Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV.
Das Gewitter

Lotte stand auf der Alvierbrücke, als Emil mit dem großen Kranz an ihr vorbeiging, ihr freundlich die Hand gab und ihr mit der polternden Liebenswürdigkeit, welche die Frauen an ihm liebten, versicherte, daß der Sturz von gestern keinerlei schlimme Folgen nach sich gezogen habe. Lotte blieb in der brütenden Hitze des Abends auf dem Brückchen stehen und sah in der Verwirrung ihres Herzens in die gurgelnden Wasser des Flüßchens, als aus dem neben der kleinen Kirche stehenden Pfarrhause die Töne einer fröhlichen und angenehmen Musik zum Fenster heraushüpften. Sie traute ihren Ohren kaum; aber obwohl die Musikanten es da und dort an der sublimen Vollkommenheit und leichten Präzision fehlen ließen, welche das Opus verlangen durfte, war es doch kein Zweifel, daß sich hier drei einfache Künstlerseelen an der göttlichen Fröhlichkeit und dem ländlichen Glück des Mozartschen Trios für Klavier, Fagott und Klarinette erquickten und nach einem arbeitsreichen Tag die Schwüle der Ruhestunden unter Mozarts sieghafter Führung spielend überwanden. Die Klarinette tänzelte, trillerte und hüpfte wie ein junger Schäfer auf einer grünen Wiese und schlang nur von Zeit zu Zeit anmutige Weisen zwischen den leichten Schritt; das Fagott brummte gefällig und mit behaglichem Humor die Begleitung dazu, und das Klavier hielt die beiden zu allerhand Tollheiten aufgelegten Instrumente in würdigen Grenzen zusammen.

Die drei unbekannten Musiker spielten nur den ersten Satz aus dem Trio, aber für Lottes musikalische Seele war es genug, um ihr Herz und ihren Kopf wieder mit sich selbst in Einklang zu bringen; ihr angenehmes Staunen wuchs aber, als sie am geöffneten Fenster des Pfarrhauses nach Beendigung des Stückes den Pfarrer, den Lehrer und den Grenzinspektor erscheinen und sich mit Taschentüchern den Schweiß von den Gesichtern wischen sah. Das hätte sie diesen drei einfachen Menschen wirklich nicht zugetraut.

Aber ihre Gedanken gerieten in eine andere Richtung, als sie sah, wie die drei Männer mit besorgten Mienen nach Nordwesten schauten, wo am Himmel etwas Ungeheuerliches vor sich ging. Das Tal stand sonst im Rufe einer Art von Gewittersicherheit. Die Älpler hatten den ganzen heißen Frühsommer gesehen, wie die drohenden Wolkenwände an dem freien Talschluß mit seinen leichten Zacken immer eine Art Gewitterscheide fanden, um östlich und westlich über die Fluren jener Gegenden verheerend niederzugehen, während das Brandertal immer wie durch ein Wunder verschont blieb.

Diesmal aber kam es anders. Während der Lehrer und der Grenzinspektor die Instrumente auseinanderschraubten und rasch einpackten, ließ der Pfarrer durch seine Köchin den Mesner rufen, und wenige Minuten nachher sah man ihn im Chorrock mit erhobenem Kruzifix einer schmalen blauschwarzen Wand entgegenschreiten, die wie von unsichtbaren Händen am Himmel gerade gegen das Dorf zu emporgeschoben wurde. Noch fiel kein Tropfen Regen. Noch hatte man keinen einzigen Blitz zucken sehen, aber die Gewißheit, daß ein böses Wetter nahte, wie man es seit Menschengedenken nicht erlebt, das stand auf den ernsten Gesichtern der Männer und Frauen geschrieben, die beim Vorüberschreiten des Pfarrers mit dem Kruzifix und des Mesners mit dem Weihwasserkessel niederknieten und sich bekreuzigten, während der Pfarrer laut den Wettersegen sprach.

Wie ein gut gesteuertes schwarzes, mit Unheil geladenes Luftschiff, so nahte sich die immer größer werdende Gewitterwolke dem Tal. Die Bauern kamen vom Felde langen, ruhigen Schrittes und wischten sich in der lautlosen, brütigheißen Luft den Schweiß von den verbrannten Gesichtern. Die ungeheure Gewitterwolke warf ihren Schatten gerade auf den weißen Kirchturm, während die untergehende Sonne unter den Bäumen hindurch einen abenteuerlichen silbergrünen Schein über die Matten und die halben Häusermauern legte.

Lotte ging im gleichen, nicht beschleunigten Schritt nach Hause und fand den Speisesaal und das Nebenzimmer angefüllt mit Pensionären und Touristen in einem seltsamen Durcheinander voll erheuchelter Gleichgültigkeit und offener Aufregung. Die Mädchen deckten noch in fliegender Eile im Garten ab, als die ersten Schlossenkörner auf den Blechtischen zu trommeln anfingen.

Die schwarze Wolke hatte sich nun wie mit wachsenden Flügeln über das ganze Tal ausgebreitet, und alles wartete in einer düsteren Vorahnung der Dinge, die da kommen sollten. Die wenigen Menschen, die ihre Ruhe ganz bewahrten, waren einige Bergführer. Sie waren mit ihren Herren eben noch von der Zimba heruntergekommen, warfen mit neugierigem Ernst dann und wann einen Blick durchs Fenster, während sie aus ihren kurzen Pfeifen kleine Wölkchen Rauch aus dem Munde bliesen. In einer Ecke des Saales hatte sich eine Anzahl jüngerer und älterer Damen um Emil geschart, der zu einem Abendschoppen herübergekommen war, anstatt dessen aber die erschreckten Gemüter mit der Schilderung der verhältnismäßig geringen Möglichkeit tröstete, daß ein Mensch vom Blitz getroffen werde. Lotte stand nicht weit von dem Tisch, wo die Damen sich um Emil scharten. Sie verstand jetzt seine Wirkung auf Frauen, aber sie war stolz, seine Ermutigung nicht mehr zu bedürfen. Sie stand allein an einem Fenster und genoß das Schauspiel des losbrechenden Unwetters mit jenem Glücksempfinden, das mehr dem Bewußtsein ihrer gänzlichen Unabhängigkeit von Furcht als der Bewunderung der rasenden Elemente selbst entsprang.

Auf einmal, wie auf ein gegebenes Kommando, platzte ein starker Hagel aus den Wolken, und das Trommeln auf den durch ein Blechdach gedeckten Saal übertäubte jedes Wort der immer aufgeregteren Gesellschaft. Zweimal zuckte es leicht über die Häuser hin, und ein Donner wie ein Gloria aus tausend kampflustiger Teufel Munde rollte über das Tal. Dann wurde es einige Sekunden ganz merkwürdig still, und im nächsten Augenblick sahen sich alle in der Wirtsstube und im Speisesälchen kreideweiß an. Wie ein zischender Pfiff aus einem ungeheuren Schlunde sauste es gerade vor dem Fenster nieder. Ein kurzer, harter Knall bestätigte den ersten unheimlichen Salutschuß. Dem blauen Licht, daß die Bäume taghell für einen Augenblick erleuchtete, folgte wieder tiefe Nacht, die aber gleich wieder einer neuen, diesmal andauernden roten Helle wich. Aus dem Giebel eines großen Heustadels, der wenige Schritte hinter dem Stall des Gasthauses zur Gemse lag, stieg ruhig und triumphierend eine große Flammensäule in die Luft und warf, unbekümmert um das Schreien der Menschen, in gelassener Sicherheit ganze Funkengarben über die Gärten und umstehenden Häuser.

»Feurio!« schrie ein altes Weib mit einer hohen, häßlichen Stimme zum Fenster ihres Hauses hinaus. Wie auf Abrede hörte im gleichen Augenblick der Hagel auf. Die leuchtende Lohe aus dem brennenden Heustadel stieg immer höher. Emil sah gerade noch, wie der Knecht an die Tür des Stalles zur »Gemse« taumelte, aus dem gleich darauf die Kühe und das losgelassene Maultier stürmten, und wie der krumme Schmied an der Straßenecke gerade beim Abendessen saß, noch eine Kartoffel mit Käse in den Mund schob, um dann von der Wand sein Signalhorn zu nehmen und seelenruhig unter dem blauen Gezucke des entfesselten Unwetters das Feuersignal durch die Straßen zu blasen. Da geschah etwas Neues.

Aus der Nacht wälzte sich eine zweite, noch schwärzere Finsternis gegen das Dorf und über die Häuser und verschlang nicht nur den feuerlärmblasenden Schmied, sondern sogar den Feuerschein des brennenden Heustadels. Arm in Arm mit dieser erschreckenden, wie aus einer Welt der letzten Abgründe kommenden Dunkelheit war aber auch ein Wirbelsturm gekommen, der die pechschwarze und wie zum Greifen schwüle Luft erschütterte. Der Orkan drückte die Türen ein wie Kartenhäuser und tobte mit seiner ganzen Gewalt unter den entsetzten, wie flüchtiges Wild zusammengedrängten Gästen in der »Gemse«. Die Scheiben klirrten, und die Balken ächzten und stöhnten. Mariannens erster Gedanke, als das Toben begann, waren die Kinder. Aber als sie hinauf in ihr Schlafzimmer rannte, fand sie schon Emil bei Pipa und Franzl. Die alte Magd betete mit lauter Stimme die Sterbegebete und hatte die Kinder damit in einen lähmungsartigen Schrecken gejagt. Als Emil sie wieder zur Ruhe gebracht und die alte Magd hinausgeschickt hatte, wollte Marianne dem geliebten Manne mit einem guten Wort danken; so sehr hatte seine Gegenwart mit einem Male allen Schreck von ihr genommen. Aber zwei Peitschenschläge, die wie mit Feuergeißeln vom Himmel her gegen das Dorf geführt wurden, schnitten ihr die Rede ab, und im nächsten Augenblick sah man im oberen Dorf zwei himmelhohe Feuergarben aus zwei Häusern in die Nacht aufsteigen.

»Jetzt bin ich da oben nötiger,« wehrte Emil gütig, aber ernst ab und war verschwunden.

Die Gefahr, der Brand des Heustadels könnte auf das Gasthaus überspringen, war beseitigt. Der Wind trieb Rauch und Flammen der freien Bergseite zu.

Als der pechschwarze Kern des Orkans weitergezogen und es im Dorf durch die zwei brennenden Häuser wieder heller geworden war, sausten bald darauf die Strahlen der beiden Dorfspritzen in die Flammen, die fast rauchlos in ruhiger roter Pracht gegen den Himmel stiegen. Marianne stand mit ihren beiden Kindern am Fenster und sah hinaus in das fremde Unglück. Was dort vorging, konnte sie nicht genau erkennen. Nur so viel sah sie, daß dort die Frauen standen und sich von Hand zu Hand die Wassereimer reichten und daß die Menschen zwischen den herausgetragenen Möbeln und Gerätschaften herumstolperten. Aber auf einmal hörte sie mitten durch den Lärm der kleinen Signalpfeifen einen furchtbaren Schrei, der ihr bis ins Mark drang. Dann kam eine Pause von tödlicher Stille, und dann sah sie, wie man den Dachstuhl mit langen Haken einriß und wie die Aufregung einer geschäftigen Gleichgültigkeit wich. Das Hufegetrappel der zu Hilfe eilenden Feuerwehr aus anderen Dörfern spornte den Eifer der einheimischen Feuerwehr noch einmal an, und von neuem tönte das regelmäßige Knarren der Pumpen durch die Nacht, während die Wasserstrahlen nutzlos in die Glut knatterten und auf den glühenden Gerüstbalken zischend verdampften.

Nach zwei Stunden schwerer Arbeit sank der Eifer und die Stimmung, und Retter wie Gerettete verfielen in einen Zustand unwiderstehlicher Erschöpfung. Man gewöhnte sich schon wieder an das Neue. Die Familien der Abgebrannten waren bei Verwandten und Nachbarn untergebracht, und die Kinder trieben in den fremden Betten mit den neuen kleinen Kameraden schon allerhand fröhlichen Unfug. Im Schein der immer wieder aufflammenden und die Nacht erhellenden Blitze betrachteten die Bauern die hohen stehengebliebenen Grundmauern auf ihre Verwendbarkeit beim Neubau hin, und auf den nassen, von den Wolkenbrüchen ganz aufgeweichten Straßen wanderten junge Mädchen und Burschen kichernd und schwatzend um die rauchenden Brandstätten. Der Feuerwehrkommandant ließ Appell blasen und forderte Freiwillige zur Nachtwache auf. Als sich genügend Männer dazu gemeldet hatten, ertönte das laute Kommando: »Links um!« und beim Abtreten ging die stille Parole durch die Reihen: In die »Gemse«!

In fast allen Häusern begann nun in der von unaufhörlichen Blitzen durchzuckten und fernen wie nahen Donnerschlägen erfüllten Gewitternacht ein reges Leben. Die Neugierde hatte den Schrecken verjagt. Es wurde Kaffee gekocht für diejenigen, die geholfen hatten, und auch die vielen unter den Pensionären, die nicht geholfen hatten, wärmten und erholten sich bei einer Tasse. In dem Speisesälchen der »Gemse« mit seinen zerschlagenen Fensterscheiben und seinem von schmelzenden Hagelkörnern nassen Fußboden war das Hauptlager. An den Tischen erzählten sich die Männer mit rußigen Gesichtern von dem freundlichen Herrn Doktor, der droben aus dem brennenden Hause des Dionys Zimmet ein Kind aus dem oberen Stock geholt hatte. Die jungen Mädchen hörten angstvoll mit großen Augen zu, während sie zudringliche Hände im Dunkeln abwehrten, und als Marianne von allen Tischen die Geschichte hörte, traute sie sich immer weniger, zu fragen, wie der Fremde heiße. Das Herz klopfte ihr so stark bis in den Hals hinauf, daß sie kein Wort hervorbringen konnte, als sie den Achleitner noch ganz spät durch die Türe der Wirtsstube hereinkommen sah. Der alte Mann bemerkte ihre Fassungslosigkeit, ging fest auf sie zu, schaute ihr ruhig in die Augen und sagte, während sie ihn entsetzt anstarrte:

»Es ist schon so, Marianne. Er ist's gewesen, der Herr Doktor! Aber sei nur ruhig, es ist ihm nichts passiert!« Er räusperte sich ein wenig und fügte hinzu: »Hätt'st nicht ein Bett für ihn? Wir kommen nicht mehr hinüber zu mir ins Haus, das Wasser hat alle Stege zusammeng'rissen. Ich hab schon eine Unterkunft beim Schmied. Aber für den Herrn Doktor solltest schon noch ein Bett haben.«

Was der Achleitner ihr ganz ruhig sagte, überkam sie fast wie ein neuer Losbruch des Gewitters. Sie sah wohl, wie Achleitner sie ruhig beobachtete. Aber sie hielt diesmal ihr Herz beieinander.

»Es wird sich schon machen lassen, Achleitner!« sagte sie ganz still, sonst nichts. Dann ging sie hinauf, um nach einem Bett für den Herrn Doktor zu schauen.

Langsam graute ein früher Morgen. Durch die Nacht zuckte immer noch drohend der Himmel. Durchs geöffnete Fenster drang zu Lotte ein dicker, wüster Brandgeruch bis ins Bett. Auf der Dorfstraße erklang immer noch das Lachen und Singen heimkehrender sorgloser junger Menschen. Als aber Lotte, um schlafen zu können, die Fenster schließen wollte, sah sie im Schein der immer noch aufzuckenden Blitze hinter dem Fenster von Mariannens Zimmer die Schatten eines Mannes und einer Frau in enger, seliger, aufrechter Umarmung.


 << zurück weiter >>