in seinen Augen.

Asmus lachte laut auf über diesen Zweifel an etwas Selbstverständlichem. Und Sturm lächelte glücklich und glaubte dem Freunde alle Versicherungen, die er sonst zurückgewiesen hatte.

Und nach einem glücklichen Schweigen sagte er:

»Du – gib mir doch eine Zigarre.«

»Ich hab' leider keine mehr bei mir,« log Asmus.

»Das ist nicht wahr; ich habe ja gesehen, daß du noch mehrere hast. Daran seh' ich, was du in Wahrheit von meiner Gesundheit hältst.«

»Na, lieber Freund, wer nicht rauchen darf, ist deshalb doch noch kein Todeskandidat; bedenk' doch, daß du erst –«

»Ach, laß nur,« machte Sturm und erhob sich. Seine Hoffnung war erloschen wie ein Licht von einem Windstoß. Auf dem Heimwege fielen nur ein paar nichtssagende Worte. Asmus machte wohl einen Versuch, den Freund wieder zu ermuntern; aber dieser sah ihn nur mit großen ernsten Augen von der Seite an und schwieg. In seiner Verlegenheit und in seinem Kummer tat Asmus das Verkehrteste, was er tun konnte, er zog die Zigarrentasche und sagte: »Willst du eine Zigarre haben?«

Sturm lachte kurz auf. »Nein, ich danke, jetzt nicht mehr.«

Als Asmus ihn nach drei Tagen besuchen wollte, vernahm er, daß Alfred Sturm »seit gestern« im Hamburger Krankenhause liege, und als Asmus dorthin kam, durfte der Kranke nur ganz wenig und im leisesten Flüstertone sprechen.

»Wie geht's?« fragte Asmus.

»Sehr gut, ich darf nur nicht sprechen,« flüsterte der Kranke. Und Asmus erzählte von diesem und jenem, wie vernünftig es sei, ins Krankenhaus zu gehen, wo die Pflege natürlich viel umfassender sein könne als zu Hause, und wie sehr man den Freund in der »Treue« vermisse; aber es schien ihm, als ob der Patient nur mit halber Aufmerksamkeit zuhöre und als ob er um einen Entschluß kämpfe. Endlich zog er unter der Bettdecke ein Blatt Papier hervor und hielt es dem Freunde hin:

»Da – es ist natürlich Unsinn – aber ich wollt' es dir doch geben –.« Asmus nahm das Blatt und las:

»Auch ich erhöbe gern auf leichten Schwingen
Den müden Geist zu dichterischem Flug,
Und schon seit langem streb' ich ernst genug,
Dir, teurer Freund, ein leidlich Lied zu singen..«

Es war ein Sonett, in dem der Verfasser den Freund mit aller schwärmenden Begeisterung der Jugend pries.

»Ich hab' – 'ne ganze Nacht – daran gezimmert,« hauchte der Kranke mit ironischem Lächeln. »Du wirst darüber lachen . . . .«

Die Wärterin erschien und mahnte mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete, zum Aufbruch. Asmus ergriff die Hand des Freundes und beugte sich über ihn, und sie hatten in diesem Augenblick beide dasselbe Gefühl: der Freund kam ihm mit mühsam erhobenem Haupte entgegen, und sie küßten sich auf den Mund.

Das ist unter niederdeutschen Jünglingen etwas Seltenes und Heiliges. Asmus pflegte nicht einmal seine Geschwister, nicht einmal seine Eltern zu küssen; er hatte nicht einmal seine Brüder geküßt, als sie nach Amerika gingen. Die Menschen dieses Himmelsstrichs, wenn sie Abschied nehmen, tun es mit einem Händedruck und mit dem Verlangen nach einer Umarmung; aber sie geben diesem Verlangen keinen Ausdruck.

Schon am folgenden Tage erhielt Asmus die Todesnachricht.

Bei dem Begräbnis ging es ihm wie bisher bei fast allen Begräbnissen; er konnte nicht andächtig und traurig sein. Dieses herkömmliche Bestattungszeremoniell mit seinem zelotischen Pfaffengesicht (»Jetzt haben wir dich, du Sünder«) mit seiner tristen Banalität war ihm so unsäglich zuwider, daß er zu keinem reinen Gedanken an den Freund kommen konnte. Erst zu Hause dehnte sich wieder das Herz. Er zog sich in sein Zimmer zurück – für die wärmere Jahreszeit war er nun doch mit seinen Studien aus der Zigarrenstube in das Wohnzimmer übergesiedelt – und ging viele Stunden lang auf und ab; nur hin und wieder blieb er am Fenster stehen und blickte nach der Richtung, wo sein Freund nun in der Erde lag. Trauriger Wahn, dachte er, auch den toten Menschen noch an die finstere Erde zu kerkern, statt ihn den freien, seligen Lüften zu geben.

Von dem endlosen Wandern erschöpft, fiel er endlich aufs Sofa und wußte nicht, warum er so erschöpft sei. Als er sich erholt hatte, zog er die Lampe näher heran, desgleichen Tinte und Papier und begann zu schreiben:

An meinen toten Freund A. S.
        »Auch ich erhöbe gern auf leichten Schwingen
Den müden Geist zu dichterischem Flug,
Und schon seit langem streb' ich ernst genug,
Dir, teurer Freund, ein leidlich Lied zu singen.«

So schriebst Du jüngst nach qualerfülltem Ringen,
Als nächtens nach des Schlummers mildem Trug
Dein brennend Aug' umsonst Verlangen trug,
Und heute hör' ich's noch im Herzen klingen.

Begnüge Dich! Du trägst nach heißem Ringen
Ins Reich der Geister ungetrübt von hinnen
Die hehre Poesie der Herzensreinheit.

Auch ich erhöbe gern auf leichten Schwingen
Einst meinen Geist, wenn Raum und Zeit zerrinnen,
So frei und stolz zum Frieden der All-Einheit.

Auf Deinen Sarg fällt manche Träne nieder,
Und bange Seufzer irren durch die Luft.
Ich starre trocknen Auges in die Gruft;
Kein warmer Tropfen quillt durch meine Lider.

Ich steh' betäubt, von Schmerz gelähmt die Glieder,
Und faß es nicht, daß unter Glanz und Duft
So holder Blumen gähnt die düstre Kluft . . .
Ich kann nicht weinen. Doch ich kehre wieder!

Wenn ich die Menschheit jammernd höre sagen:
»Die Besten müssen früh von hinnen gehen!«
Dann wird zu Dir mich die Erinnrung tragen.

An Deiner Gruft werd' ich im Geiste stehen,
Und von der Menschheit angsterfülltem Klagen
Wird auch ein Hauch um diese Stätte wehen.

Aber tiefer und sehnender, als es aus diesen pathetischen Jünglingsversen klang, wurde das Weh, als nun die Tage kamen und gingen ohne den Freund und als er in der nächsten Versammlung der »Treue« das Gesicht des Besten vergebens suchte. Er war einsilbig und ernst und ging lange vor der gewohnten Zeit nach Hause.


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