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II.
Emil

Beladen von dem seltsamen Gewicht seiner eigenen Rede, und erfüllt von deren Verheißungen trennte sich Emil unter einem Vorwand von seinen Freunden kurz vor der Stadt. Er hatte trotz seiner Vorsicht dem Wein mehr zugesprochen, als er gewollt, und schlug nun einen nächtlichen Marsch unter dem Sternenhimmel an, um die lähmenden Geister aus seinen Nerven zu verjagen. Die Bäume des weiten Tals standen im allerersten schüchternen Grün in unbestimmten Formen unter dem zuckenden Sternenlicht, und die Berge ringsherum dehnten sich schwarz und sehnsüchtig. Auf fernen Höfen schlugen Hunde an, und während Emil manchen scharfen Lufthieb mit dem Stock gegen unsichtbare Gespenster führte, schwand langsam der Dunst aus seinem Gehirn. Die Nacht umfing ihn nun weich, und alle Sinne wachten mählich in ihm auf. Er hörte das Blut in seinen Ohren brausen, und weit über den Inhalt seiner Buckhäuser Rede hinaus hielt er Zwiesprache mit den dunkeln Mächten, die in ihm sangen und flüsterten.

Es wurde wieder einmal eine jener schweren Nächte, wie Emil sie in den letzten Jahren schon manchmal erlebt. War das ein Drängen und Raunen und Sehnen in ihm!

Als er bei der Rückkehr nach der Stadt sich den ersten Villen näherte und im Lampenschein eines Dachfensters ein Dienstmädchen seine Haare aufbinden sah, heulte es in ihm auf. Und plötzlich machten seine Gedanken einen Satz und sprangen so, wie ein Raubtier die Beute anfällt, auf die alte Zwangsvorstellung, die ihn in solchen Nächten schon so oft hatte ködern wollen; nämlich, es sei, im großen Weltensinn betrachtet, doch ein nicht unedler Beruf der verlorenen Mädchen, solche Gequälten und Gemarterten, wie er jetzt einer war, für eine Stunde zu erlösen. Die Achtung, welche die Hetären im alten Griechenland genossen, sprach doch gewaltig für die feinsinnige Duldung und den weiten Geist der Hellenen. So schien es ihm.

Mit langen Schritten durchmaß er eine Allee am Fluß hin und bog, ohne zu wissen, wie er in die Gegend gekommen war, plötzlich in eine nur halb mit Häusern zugebaute Straße in einem abgelegenen Teil der Vorstadt ein. Die Fenster an all den nüchternen, häßlichen Gebäuden waren hell vom Licht rot beschirmter Lampen. Aber als er ein Fenster sich öffnen und darin eine Weibsgestalt erscheinen sah, die ihm heraufwinkte, da war der schwüle Bann in seinen Gliedern gelöst. In solchen Nächten des wilden Schweifens war es ihm jedesmal so gegangen. Was er dunkel suchte, das fand er nicht, und vor dem, was er im Hellen fand, davor floh er entsetzt.

Bald hallten seine Schritte mitten in den Straßen der Stadt. Der Münster tauchte dunkel vor ihm auf und stand mächtig in den Himmel hinein, wie ein unerschütterlicher Wächter über allem Guten. In seinem Schatten stand das kleine Haus, in dessen Tür Emil den Schlüssel steckte. Leise ging er durch den Hausgang ins Zimmer im oberen Stock, zündete die Lampe an, kleidete sich touristenmäßig um, hing den Rucksack über die Schulter, in den er auch die auf dem Tisch liegende Nachmittagspost steckte, nahm die Schneeschuhe unter den Arm und ging die Treppe wieder hinab. Im unteren Stock klopfte er schwach an eine Türe und sagte der Mutter leise, er ginge noch einmal zum Schneeschuhlaufen auf den Höchsten. Am Bahnhof erreichte er gerade noch den ersten Zug ins Gebirge. Nach einer halben Stunde stieg er aus und machte sich mit geschulterten Brettern im kühlen Nachtwind, der vom Frühlingsschnee erzählte, aus der engen Talschlucht hinauf dem steilen Bergwald zu.

Im Aufstieg drückte die Last der langen Schneeschuhe und des Rucksacks die allerletzten Flämmchen des züngelnden Feuers in ihm aus, und als er an der Schneegrenze ankam und aus dem dunkeln Rachen des Walds unter den blitzenden Himmelsdom trat, war er wieder ein freier Mann.

Und als freier Mann wollte er nun nicht mehr länger säumen. Während im leichten Aufstieg über die gefrorene Schneedecke rings um ihn die schweigende Welt der schwarzen Wälder stand, fielen langsam alle Erinnerungen an seine vielen kleinen Verliebtheiten und Schwerenöterstreiche von ihm ab, wie das letzte dürre Laub, wenn im Frühling die neuen Knospen drängen. Sein schweifendes Sehnen drängte sich wieder einmal sauber zusammen, und im gleitenden Schreiten durch die Frühlingsnacht in den Bergen dachte er sich wieder einmal seine Frau, sein Weib. Er dachte sie! Also mußte sie sein! Es machte ihm Vergnügen, den alten Lehrsatz vom Denken und Sein auch auf das andere Wesen auszudehnen, das ihn erst zum ganzen Menschen machen sollte. So träumte und schob er sich aus den langen Brettern in das erste Morgengrauen über den Bergen hinein. Aber wenn er einmal stehen blieb und sich ehrlich fragte, wie sie nun eigentlich aussähe, da fand er keine deutlichen Umrisse. Nur eine bestimmte, unerklärlich zarte Vorstellung erfüllte ihn: Wie eine Wolke würde sie aussehen, wie eine leichte, frohe Wolke.

»Oh, der Tüfel!« sagte er laut in die erwachende Morgendämmerung hinein, lachte sich dann als großen Esel aus und war dennoch glücklich, ganz unbändig und auf eine ganz neue Art glücklich. Das Glück schritt unsichtbar neben ihm einher, griff manchmal hinauf in die verlöschenden Sterne und tat von ihrem Zucken in sein Herz. Es ließ die feuchten Zweige der Tannen über seine Wangen streifen und blies ihn an im aufstehenden Morgenwind. Und wenn er dann mit wachen Sinnen wie ein seliger Verrückter dahinschritt, legte ihm das Glück wieder beruhigend die Hand auf die Schulter und sagte leise: Nur Geduld!

In einer steilen Abfahrt flog er seinem alten treuen Berghaus entgegen, und als der Frühlingshimmel über der Winterlandschaft aufschien, saß er in der getäfelten Stube des Höchstenhof, schwatzte mit den Mädchen und trank Kaffee. Dann brannte er sich die erste Zigarre an, setzte sich auf die warme Ofenbank und nahm die mitgebrachten Briefe aus dem Rucksack.

Ei, ei, schon wieder seine Magnifizenz, der Herr Prorektor! dachte Emil, als er ein Kuvert mit dem Universitätssiegel öffnete.

Er las:

 

Euer Hochwohlgeboren

wäre ich sehr verbunden, wenn Euer Hochwohlgeboren sich in der Angelegenheit des allerdings bereits in dem offiziellen Verzeichnis der Vorlesungen für das Sommersemester enthaltenen Kollegs: »Die poetischen Mittel bei den Verfassern des Alten Testaments. Zweiter Teil: Das Hohelied und das Buch Hiob« morgen zwischen drei und fünf Uhr bei mir auf dem Amtszimmer des Prorektorats zur mündlichen Rücksprache einfinden wollten.

 

Deutsch: fünf! – zensierte Emil.

Der Brief schloß mit der Unterschrift des Prorektors in dünnen, hochgestellten Schriftzügen und mit einem gewaltigen Schnörkel.

»Verdammt!« brummte der Leser und sah nach der Uhr. »Morgen!« – das war heute! Er mußte hinab in die Stadt. Da half alles nichts. Wahrscheinlich handelte es sich wieder um eine gleiche Philisterei, wie bei seinem Kolleg über die apokryphe Dichtung des Alten Testaments, das Buch Tobias. Die Worte »allerdings bereits« in dem Schreiben der Magnifizenz waren deutlich genug.

Er zahlte, sagte den Mädchen, die ihn wegen seines raschen Aufbruchs tüchtig schalten, auf Wiedersehen und ging.

Mit dem Zweiuhrzug kam er an, warf sich vor dem Bahnhof in ein Auto und zu Hause in seinen besten Gehrock. Um drei Uhr stand er in dem hohen dunkeln Zimmer des Prorektors. Durch das gotische Fenster schien das Grün eines alten Gartens, und von den Bäumen schallte laut das Schlagen der Buchfinken.

»Sie sind immer der Pünktlichste von allen unseren Herren Kollegen, Herr Doktor Himmelheber!«

Mit diesen Worten ging der Prorektor Emil entgegen und begrüßte ihn mit gesuchter Höflichkeit. Der kleine Mann mit dem übermäßig großen Kopf, dem kleinen Kinn und den vorstehenden Fischaugen fuhr sich mit beiden wohlgepflegten Händen über die glatten Haarsträhne, die sorgsam über die mächtige Glatze gelegt waren, und nahm dann in einer Stellung voll hoheitlicher Nonchalance wieder Platz im Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch, wobei er seine kurzen Beinchen elegant übereinander schlug. Dann lud er Emil mit einer schönen Handbewegung zum Sitzen ein.

»Sie bringen herrliches Wetter mit, Herr Kollege!«

Emil bestätigte, daß das Wetter wirklich sehr schön sei.

»Nun kommt bald wieder die Zeit zum Wandern! Eine prächtige Sache! Sie treten doch auch für die moderne Wanderbewegung unserer Jugend ein?«

Emil beschränkte sich aus die Versicherung, daß Wandern in der Tat etwas sehr Schönes sei.

»Und nun mein verehrter Herr Kollege« fuhr der Prorektor fort, indem er an der Uhrkette spielte und die großen Augendeckel langsam über die vorstehenden Augen fallen ließ, »hoffe ich, von Ihrer Versöhnlichkeit und von Ihrem Verständnis für schwierige Situationen, daß wir uns rasch einigen.«

Emil blickte den Prorektor kühl und erwartungsvoll an.

»Verehrter Freund – lassen Sie mich Sie so nennen – gehen wir medias in res

Und mit Vertraulichkeit lehnte der Prorektor sich von seinem Sitz Emil entgegen, tippte ihm leicht aufs Knie und sagte mit aufmunternder Biederkeit: »Lassen Sie doch das Kolleg über das olle Hohelied schwimmen! Sie würden mir persönlich einen außerordentlich großen Gefallen erweisen.«

Emil machte eine leichte Grimasse, als ob er Zahnweh hätte. Dann sagte er:

»Dürfte ich, Herr Prorektor, um nähere Gründe für diesen Ihren Wunsch bitten?«

»Aber mein Freund, die Gründe dürften Ihnen doch nicht ganz unbekannt sein. Sie wissen, daß es im Senat schon zu Auseinandersetzungen wegen Ihres Kollegs im Wintersemester über das Buch Tobias gekommen ist. Altes Testament und Literatur! Ich bitte Sie!«

»Mir ist, wenn Eure Magnifizenz gestatten, nur bekannt, daß sich einige Herren von der medizinischen Fakultät beklagten über angebliche Abschweifungen von mir auf medizinische Gebiete.«

Der Prorektor spielte wieder mit seiner Uhrkette.

»Ohne mich mit einer solchen Ansicht identifizieren zu wollen, darf ich doch ergänzen, daß einer der Herren von der medizinischen Fakultät sogar so weit ging, zu behaupten, Sie hätten den Stoff nur gewählt, um sexuelle Probleme zu behandeln, die doch ausschließlich Sache des Fachmannes seien.«

Eine Blutwelle stieg Emil ins Gesicht. Aber er blieb völlig Herr seiner selbst. Der Prorektor neigte den Kopf voll freundlichster Ergebenheit auf die Seite und beobachtete gelassen die Wirkung seiner Bemerkung.

»Euer Magnifizenz!« nahm Emil ruhig und mit volltönender Stimme das Wort, »Nurmedizin muß eine gräßliche Sache sein, und ebenso ist es Nurliteratur. Wenn ich bei Stellen, wie sie im Buch Tobias vorkommen, bei Stellen von der gewaltigen Plastik einer naiven Poesie und voll unverblümt erotischen Inhalts unter den Hörern plötzlich einen oder zwei ernste junge Leute erblicke, denen das Problem, um das es sich dort handelt, sichtlich bis ins Mark ihres Lebens gedrungen ist, und wenn ich sehe, wie Not und Gewissen verstohlen aus ihren Augen schauen, soll ich dann nur Privatdozent der Literatur oder auch Mensch und Lehrer sein?! In solchen Fällen kenne ich überhaupt keine Wahl. Was ich dann im Kolleg an persönlichen Erfahrungen andeute und an Ermutigungen ausspreche, das spricht sich von selbst aus mir heraus. Das sind ungewollte Eruptionen. Natürlich sage ich das nicht als Entschuldigung.«

Der Prorektor lächelte.

»Sie sind ein Idealist, Herr Kollege! Ein Optimist, wenn Sie mir das nicht Übelnehmen wollen! So zartfühlend ist unsere heutige Jugend gar nicht mehr. Die will leben. Und schließlich sind wir doch alle Menschen, und wir waren es auch, ich und Sie!«

Die Magnifizenz sah Emil mit einem verständnisinnigen Lächeln an. Emil gab sich alle Mühe, seine Verachtung für den Mann zu verbergen. Dann sagte er ganz kühl und auf die Sache selbst zurückkommend:

»Und wenn es mir aus irgendwelchen Gründen unmöglich wäre. Euer Magnifizenz eine Zusage zu machen und ich darauf bestehen bliebe, unter anderem gerade auch über das Hohelied im nächsten Semester zu lesen, was wäre die nächste Folge?«

Der Prorektor räusperte sich nervös und sagte dann mit einem erneuten Aufwand seiner ganzen Höflichkeit:

»Herr Kollege, Sie können sich denken, daß auch die Herren von der theologischen Fakultät ein nicht geringes Interesse daran haben, daß gerade Sie über die Poesie des Hohenliedes nicht lesen. Sie kennen die kirchliche Auffassung jener Dichtung. Und da ist es ja nicht unmöglich, daß hinter den Wünschen der Herren von der genannten Fakultät die Regierung stünde.«

Seine Magnifizenz spielte wieder an der Uhrkette.

Da erhob sich der Privatdozent Emil Himmelheber von seinem Stuhle und lächelte wie einer, der durch ein kleines Loch in der Wand unversehens eine intime Szene belauscht hat. Dann bat er um kurze Bedenkzeit und stellte dem Prorektor die schriftliche Äußerung seiner Stellung zu der Angelegenheit auf den nächsten Tag in bestimmte Aussicht.

Mit freundlichem Ernst nahm er die Versicherung des unbegrenzten Wohlwollens von seiten des Prorektors entgegen und ging.


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