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XXXIII.
Erwartung

Schwere Zeiten machen die Guten besser und die Schlechten schlimmer. Sie hellen auf oder verdüstern die Menschen, je nach der Grundfarbe ihres Gemüts. So erwies es sich auch bei der Frau Pfarrer Feuerstein, daß sie in Wahrheit zu den Aufrichtigen gehörte, die den Mangel großer Geistes- und Herzensgaben durch eine tüchtige Äußerlichkeit ersetzen, und mit Strenge und Gemessenheit den Weg des Lebens zurücklegen, den andere mit leichterem Schritt und mit den Augen am Himmel und auf der Erde zugleich gehen dürfen. Als ihr Kind mit dem Bräutigam vor ihr und ihrem Manne stand, da traten zum ersten Male wieder seit langen Jahren Tränen in ihre scharfgeschnittenen Augen. Der Morgen hatte von der Grenze drüben die Nachricht der Erklärung des Kriegszustandes in Deutschland gebracht, und diese Wende der Zeiten erlaubte nur noch ein Ja oder ein Nein. Das Jasagen gehörte sonst nicht zu den starken Seiten von Josua Feuersteins Gattin, aber die Wucht der Geschehnisse duldete nur ganze und rückhaltlose Zustimmung zu dem, was sie von den einzelnen verlangte, und so gab die Pfarrerin den beiden zu dem väterlichen Segen von Herzen auch den der Mutter und die Einwilligung zur Nottrauung.

Noch am gleichen Tag reiste Emil nach Heitersberg ab und fand die Heimatsstadt im Brausen des nahenden Völkersturms wieder. Wie ein Summen aufgestörter Bienenschwärme ging es durch die Straßen und an den Ecken und auf den Plätzen standen die Menschen in untätiger Spannung und warteten auf die Entscheidung.

Seine Mutter traf Emil schon in einem Zustand völliger Kriegsbegeisterung an. Sie wünschte den Franzosen und den Russen derbe Hiebe und machte sich eine Ehre daraus, daß sie trotz des allgemeinen Steigens der Preise noch nicht um einen Pfennig mit ihren Waren aufgeschlagen hatte. »Ich habe geträumt, Emil,« sagte sie, »eine Tafel hab' ich am Himmel gesehen mit einem Kranz aus Blumen darum, und darauf stand mit feurigen Buchstaben geschrieben: Heil und Sieg! Jawohl Emil, wir siegen! Und mit deiner Verheiratung mußt du jetzt in Gottes Namen halt noch warten. Der Mensch denkt und Gott lenkt! Aber ich weiß es, du kommst zurück, siegreich und als ein Held. Und du weißt, Emil, wenn ich etwas träume, so heißt das so viel, als: So kommt's!«

Nun waren zwar bei weitem nicht alle Träume der guten Frau Himmelheber in Erfüllung gegangen, aber gerade an diesen glaubte Emil gerne. Er beruhigte zwar die Mutter und setzte ihr auseinander, daß die Erklärung des Kriegszustandes noch nicht den Krieg selbst bedeute, und daß die Mobilmachung noch nicht befohlen sei, aber davon wollte Frau Himmelheber nichts hören. Zweifel an ihren Träumen ließ sie nie zu. Als ihr jedoch Emil sagte, er käme zunächst, um seine Papiere zur Nottrauung mit Sabine zu holen, da verlor die Mutter mitten im stürmischen Wortschwall die Sprache, wurde ganz demütig, nahm ihren Sohn an der Hand und sagte ganz still:

»Du hast's verdient, Emil, du bist halt einer von's Herrgott's Gesellen!«

Dann setzte sie sich schweigsam in die Sofaecke, um ein wenig zu weinen. Denn alle innere Erregung, Glück und Unglück, Trauer und Freude, nahmen bei ihr rasch Gestalt an und strömten von ihr entweder in Worten oder in Tränen.

Am anderen Tag fand Emil den Bahnhof bereits mit abziehenden Truppen angefüllt und der Schnellzug, mit dem er nach Rheineck fahren wollte, ging nicht mehr. Er bekam noch den letzten Kraftwagen in der Stadt, und wurde nach langen Verhandlungen mit den Grenzwächtern noch einmal in die Schweiz eingelassen. Auch Rheineck war schon ganz in Aufruhr. Überall an der Grenze hin waren Brücken gesprengt, Spione verhaftet, und feindliche Flieger gesichtet worden, oder wenigstens ging das Gerücht von allen diesen Dingen. Die Fama, das üble Geschöpf, saß mitten im strahlenden Augustsonnenschein auf allen Dächern, schrie Wahres, Falsches durcheinander und schonte auch nicht das stille Pfarrhaus am Münsterplatz. Gegen Abend ging Emil mit Sabine auf die Plattform, von der man hoch über dem Rhein durch das steinerne Rankenwerk des gotischen Kreuzgangs hinübersieht in das üppige Land, darin die letzten deutschen Berge leise in milde Rebhügel auslaufen, und wo auch hinter einem Dorf mit einem viereckigen Kirchturm sich der alte Park um das Landhaus des Pfarrers Feuerstein dehnte. Sie waren eine Weile stumm, Hand in Hand vor den schlanken Steinschnörkeln der Brüstung gestanden, und hatten in beglückter Stille die Augen über den grünen Fluß hinüberschweifen lassen. Da brachte ein kühler Gutwetterwind aus Nordost das Läuten der Kirchtürme aus allen Dörfern jenseits der Grenze zu ihnen herauf. Es gellte und rief und schrie von all den kleinen Glocken aus der Ebene in die Hügel und Berge und Täler hinein.

»Was bedeutet nur das? Sie läuten ja überall!« fragte Sabine.

Emil umschloß ihre Hand fester. »Das ist das Auseinandergehen!«

»Die Kriegserklärung?«

»Die Mobilmachung! Die Entscheidung! Es geht los! Übermorgen früh steh' ich im Kasernenhof. Hei! Drauf!«

Er ballte die Faust und sah wild hinüber, aber diesmal nicht in die Heimat, sondern zu den Bergen im Westen.

Sie schaute bewundernd zu ihm auf.

»Weißt du, was ich eben dachte, Emil?«

»Nun?«

»Es wird sicher furchtbar schwer, aber dort – und sie zeigte über den Rhein hinüber – liegt das gelobte Land!«

Am anderen Morgen fuhr ein Landauer aus Rheineck ins nächste deutsche Dorf. Die Landwehrleute am Grenzschutz kannten den Pfarrer Feuerstein, seine Frau und seine Tochter, und die Auskunft über den vierten Mitfahrenden fiel befriedigend aus. Nach dem Gottesdienst standen Sabine und Emil in der kleinen Amtsstube des Rathauses und der Bürgermeister, ein hagerer Markgräfler mit glattrasierter Oberlippe und klugen Äuglein, nahm die Trauung vor. Der Ratschreiber und der Gemeindediener waren Zeugen. Dann fuhren sie zum Kollegen des Vaters, dem Dorfpfarrer, und ließen sich von dem stillen, freundlichen Mann vor dem Altar der kleinen Kirche einsegnen. Unter dem großen Kastanienbaum im Park fanden die Vermählten ein Mahl aufgetragen, an dem zwischen den Eltern und dem jungen Paar sitzend auch der Bürgermeister, der Pfarrer und die beiden Zeugen teilnehmen mußten. Bevor sie sich niedersetzten, sah der Brautvater auf in das grüne Laubwerk über sich, erhob seine Stimme, dankte dem Schöpfer alles Guten und sagte zu dem Paar:

»So, das ist euer Haus und euer Garten! Wenn's dem Herrgott recht ist, soll ein Paradies daraus werden. Amen!«

Eine Weile lang hörte man gar nichts als das Rauschen des Sommerwinds im alten Baum. Dann klangen ganz still und fein die Gläser, und die beiden oben am Tisch sahen sich hell und tief und lange an. Und jedes nahm einen kleinen Schluck.

Nach dem Mahl fuhr die Pfarrerin nach Rheineck zurück. Alles bei dieser stillen Hochzeit vollzog sich mit der Raschheit des Alltags, und doch glühte zwischen den wenigen Worten und den kurzen Blicken eine feierliche Innigkeit.

»Es ist nun allerhand geschehen, von was wir uns nichts träumen ließen, Emil, als du vor vier Monaten mich allein zu Hause trafst,« sagte die Mutter, als sie vor dem Wagen zum Einsteigen stand, mit bedeutungsvollem Lächeln.

»Die Wege Gottes sind höher als die Wege der Schwiegermütter!« wehrte Emil den schalkhaften Angriff ab, und Sabine umarmte aus lauter Freude darüber die Mutter so stürmisch, daß diese abwehren mußte. Dann küßte die Pfarrerin den Schwiegersohn so unbefangen auf die Wange, daß sogar Josua, ihr Mann, nicht aus dem Staunen herauskam. Die Pferde zogen an, und lange standen die Drei noch vor dem Haus und winkten dem Wagen nach.

Der Vater begleitete die Tischgäste in ihre Häuser zurück und wechselte mit ihnen die Sorgen darüber, was die nächsten Wochen bringen würden. Sabine aber nahm Emil an der Hand und zeigte ihm Haus und Garten, ihren Garten und ihr Haus, das sie nun für ihn bereiten würde, während er fort war. Sie führte ihn durch die alten breiten Gänge und durch die großen hellen Zimmer. Im Park brachte sie den Geliebten an alle ihre Lieblingsplätzchen, und bei jeder alten Tanne und jeder schattigen Eiche und jeder flüsternden Birke ließ sie ihn das kleine, seltsam wilde Mädchen sehen, das einst die stille Freundin all dieser Bäume und der Wiesel und Marder in den Löchern und der Raben und Fasanen oben in den Zweigen war. Er hörte leise lächelnd zu und wollte sie einmal mitten im seligen Reden und Gehen mit beiden Händen am Kopf nehmen und küssen. Aber sie war flinker gewesen, entwischte ihm und lief laut lachend zwischen den dichten Buketts dahin und er ihr nach. Wie zwei Kinder jagten sie sich.

Wie sie im hellen Kleid so zwischen den dunkeln Büschen dahinflog, da fiel ihm wieder die kleine Wolke ein, die auf seinem Weg vor ihm herleuchten würde. Er machte Ernst mit seinen Schritten und erwischte sie gerade unter ihrem Lieblingsbaum, der hohen Christustanne. Das war eine mächtige Akazie, aus deren zerrissener Rinde stachelige Dornenkronen wuchsen. Sie umschlangen sich, ihre Gesichter glühten einander entgegen und ihre Augen versanken ineinander. Dann wand sie sich los und lief ihm wieder davon.

Der Abend war da, sie wußten nicht wie. Er mußte gehen. Auf seine Bitte blieb sie im Haus zurück und begleitete ihn nicht auf dem Weg zur Bahnstation. Mit trockenen Augen sagten sie sich Lebewohl, als ob sie einander in ein paar Tagen wiedersehen. Nach einer Stunde saß er zwischen anderen einrückenden Reservisten und Landwehrleuten auf der Bank im Güterwagen eines endlosen Militärzugs.

Der heimkehrende Vater fand Sabine allein im Haus. Nur der Gärtner saß unten bei der alten Magd in der Küche und aß zu Nacht. Ob er nicht hier übernachten sollte, fragte Josua Feuerstein sein Kind, und streichelte ihr mit seiner breiten Hand sanft die Wange. Sie dankte. Als sie aber im nächsten Augenblick an des Vaters Brust ihren stummen, wilden Schmerz ausweinte, da blieb er doch.

Acht Wochen lang brachte Sabine es über sich, dem Geliebten das Haus zu seiner Rückkehr zu bereiten und sich mit Arbeit zu betäuben. Dann ging es auf einmal nicht mehr. Ihre Einsamkeit wurde immer größer, und selbst der Vater ward ihr immer weniger. Sie, die jungfräuliche Frau, fühlte sich einem anderen gehörig. Sie brauchte Hilfe. Die konnte ihr nur einer geben. Als ihre Not am höchsten gestiegen war, bekam sie einen Brief von Mahler. Sie möge kommen als erste Helferin; die Hausdame habe in ihre Heimat, die Ostseeprovinzen abreisen müssen, und das Schloß sei in ein Lazarett umgewandelt.

Drei Tage nachher fuhr Sabine auf der breiten Landstraße neben dem Fluß Schloß Brunn entgegen. Auf dem runden Turm wehte die weiße Fahne mit dem roten Kreuz. Mahler erwartete sie unten an der steilen Schloßtreppe. Hier war sie daheim. Hier würde sie das Warten ertragen. In wenig Tagen kannte sie alle die verwundeten Krieger, die jetzt anstatt der suchenden Friedlichen von früher die Kemenaten und Säle füllten. Aber keiner hatte bei der Armee gestanden, in der Emil kämpfte. Jeden Neuankommenden empfing Sabine. Sie trug kein weißes Band mit dem roten Kreuz am Arm, aber die Soldaten sagten ihr alle nur »Schwester Sabine«. Sie war ihre heimliche Königin. Ihr schütteten sie das Herz aus. Keiner wußte, daß sie verheiratet war.

Da brachten sie eines Tages einen jungen, langen Oberbayern, mit einem Gesicht so fröhlich, als ob er nicht wochenlang in Schützengräben das Leben eines Höhlenbewohners geführt hätte. Achselklappen hatte er keine, aber das Eiserne Kreuz im Knopfloch.

»Bei welchem Regiment standen Sie?«

»Beim 113ten, Fräulein. Wissen's, ich steh' sonst bei einem bayrischen Regiment, aber die Unseren sein halt fast alle z'sammeng'schossen worden. Den Rest haben's zu den 113ern g'steckt.«

»Da müssen Sie mir aber einmal erzählen, wenn's Ihnen besser geht.«

»Oh, Fräulein, nit d'r Red wert. Granatsplitter im Arm. 's Maul is deswegen alleweil no guet.«

Ein goldener Herbstmorgen ging über der reifenden Welt auf, und ein Flüstern von Ernte und Erfüllung zog durch die Bäume im Park. Überall war ein leises Flattern und Sinken von Blättern und auf allen Wegen raschelte es von bunten Laubteppichen. Sabine war schon überall herumgegangen und hatte auf der Efeuterrasse, am großen Opfertisch und in der kleinen Laube der Mainaltane die Verwundeten besucht, die in den weißen Krankenkitteln dort saßen und sich sonnten. Sie suchte nur einen, den Sebastian Siebzehnrübel aus Schliersee. Zwischen den alten grauen Götterbildern mit den abgeschlagenen Nasen fand sie ihn endlich. Dort lag er allein in einem Liegestuhl und schmauchte unter einer lichtdurchschienenen Buche seine Morgenzigarre.

»Also bei den 113ern waren Sie?« fragte Sabine nach dem Morgengruß.

»Freili, Fräulein!«

»Wie hat denn Ihr Hauptmann geheißen?«

»Ja wissen S', der ist schon in den ersten Tagen gefallen. Dann hat der Leutnant die Kompagnie g'führt, und wo der gefallen gewesen ist, der Feldwebelleutnant. Der ist jetzt noch Kompagnieführer. Dös is a ganz a schneidiger. Nur so an komischen Namen hat er g'habt.«

»Wie denn?«

»Himmelheber haben sie ihm g'sagt.«

Sabine brach der Purpur durch die Wangen.

»Gellen S' Fräulein, den kennen S' auch?« schmunzelte der Siebzehnrübel.

»Ja, den kenne ich schon, sogar ganz gut kenn' ich ihn!«

»Wissen S' auch, daß der das Eiserne erster und zweiter Klasse bekommen hat? Grad am Tag, wo i bin verwundet worden.«

»Wofür hat er's bekommen?«

Sabine schwamm es vor den Augen, als sie fragte. Dann hörte sie mit klopfendem Herzen zu, wie der Bayer ihr den Patrouillengang beschrieb, bei dem er dabei gewesen, durch den ein deutsches Regiment vor der Vernichtung gerettet wurde und bei dem der Feldwebelleutnant Himmelheber der Führer war.

Als er geendigt hatte, sah er ganz betroffen in Sabinens Gesicht.

»Gellen S', Sie sind sei Schwester?« polterte es ihm heraus. »Oder gar – –?« wollte er ergänzen.

Da nickte Sabine vor dem verwundeten Musketier glückselig mit dem Kopf und über die beiden Menschen in den weißen Kleidern schüttelte die alte Buche wie einen Segen ihren goldenen Blätterregen. Aus einem mächtigen Kastanienbaum polterten die stachligen Früchte auf den Boden, und die glänzend braunen Kugeln sprangen aus den berstenden Schalen. Als ob Segen und Friede und Glück in unsichtbaren Schauern sich auf sie herabsenkte, so stand Sabine unterm braungoldenen Laubdach des heiligen Hains und hielt die heiße unsichtbare Woge aus.

 

Ende.

 


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