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Schloß Brunn, 21. Mai.
Lieber guter Vater!
Guten Morgen! Und allen, allen Dank, daß Du mich hierher gehen ließest. Dir und der Mutter! Was soll ich schreiben über das Schloß und Doktor Mahler? Ich kann nichts schreiben, Du mußt selbst kommen. Vater, hier ist mehr als Theologie! Aber ich will nicht boshaft sein, Vatterli! Ich schreibe heute aus einem bestimmten Grunde. Ich bitte Dich um die Erlaubnis, daß ich hier Helferin werden darf. Nächste Woche reist eine von ihnen ab, da möchte ich für sie einspringen.
Du fragst mich, was das sei, Helferin? Möchtest Du nicht einmal die Bekanntschaft mit einer von ihnen machen.
So höre:
Am dritten Morgen meines Hierseins saß ich früh am Fenster, obwohl das Zimmer noch nicht in Ordnung gebracht war, und ließ meine Augen spazieren gehen auf den grünen Teppichen des Flußtals. Gefrühstückt hatte ich schon, aber die Helferin war gegen ihre Gewohnheit noch nicht dagewesen. Sie wird mich schon hinauszubringen wissens wenn es an der Zeit ist. So tröstete ich mich in meinem Nichtstun. Kaum gedacht, war's schon geschehen. Es klopfte dreimal ziemlich staccato an der Türe.
Herein!
Die Tür ging sperrangelweit auf, und zwischen den Pfosten stand bescheiden, doch gar nicht zaghaft, in einem dunkelblauen Leinenkleid eine hohe Mädchengestalt. Das übereinfache Gewand und der stolz auf die Schultern gesetzte Kopf mit dem schlicht gescheitelten Haar gaben der Erscheinung einen Hauch von Härte und mädchenhafter Reinheit.
»Kann ich das Zimmer machen?«
Fast hart klang die Rede und doch gar nicht unliebenswürdig.
Unterhaltungen sollen zwar nach der Hausordnung mit Helferinnen während ihrer Arbeit nicht stattfinden; aber ich empfand diesen Paragraphen im Augenblick als eine zu starke Zumutung und brach das Gesetz. Sie sprach nämlich ein ganz sonderbares Hochdeutsch, aus dem ich sofort die Ecken und Kanten meines geliebten Alemannisch heraushörte. Eine Züribieterin war sie. Ich redete sie gleich rheineckisch an. Da milderte sich der strenge Mund des feinen ovalen, dunkeln Gesichts, und unsere Freude war groß. Nach einigen Minuten froher Verstöße gegen die Hausordnung, wo in aller Schnelligkeit die Personalien ausgetauscht wurden, lag wieder der unerbittliche Ernst der Pflicht in ihren guten Augen, und ich faule Morgenträumerin räumte vor diesem kühlen Frühwind gern das Feld.
Ich weiß nicht, wie es mir hier vorkäme ohne die Helferinnen, diese fröhliche kleine Schar. Sie sind lebendige Hymnen auf den Segen der Arbeit. Wie jung sie alle aussehen! Viel jünger als sie sind.
Wenn ich frühmorgens zum ersten Spaziergang durch die schweren hohen Steinfluren des Schlosses gehe und höre unten im Schloßhof die Sandalen der Helferinnen auf dem Pflaster klatschen, so werde ich neidisch auf sie, daß sie arbeiten dürfen. Und als ich gestern eine von ihnen bei der Arbeit singen hörte und drauf von dem tieferen Stockwerk eine andere als Antwort herauftrillerte, da ging ich eine Stunde später zu Doktor Mahler und fragte ihn kurzerhand, ob ich nicht auch Helferin werden könnte. Und da hörte ich, wie gut sich das gerade treffen würde, da eine von ihnen zu ihrer kranken Mutter gehen muß.
Du wirst ungeduldig werden und fragen: Zum Kuckuck, wer sind nun diese Helferinnen?
Es sind einfach junge Mädchen (Du weißt, wie ich das Wort Dame hasse) – Töchter aus »guten Häusern« (auch so ein Wort!), die um ehrliche Arbeit ihrer Hände hier im Schlosse wohnen und essen. Das ist der äußere Tatbestand. Ob sie es »nötig haben«, darüber will ich gar nicht reden. Das ist gänzlich Nebensache. Du siehst, ich werde auf eine ungetane Frage ein bißchen grob – entschuldige das, liebster Vater. Aber wenn es um die Helferinnen geht, dann werde ich bissig. Sie tun alle Arbeit, und die Arbeit adelt sie. Ach, arbeiten dürfen, Vater! Kannst Du Dir denken, was das für mich wäre?!
Was sie dafür erhalten? Soviel ich weiß, ein Taschengeld und zum Schluß des Sommers ein gutes Buch. Und dann die Liebe und Verehrung aller anständigen Menschen im Schloß. »Sage mir, wie du zu den Helferinnen stehst, und ich will dir sagen, wer du bist!« so heißt es hier. In Wirklichkeit genießen die Helferinnen hier den meisten Respekt. Daran ändert die Tatsache gar nichts, daß einige noch mit den alten Zöpfen gesellschaftlicher Rangbegriffe behaftete Gäste den Helferinnen gegenüber ängstlich die Distanz zu wahren suchen, oder anstatt ihnen Achtung zu bezeigen, ihnen huldvoll zulächeln.
Wenn ich vorhin sagte, ich könne mir Schloß Brunn ohne die Helferinnen nicht denken, so meine ich das so, daß ich es im Schlosse ohne die Helferinnen ganz einfach nicht aushalten würde. Du mußt wissen, daß hierher sehr viele Frauen und Männer kommen, die müde und zermürbt sind vom Beruf und vom Leben draußen, oder von Schicksalsschlägen aufgejagt und vor des Daseins Rätsel gestellt. Ich bin ja auch halber so eine – gewesen. Sie wollen aufatmen und für eine Weile zur Ruhe kommen und womöglich auch zur Klarheit über alles das, was sie ängstigt und beschwert. Sie wollen einen Sinn finden in all dem Leid, vor dem sie ratlos stehen. Nun sehen sie all das Neue hier, das schöne Schloß, die ungezwungene Art des Verkehrs, hören die Vorträge, möchten so gerne »auch so werden« und – kommen nicht mit.
Warum nicht? Was ist es denn?
So fragen sie die andern, kommen auch zu mir, und reden, reden, reden, stolz und verzagt, voll Vertrauen und voll Mißtrauen; horchend und streitend und immer drauf bedacht, daß sie keinen zu schlechten Eindruck machen. Ach, es ist oft so traurig, besonders mit manchen ganz prachtvollen Menschenkindern, die entsetzlich unter sich leiden, deren Hochmut aber geradeso groß ist, als ihre Leiden tief sind. Sie kennen die Menschen mit ihrer Hausknechtsart von Hilfe!
Stelle Dir vor, alle diese Menschen kommen nun in ihrem Suchen nicht zu der gewünschten Ruhe, sondern merken, daß die Unruhe in Schloß Brunn überhaupt erst richtig anfängt. Und da ist dann des religiösen Redens kein Ende mehr.
Alles das muß ausgehalten werden, ohne Arbeit, ohne körperliche Arbeit! Die große Gefahr, daß unter dem Vorwand »persönlichen Lebens« geistige Genußsucht und seelischer Müßiggang getrieben wird, kannst Du Dir denken. Und da ist nun die frohe Tätigkeit der Helferinnen um uns herum eine Erlösung, aber für mich nur eine halbe. Ich möchte mit dabei sein.
Während ich hier sitze und schreibe, tönt unten vom Burghof herauf helles, lautes Mädchenlachen. Wie ein Taubenschwarm vom Feld aufflattert, so steigt dieses Lachen aus frohen Kehlen zum Himmel. Es sind die Helferinnen, die in einem kleinen Anbau des Schlosses frühstücken, und zwar mit Doktor Mahler zusammen. Er frühstückt jeden Morgen mit ihnen, macht seine Scherze, erzählt lustige Geschichten, und die ganze frohe Bande schüttelt sich vor Lachen und jubelt laut auf. So wird der Tag eingeweiht, pünktlich ein halb sieben Uhr morgens. Ich habe schon schlechtere Morgengebete gehört, lieber Vater; Du hättest auch Deine Freude daran.
Und nun sag mir: Ja oder Nein?
Deine getreue und dankbare
Sabine.
Die Antwort auf Sabinens Brief traf am Abend des anderen Tages telegraphisch ein und lautete:
Ja, aus ganzem Herzen! Und meinen Segen dazu!
Vater.