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Es war ein schöner Frühlingstag, und starke Lüfte brausten am hellblauen Himmel. Zum erstenmal seit dem Winter sandte die Sonne wieder breite Strahlenbüschel durch das Steinwerk der Münsterpyramide auf ein stilles Haus, das sich inmitten behäbigerer Nachbarn in bescheidener Sauberkeit duckte. Das Gestirn des Tages funkelte auf den vergoldeten Knöpfen des schmiedeisernen Schildes und ließ die Inschrift: »Kolonialwaren von Frau Salomea Himmelheber Witwe« in neuem Glanz aufleuchten. Es drang auch in den Ladenraum, glitzerte dort auf den porzellanenen Inschriften der zahlreichen Schubladen und warf auch ihren Schimmer in das Wohnzimmer neben dem Laden. Dort malte die Sonne große Kringel neben die vielen Photographierähmchen auf der grünen Tapete und umgab Frau Salomea Himmelheber und ihren Sohn Emil, die gerade beim Kaffee saßen, mit einer wahren Glorie.
Die Mutter leerte ihre Tasse, erhob sich und stand nun klein, dick, aber in willensstarker Unbeweglichkeit vor ihrem einzigen Sohn, der sie um Haupteslänge überragte.
»Das kann nicht sein, Emil! Du mußt nachgeben!« sagte Frau Himmelheber, und verhaltener Zorn lief ihr durch den rundlichen Körper.
Emil fuhr sich etwas unwirsch über die Haare, und seine Augen konnten einen kleinen Widerwillen gegen die laute Art der Mutter kaum verbergen.
»Wie lange dauert es noch, Mutter, bis ich bei dir eigentlich majorenn bin?« fragte der Sohn mit ironischer Laune.
»Majorenn?« fragte Frau Himmelheber erstaunt und gab selbst die Antwort:
»Ich bin die Mutter.«
Da klingelte draußen im Laden die heisere Schelle, und ein eintretender Kunde schnitt vorläufig die Diskussion ab.
Emil war dankbar für diese Unterbrechung, weil er hoffte, die in ihren Stimmungen so leicht wechselnde Mutter würde sich wieder mäßigen. Frau Himmelheber schien auch selber ein Gefühl davon gehabt zu haben, daß sie einmal wieder zu weit gegangen war; denn während sie den Kunden bediente, schaute sie manchmal ängstlich durch das kleine, mit einem Vorhängchen verhängte Fenster, das in der Türe zwischen Wohnstube und Laden eingelassen war. Sie befürchtete, Emil könne, wie schon so oft, im Unmut das Feld räumen, bis sie wieder hineinkam. Aber sie sah ihn noch ruhig dort stehen, und als sie wieder in die Wohnstube trat, ruhten des Sohnes Augen eindringlich auf ihr, als wollten sie das Rätsel ergründen, das in dem Herzen der schon bejahrten, und doch noch so temperamentvollen Frau verborgen lag.
»Gelt, du studierst mich wieder!« fragte Frau Himmelheber mit fast zärtlicher Verlegenheit den Sohn.
Emil antwortete nichts.
»Nun? Bin ich keine Antwort wert?« drang die Mutter weiter in ihn.
»Ich verstehe dich schon, Mutter,« antwortete Emil, »das Unglück ist nur, daß du mich nicht verstehst.«
»Was ist da noch zu verstehen?« fuhr die Mutter den Sohn zornig an. »Jetzt habe ich dir mit Schinden und Schaffen geholfen, daß du es so weit gebracht hast. In einem Jahr könntest du ordentlicher Professor sein, und jetzt muß dich der Wahn plagen, alles wegzuwerfen, Stellung, Ansehen, die Aussicht auf ein Dutzend gute Partien in der Stadt, kurz alles, alles, alles! Rein, als ob das nichts wär'!«
Frau Himmelheber suchte emsig nach dem Taschentuch, und dicke Tränen rollten ihr dabei über das runde, trotz ihrer sechzig Jahre noch faltenlose Gesicht.
»Alles, alles, alles!« wiederholte sie ein wenig pathetisch und schaute Emil erwartungsvoll an mit einer Mischung von Wehmut und Entrüstung in den runden, glänzenden Augen.
Aber Emil blieb ruhig, damit sich die Mutter nicht in eine neue Aufregung hineinredete. Diese Rücksicht hatte jedoch die Wirkung, daß Frau Himmelheber nur noch aufgebrachter wurde und nicht ohne verächtliche Schärfe im Ton fortfuhr:
»Und wegen was? Wegen ein paar dummer Ideen! Aus Hochmut! Weil du nicht weltklug bist! Aus Dummheit!«
Diesmal verhinderte die heisere Ladenschelle, die im richtigen Augenblick wieder einen Kunden anzeigte, Emil an einer schärferen Antwort, als er sie der Mutter bisher gegeben hatte. Frau Himmelheber trat rasch vor den Spiegel, wischte sich die Tränen aus den Augen, glättete sich das Haar und ging dann, nachdem sie kurz vor der Tür noch rasch die Schürze zurechtgestrichen hatte, dem Kunden mit einem so strahlenden Gesicht entgegen, daß dieser nicht ahnte, was die immer zuvorkommende Frau Himmelheber für eine Sprache führen konnte, wenn es gerade niemand Ungebetener hörte.
Unterdessen wartete der Sohn in der Wohnstube ruhig, bis die Mutter wieder zurückkam. Es lag eine stille Entschlossenheit über ihm. Er war gewillt, heute alles auf sich zu nehmen. Als Frau Himmelheber wieder in bester Laune in die Wohnstube trat, sagte ihr Emil, er würde also bestimmt am Montag eine größere Reise antreten; denn die Regierung bestehe darauf, daß er über einen andern Gegenstand als alttestamentarische Poesie lese, und ihm falle es nicht ein, nachzugeben. Er habe um Urlaub für das Sommersemester nachgesucht und ihn bewilligt erhalten.
Jetzt aber zog die alte Frau alle Register einer mütterlichen Haustyrannei. Sie ließ die Stiefel aufmarschieren, die noch nicht repariert waren, zählte an den Fingern die noch nicht gestopften Strümpfe und die noch nicht gewaschenen Hemden auf, wußte von dem Reisekoffer zu berichten, an dem die Schlüssel fehlten, und erklärte es für ein bares Ding der Unmöglichkeit, daß er vor einer Woche reisen könne.
Es war gerade Samstag nachmittag, wo die Kunden ihre Einkäufe für den Sonntag machten, und so geschah es, daß die Ladenschelle Frau Himmelheber wiederum abrief. Als sie jedoch, umgeben von der gewohnten Duftwolke von Petroleum, gebranntem Kaffee und Heringen in das Wohnzimmer zurückkam, fand sie es diesmal leer. Emil hatte, weder erzürnt noch betrübt, durch den Hausgang das Freie gewonnen, und Frau Himmelheber sank in Ärger, halb über ihn, halb über sich selbst, weinend in die Sofaecke.
Als Emil auf dem Münsterplatz stand, wo alte Männer und Weiber gerade die Gemüsereste und Papierfetzen vom Samstagmarkt zusammenfegten, atmete er tief auf. Er hatte Unerträgliches abgeschüttelt. Zum erstenmal fühlte er keine Reue, deren er sich bisher nach den immer peinlicheren Unterredungen mit der Mutter wegen seines Vorhabens nie hatte ganz erwehren können. Er empfand etwas von einer großen Befreiung in sich.
In der etwas ungeschlachten und doch weichen Gangart, durch die er aus der Straße auch ohne seine hohe Gestalt und ohne seinen großen hellgrauen Schlapphut auffiel, schritt er über den Platz dem Münsterportal zu.
Gewaltig schoß das rote Sandsteinwunder des Münsters vor Emil auf zum Himmel. Ganz oben, wo die ersten Lucken des Glockenstuhles die Mauer durchbrachen, grüßten an der glatt aufsteigenden Steinwand drei winzige Fensterchen herab, und wer gute Augen hatte, konnte dort immer blühende Geranienstöcke stehen sehen. Dort wollte Emil Abschied nehmen.
Er trat in das Portal ein. Adam und Eva, die klugen und törichten Jungfrauen, die Frau Sitte mit dem faltenreichen, züchtigen Gewand und die nackte Frau Welt mit den buhlerischen Äuglein, und mitten über all dieser Welt von Statuen thronend Maria mit dem Kind, alle sahen auf Emil mit ihren schiefliegenden gotischen Augen, wie schon so oft, in steinerner Unergründlichkeit herab. Emil öffnete eine kleine Seitentür und stieg die dunkle, steile Wendeltreppe zum Turm hinauf. Aus alter Gewohnheit zählte er die Stufen, und als es achtzig waren, ging er langsamer, tastete mit einer Hand nach oben und drückte eine Falltüre auf. Als er sie wieder hinter sich geschlossen hatte, dehnte sich rund um ihn ein speicherartiger, von gewaltigen Balken durchkreuzter Raum, über ihm hingen in Gestellen, die wie riesenhafte Guillotinen aussahen, die Glocken mit ihren schweren, ehernen Zungen. Auf einmal hörte Emil einen kurzen, scharfen Knall. Ein toter Vogel fiel vor seinen Füßen nieder. Er hob ihn und hatte einen schönen Turmfalken in der Hand, dessen kühne Augen sich gerade noch einmal öffneten und dann für immer schlossen.
»Den hat's!« tönte von oben eine tiefe Männerstimme. Emil sah den alten Freund seiner Mutter, den Turmwächter, eine steile Leiter durch den Glockenstuhl herabkommen. Er rückte seine Pelzkappe, die wie ein Südwester hinten hinabgeschlagen war, zurecht und meinte:
»Es windet heut grausam hier oben!«
»Frühjahr, Frühjahr, Meister Schlagintweit!« antwortete fröhlich Emil und fragte dann, indem er ihm den Falken gab:
»Wie geht's der Anna?«
»Nicht zum besten!« antwortete der Alte mit dem Seemannsgesicht.
»Ich will ihr Adieu sagen; ich verreise auf einige Zeit.«
»Ja, ja, es ist gestern in der Zeitung gestanden, daß du diesen Sommer keine Vorlesung hieltest,« meinte der Alte und sah Emil fragend an.
»Ich muß einmal fort, in die Welt,« wich Emil aus. »Es will mich nicht mehr leiden in Heitersberg.«
»Ja, ja, junges Blut muß sich abkühlen!« meinte der Türmer schelmisch, fuhr aber dann ernster fort: »Der Anna würde ich aber an deiner Stelle nichts sagen.«
Da schnurrte und rasselte es von Rädern und Drähten durch den ganzen Turm. In dem gewaltigen Glaskasten, der das Uhrwerk barg, senkten sich die Gewichte und hoben sich die Hebel, und auf zwei Glocken schlug es gerade die vier Viertel. Rasch stieg der alte Schlagintweit auf einer steilen Treppe ins Gebälk des Glockenstuhls, nahm einen mächtigen Hammer mit beiden Händen aus einer Nische und schlug vor der dritten größeren Glocke auf deren Rand die Stunde Drei nach. Dann kam er wieder herunter und sagte zu Emil:
»Das Schlagwerk ist wieder einmal nicht in Ordnung, und bis der Uhrmacher aus der Stadt heraufkommt, kann man alt werden. So haue ich halt heut den ganzen Tag die Stunden von der Ewigkeit herunter. Es ist schon wieder eine weniger.«
»Ihr habt aber noch manche in Eurem Vorschuß, Vater Schlagintweit,« sagte Emil und legte dem Alten vertraut die Hand auf die Schulter.
Dieser setzte sich auf einen Balken und lud Emil ein, neben ihm Platz zu nehmen. Dann antwortete er: »Mir pressiert's nicht, wenn's dem Herrgott recht ist; aber die Anna will mir nicht gefallen. Mir ist immer, als müßt ich bald das Silberglöckle läuten.«
»Warum das Silberglöckle?« fragte Emil, der sonst mit den Ämtern der einzelnen Glocken seit Kindheit wohl vertraut war.
»Es ist ein altes Recht der Münstertürmer, daß wenn eines aus der Familie stirbt, nicht wie sonst die Zehntenglocke, sondern das Silberglöckle geläutet wird.«
»Da braucht Ihr keine Angst zu haben, die Anna ist zart, aber doch eigentlich nicht schwer krank.«
Der Türmer gab keine Antwort und sagte: »Weißt du auch, Emil, daß es heut gerade zwanzig Jahre sind, daß wir die Anna unten auf der Turmtreppe fanden? Ja, nachher haben sie ja ein Geländer dran machen lassen, aber mit dem Kind war's herum! Und was war die Anna für ein Kind! Weißt du, Emil, daß deine Mutter und Annas Mutter oft davon geredet haben, was Ihr zwei für ein feines Paar gäbet?«
Statt jeder Antwort legte Emil dem Alten die Linke auf seine Hand, nahm in die Rechte den toten Falken und zog den Türmer durchs Halbdunkel nach sich bis an eine Bretterwand.
Eine Tür ging in ein kleines Zimmer, das vom Duft altmodischer Freundlichkeit erfüllt war. Blank polierte Möbel standen in den Ecken und verblichene Aquarelle zierten die Wände. Aus den blaß vergoldeten Rahmen sahen die drei Generationen der Turmwächterfamilien, blühende Greise, runde Mütter, trotzige Buben und blasse Mädchen. Und es war, als ob alle diese Vorfahren der Familie Schlagintweit auf den Lehnstuhl am Fenster mit den Geranienstöckchen sähen, in dem eine zarte Mädchengestalt saß. Ihr helles gescheiteltes Haar war vor den Ohren in einer leichten Welle umgelegt. In einem schmalen, von bläulichen Äderchen durchzogenen Gesicht schienen ein paar tiefe Augen. Daraus strahlte das lächelnde Wissen derer, die viel gelitten haben, ohne darüber bitter zu werden. Die schmalen Hände mit ihren feinen Fingern ruhten nebeneinander auf einer Decke über den Knien.
Ein rosiger Hauch durchglühte Annas Wangen, als sie Emil eintreten sah.
»Der holt dir keine Tauben mehr, Anna!«
»Der Arme!« sagte Anna und sah den schönen Vogel traurig an.
»Ja, ja, du hättest sogar mit den Mäusen und Ratten da oben Erbarmen und tätst sie wahrhaftig noch füttern, wenn ich ihnen nicht überall Gift legte,« schalt der Vater.
»Sie leben halt alle gerne!« so verteidigte sich Anna und nahm ein kleines Pfeifchen vom Tisch, das neben ihr stand. Sie führte das glänzende Ding an den Mund und ein lockender Ton zog durch den Raum und drang durch das eine der beiden Fenster, vor dem kleine Geranienstöcke standen, hinaus in die helle Welt draußen vor dem Turm. Es dauerte nicht lange und ein ganzer Schwarm weißer Tauben flatterte streitend und sich drängend vor dem Fenster, und jede wollte zuerst herein.
»Jetzt ist's genug!« sagte der Alte, als bald ein halbes Dutzend der schönen Vögel der Tochter auf Schultern, Schoß und Kopf saßen, und schloß das Fenster, durch das die andern neidisch und neugierig hereinschauten. Jede der Tauben bekam einige Krumen Brot, wurde gestreichelt, und dann machte der Vater das Fenster wieder auf. Zugleich aber ging er an die nächste Tür und öffnete einen Raum, wo ausgestopfte Eulen, Mauerschwalben und Habichte hingen. Da verschwand im Nu nicht nur der Schwarm vor dem Fenster, sondern auch die sechs Eingelassenen suchten rasch das Freie.
Da klopfte es an der Türe und der Mesner trat in die geöffnete Tür, um dem Türmer zu sagen, ein Herr und eine Dame, die Erlaubnis vom Münsterbauamt hätten, wünschten unter seiner Führung die Arbeiten am Turm zu sehen. Durch die Tür sah man denn auch draußen einen großen älteren Herrn mit einem schwarzen Schlapphut und eine junge Dame in einem hellen Kleid im Halbdunkel stehen.
Als der alte Schlagintweit das Zimmer verlassen hatte, war Emil in einiger Verlegenheit. Bücher wie gewöhnlich, hatte er diesmal keine mitgebracht. Zwischen Anna und ihm hatte sich aus der alten Kinderliebschaft mit den Jahren ein Verhältnis entwickelt, dessen leichte Rührseligkeit Emil zu beschweren anfing, ohne daß er es sich hätte eingestehen mögen.
Aber Anna kam ihm jetzt entgegen. Sie hieß ihn neben sie sitzen und sagte dann mit einer stillen Entschlossenheit, die verriet, daß sie ganz im klaren war, über das was sie jetzt zu sprechen hatte:
»Höre Emil, du mußt mich jetzt nicht auslachen. Ich weiß, so ein gescheiter Mensch wie du, braucht nicht mehr alles zu glauben; aber es ist vielleicht doch so, wie ich dir jetzt sage. Ich hab heut nacht einen Traum gehabt. Ich hab dich mit mir zusammen gesehen vor einem großen Wasser. Auf einmal sagst du zu mir: Anna, ich muß jetzt über das Wasser gehen! und trittst ganz gemütlich darauf, als ob das nichts wäre. Und wie du auf dem Wasser standst, fing es an, große Wellen zu schlagen. Einen Augenblick sah ich dich nicht mehr, und den anderen Augenblick warst du hoch oben auf einer Woge, und so gingst du hinauf und hinab über das stürmische Wasser, immer weiter weg von mir. Zu einem ganzen Meer wurde das Wasser, und auf einmal sah ich dich drüben am Ufer stehen, und neben dir stand noch jemand, eine junge Frau, aber ich hab sie nicht recht sehen können. Du hast mir noch einmal zugewunken, und dann war alles vorbei.« –
»Das sind halt Träume, Anna! Da hast du irgend so etwas Ähnliches in einem Buch gelesen!« ... meinte Emil.
»Horch,« unterbrach Anna den Kameraden mit Festigkeit, ohne auf seine Einrede zu achten. »Ich möchte dir noch etwas sagen: Es wird jetzt für dich allerhand kommen, was du nicht denkst ... Halt aus!«
Und die Kranke wiederholte, indem sie Emil die Hand nahm und mit ihren überklaren Augen fest in die seinen sah: »Halt aus!«
»Das will ich!« sagte Emil und schwieg diesmal unter dem Eindruck von Annas freundlicher Eindringlichkeit.
»Soll ich dir etwas vorlesen?« lenkte er dann das Gespräch plötzlich auf etwas anderes ab.
»Nein, heute nicht,« bat Anna. »Ich bin ein wenig müde, und du sollst jetzt wieder gehen, wir könnten sonst wieder verreden, was ich dir gesagt habe.«
»Das heißt man, einen einfach fortschicken,« meinte Emil mit einer leicht erzwungenen Laune, bei der es ihm nicht ganz wohl zumute war.
»Nimm's, wie's ist, und sei mir nicht böse, Emil!« sagte Anna und rief, gerade wie um das Gespräch zu unterbrechen, die Base herein, die man unterdessen in der Küche hatte hantieren hören.
»Dann aufs nächste Mal!« sagte Emil, gab ihr die Hand und wunderte sich, wie Anna ihn diesmal fest und lächelnd, freundlich und vielsagend anschaute, wie sonst noch gar nie.
Dann ging er, und erst als er die Zimmertüre hinter sich geschlossen hatte, fiel es ihm ein, daß er der Anna ja hatte Adieu sagen wollen auf einige Monate. Aber er ging nicht wieder zurück, sondern stieg durch den Glockenstuhl hinauf zur Turmpyramide.
Die Gestalt des Münsterturms hatte seit einiger Zeit eine merkwürdige Veränderung erfahren. Kühne Zimmerleute hatten in zäher Arbeit zwischen den Luken des Turmunterbaus gewaltige Balken herausgestreckt und sie spinnwebgleich untereinander verbunden, bis ein sieben Stockwerke hohes Holzgerüst wie ein Mantel das mittlere Stück des Turmes rings umgab. Dann machten die Zimmerer den Steinmetzen Platz und [die] standen nun auf den luftigen mit sicheren Brüstungen versehenen Holzaltanen, prüften Stein für Stein an dem siebenhundert Jahre alten Viererbau, nahmen einen morschen Quader nach dem anderen heraus und ersetzten jeden durch einen aufs Haar gleichgroß zugehauenen gesunden Bruder. Und während aus dem hölzernen Gerüstmantel heraus die durchbrochene Pyramide noch freier und kühner als sonst in die Lüfte stieg, wurde unter ihr von sorgsamen Steinmetzhänden ein neuer Turm gebaut.
Emil sah sonst gerne den Steinmetzen bei ihrer heikeln Arbeit zu, aber diesmal drängte es ihn höher hinauf. Annas Erzählung und ihr geheimnisvolles und doch so festes Betragen waren ihm in Blut und Nerven geschlichen. Er mußte sich ausblasen lassen vom Frühlingssturm. Rasch stieg er auf der schmalen Holztreppe hinauf. Als er auf die schmale Altane mit der gotischen Rankenfüllung trat, vor sich das Balkenspinnweb des um den Turm gelegten Gerüstes, über sich die schlanke Pyramide mit den abstehenden Knäufen der Kreuzblumen, da riß ihm der brausende Wind den Hut vom Kopf, trug ihn weithin über die Dächer und die kühle Gewalt des Sturmes rann Emil durch die Kleider bis auf die Haut. Er sah auf das Dächergewirr der Stadt, auf das Silberband des in der Ferne ziehenden Stromes und wollte gerade einen Rundgang um die Pyramide antreten, als er merkte, daß er nicht allein hier oben war. Auf einem der kleinen Balkone, die in den vier Himmelsrichtungen hinausgebaut waren, stand ein junges Mädchen und sah über die Brüstung hinab in die Tiefe, während sie sich mit beiden Händen den einfachen schwarzen Samthut auf die windzerzausten braunen Haare drückte. Es war, als wollte der Frühjahrssturm ihr die Kleider vom schlanken, wohlgewachsenen Leib reißen, so wild umflutete der weiche Stoff des rohseidenen Rockes ihre Gestalt. Ohne zu wissen, wie es gekommen war, standen sich die beiden auf einmal zwischen Himmel und Erde gegenüber und schauten einander mit einem Glanz in den Augen an, wie sich etwa das erste Menschenpaar im Paradies angeschaut haben mag. Ohne zu wissen, weshalb, senkten die beiden nach einigen Augenblicken des Anstrahlens die Lider und standen in verwirrter Demut voreinander. Ohne zu wissen, warum keines dem anderen ein Wort sagte, gingen sie wieder ihren Weg zurück, traten durch die niedere Tür wieder in das Turminnere und hatten einander bald aus den Augen verloren. Und ohne zu wissen, zu welchem Ende, kostete jedes der beiden, wie von einer unsichtbaren Duftwolke des anderen umhüllt, die berückende Feierlichkeit des Augenblicks noch weiter, und verbarg des anderen Bild tief in sich.
»Wer war der Herr, der sich das Restaurationsgerüste so genau angesehen hat?« fragte Emil den Türmer leichthin, als er wieder durch den Glockenstuhl hinabstieg.
»Das war der Münsterpfarrer Feuerstein von Rheineck droben mit seiner Tochter. An den Türmen des Rheinecker Münsters soll auch nicht mehr alles in Ordnung sein, und da wollte er einmal studieren, wie wir das hier in Heitersberg machen.«
»Ah!« sagte Emil gedankenlos und ging rasch durch die Falltür die Wendeltreppe hinab und durchs Portal ins Freie.