Otto Ernst
Semper der Jüngling
Otto Ernst

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XXXIV. Kapitel.

Bewegt sich zwischen Pestalozzi und Quasebarth.

Und er vergrub den Kopf in beide Hände und versenkte sich in die heiligen Träumereien dieses unschuldsvollen Einsiedlers und Poeten, den er liebte, wie man sonst nur lebendige Menschen liebt. Ja, das war wahrhaftig ein Einsiedler unter den Tagesmenschen! Schon wiederholt hatte Asmus diese Schrift gelesen, und immer hatte ihn eine eigentümliche Scheu gehindert, tiefer in ihr Dunkel einzudringen, wie man sich scheut, in ein Dickicht einzudringen, auf dem die Nachtigall schlägt. Heute war die Nachtigall fortgeflogen, und er drang ein und fand hinter dem Rankengewirr eine köstliche Architektur, die die einfachen, großzügigen Grundlinien eines wunderbaren Baues zeigte. Da stand, daß Leben und Menschsein ganz dasselbe ist in der Hütte und auf dem Thron. Das aber haben die Menschen vergessen. Sie erziehen und unterrichten nach tausenderlei äußeren und Tagesbedürfnissen, nach Berufs- und Standesrücksichten, nach Eitelkeit und Vorteil. Und vergessen, daß ein Mensch zuvor zum Menschen gebildet sein muß, eh' er etwas anderes wird. Aber zum Menschen kann man ihn nur von seiner Natur aus, von seiner Individualität aus machen, nicht von einer allgemeingültigen Schablone aus.

Das also war es: Nicht sollt ihr zum Kinde sagen: Das sollst Du werden und das will ich aus Dir machen wie aus allen Deinen Genossen, sondern ihr sollt fragen: Wer bist Du? Wie mach' ich Dich zum Menschen? Welche Wege sind in Deiner Natur vorgezeichnet, die zu jenem Menschentum führen, das allen gemeinsam ist und aus dem alles andere von selbst entsprießt?

Das schälte sich heraus aus dem Aphorismengewirr des krausen und dennoch geraden Denkers, und in diesem Geiste wollte Asmus sein Amt führen. Im Geiste dieser Schrift wollte er wirken, dieser Schrift, die in einem innigen, treuen Gottesglauben gipfelte, der nicht der Gottesglaube der Semper war. An den sorgenden Vater glaubten die Semper nicht. Aber das hatte Asmus seit langem empfunden, daß alle Menschen an einen Gott glauben, wie verschieden sie ihn auch nennen.

Es sagen's allerorten
Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,

und Asmus hatte nie begriffen, warum man von den Atheisten glaubte, sie hätten keinen Gott und könnten nicht fromm sein.

So stellte er denn auch in dem bald beginnenden schriftlichen Examen seinen Aufsatz nicht auf die Basis theistischer Frömmigkeit, die sonst über so manche Prüfungen hinweghilft. Die jungen Leute sollten über das Thema schreiben:

»Vor jedem steht ein Bild dess', das er werden soll;
So lang' er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.«

und die meisten Jünglinge erklärten Jesus Christus für das Idealbild, das vor ihnen stehe. Nun gab es unter den Abiturienten gewiß keinen, der den natürlich erzeugten Gottessohn von Nazareth inniger liebte als er; aber den Ruf, daß er ein Jesus Christus oder etwas ihm Ähnliches werden solle, vernahm er in seinem Herzen nicht. Er glaubte nicht, daß die Welt durch Leiden erlöst werden könne; er fühlte wenigstens, wenn er sich ehrlich fragte, daß er nicht gemacht sei, ohne Widerstand zu leiden. Er knüpfte an die Ideenlehre Platos an und erklärte den Unfrieden des Menschen aus der Sehnsucht nach seiner »Idee«, und er setzte auseinander, was er für seine Idee, für die Idee des Menschen im allgemeinen und für die des Asmus Semper im besonderen halte. Er fand damit bei der vorurteilslosen Prüfungskommission nicht nur vollste Anerkennung, sondern er hatte noch den Erfolg, daß ein Mitglied dieser Kommission, ein alter Jurist, zu Beginn der mündlichen Prüfung die Brille aufsetzte und rief:

»Wo ist Herr Semper?«

»Das ist nämlich ein Philosoph!« rief er den andern Herren zu.

Asmus war hervorgetreten.

»Sie sind Herr Semper?«

»Jawohl!«

»Sie sind ein Philosoph, mein junger Freund; ich habe Ihre Arbeit mit herzlicher Freude gelesen; ich danke Ihnen.«

Im übrigen ging es ihm wie »auf der Fortuna ihrem Schiff«, will sagen: auf und ab. In der Lehrprobe vergriff er sich. Er sollte Ägypten behandeln, dasselbe Ägypten, das er als kleiner Junge für eine Wiese mit Störchen gehalten hatte. Und er verfuhr ganz nach der Regel: Geographische Lage, Grenzen, Gestalt, Größe, Einwohnerzahl usw. usw. Zum Nil kam er in der halben Stunde des praktischen Examens überhaupt nicht. Als er fertig war, nahm ihn Murow, der Riese, beiseite.

»Nun, me–in lieber Samper, wann man Äjüpten behandeln will, womit fängt man dann wohl am basten an?«

Da wußte er's sofort. »Mit dem Nil,« sagte er. Und er hätte sich ohrfeigen mögen, daß er, der die Schablone haßte, sich ihr so gedankenlos und träge unterworfen hatte. Der Nil! das war der Schöpfer des Landes, war eigentlich das Land selbst; der Nil war die Individualität Ägyptens, von der man ausgehen mußte, wenn man sich rühmte, ein Jünger Pestalozzis zu sein! Er empfand eine tiefe Scham darüber, daß er so ahnungslos in Ketten ging, deren er gespottet hatte.

Und im schriftlichen Chemie-Examen hatte er eine Arbeit von grotesker Unzulänglichkeit geliefert. Er hatte einst die Chemie mit allem Feuer der Jugend geliebt; aber Herrn Quasebarths Chemie hatte darin bestanden, daß er aus einem ehrwürdigen Heft ablas, dessen verblaßte Schrift er zuweilen selbst nicht mehr entziffern konnte. »Man nehme einen Probierzylinder und fülle ihn zur Hälfte mit Braunstein –« las Herr Quasebarth; aber er nahm keinen. Stelling, der Skrupellose, hatte ihm eines Tages einen furchtbaren Limburger Käse unter den Pultdeckel gelegt, so daß seine Nase jedesmal, wenn sie ins Heft tauchen wollte, entsetzt zurückfuhr. Nachdem er sich wiederholt vergeblich erkundigt hatte, woher der »abscheuliche Geruch« stamme, und Stelling bemerkt hatte, daß er ihn sich auch nicht erklären könne, »da hier doch nie experimentiert werde«, entdeckte er schließlich die Ursache; aber er ging ungeheilt von dannen.

So hatte denn Asmus seit langem nicht mehr zugehört, in der Chemiestunde lieber Gedichte gemacht und beim Examen einen fast unberührten weißen Bogen abgeliefert. Das war aber Herrn Quasebarth in die Glieder gefahren; denn er sagte sich, daß der chemische Durchfall eines Schülers wie Asmus Semper vom Prüfungs-Kollegium als ein Durchfall des Herrn Quasebarth empfunden werden müsse. Er beschwor also Sempern in einer vertraulichen Unterredung, doch ja bis zum mündlichen Examen noch »tüchtig zu repetieren«, damit er die Scharte auswetze. Semper genierte diese Scharte gar nicht; denn er hatte sich längst vorgenommen, später auf eigene Hand Chemie zu treiben; aber er versprach sein Möglichstes.

Und wiederum hob ihn das Schiff der Fortuna in der Mathematik so hoch, daß er die erste Zensur erwischte, während Mollwitz, der Magister Matheseos, oder, wie er gewöhnlich genannt wurde: »das einseitige Prisma«, durch einen reinen Zufall nur den zweiten Grad errang. Dieses Erfolges konnte Asmus nicht recht froh werden; denn die Sache war nicht ganz in der Ordnung. Daß Glücksgüter vom Zufall verteilt wurden, das wußte er; aber auch geistige Ehren? Kam das auch sonst im Leben vor? Das sollte nicht vorkommen.

Aber er sollte noch was ganz anderes erleben. Am Abend vor der mündlichen Prüfung entschloß er sich nach schwerem Zögern, ein Lehrbuch der Chemie zur Hand zu nehmen, damit Quasebarth nicht wieder durchfalle. Er las auch das Kapitel von der Methylwasserstoffreihe, dann aber griff er energisch nach Zolas Conquête de Plassans, die er wesentlich anziehender fand. Denn sich ein Wortwissen ohne Anschauung und Übung in den Kopf zu pfropfen, das war ihm von jeher ein Greuel gewesen.

Die Stunde der chemischen Prüfung kam und mit ihr Herr Quasebarth, der an Leib und Seele immer denselben grauen Rock trug.

»Na, mein lieber Semper,« sagte er mit einem lockenden Lächeln, »erzählen Sie uns mal, was sie von den Methylwasserstoffen wissen!«

Und siehe da: Asmus Semper redete wie ein junger Liebig; denn heute wußte er noch sehr gut, was er gestern gelesen hatte.


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