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In den Gasthäusern des Brandertals und in den Anhängekästen der Kirche, des Rathauses und der Post hingen saubere, in zierlicher Rundschrift vom Lehrer geschriebene Plakate, darauf zu lesen war, daß abends von ein halb neun Uhr ab im Saal der »Gemse«, dem Gasthof der verwitweten Frau Marianne Huber, ein großes Konzert zugunsten der Wasser- und Feuerbeschädigten des Brandertales stattfinden werde. Als Personen, die gütigst ihre Mitwirkung zugesagt hatten, waren genannt: der hochwürdige Herr Pfarrer Wendelin Birkheimer (Klavier und Violine), des weiteren das hochverehrliche Fräulein Kirsten, Pianovirtuosin aus Deutschland, dann der Herr Doktor Himmelheber (als Vortragender), gleichfalls aus Deutschland, der Herr geehrte Grenzinspektor Fidelis Züngli (Fagott und Viola) und der Herr Hauptlehrer Amethystus Finneisen (Klarinette, Violine und Klavier). Der Eintrittspreis war angesichts des edlen Zweckes in das Belieben der Herren Fremden mit Gemahlinnen, sowie der löblichen einheimischen Bewohner gestellt.
Der leichte Landregen, zu dem sich das Unwetter nach und nach besänftigt hatte, störte nicht, sondern erhöhte die Stimmung in der »Gemse« bei den Vorbereitungen zum Konzert. Während der Glaser die zerschlagenen Fensterscheiben einkittete, spannten die Mädchen mit Papierblumen durchwundene Tannengirlanden von einer Ecke des Saals in die andere, und die alte Huberin holte das beste Geschirr und die schönsten Gläser aus den Schränken. Denn sie hoffte, die Musik werde den Gästen auch Appetit und Durst machen, so daß der Schaden vom gestrigen Abend vielleicht am heutigen schon wieder eingeholt werden könne.
Schon um sieben Uhr rückten die Künstler in schönen schwarzen Bratenröcken an, suchten den besten Platz für das Orchester aus, rückten das aus Mariannens Zimmer hergebrachte Klavier mit Wichtigkeit und Behutsamkeit zurecht, stellten die Pulte auf und probierten mit ernster Miene die Akustik. Während des Abendessens, das die Pensionäre ausnahmsweise draußen auf der Glasveranda einnahmen, ließ der Herr Lehrer seiner Klarinette einen verwegenen Triller entschweben, und der Grenzinspektor entlockte seinem Fagott eine tiefgefühlte Kantilene. Der Herr Pfarrer, der die ganze Veranstaltung leitete, schob immer wieder an dem schönen, schwarzpolierten Piano Mariannens herum, ließ eine Passage von Terzen von der untersten bis zu der obersten Taste hinaufgleiten und fragte die im Büfett sitzende Marianne, ob es sich so besser mache oder so, wie das Instrument vorhin gestanden habe.
Kurzum, es war eine durchaus festliche Stimmung im Saale der »Gemse«. Und als noch Emil in seinem schwarzen Abendanzug erschien, da husteten die drei Künstler ehrerbietig wie vor einem Protektor ihres schönen Vorhabens. Doch als erst Lotte, die sich den ganzen Nachmittag nicht mehr hatte sehen lassen, in einem äußerst vornehmen seidenen Konzertkleid mit einem Ausschnitt am Halse, den bloß der hochwürdige Herr Pfarrer zwar schön, aber etwas zu tief fand, sich zu den Kollegen des Abends gesellte, da wölbten sich die Rücken der drei ländlichen Künstler in so zierlichen und würdigen Verbeugungen, wie sie es sich selbst in ihrem Leben nie zugetraut hätten.
Schon nach acht war der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Und später mußte man noch den Zuhörerraum um eine Stuhlreihe gegen die Ecke zu, wo die Künstler ihre Pulte aufgestellt hatten, erweitern. Vor den Fenstern stand erwartungsvoll das ganze Dorf. Es gelang nur schwer, die Draußenstehenden davon abzuhalten, daß sie ihre Köpfe vertraut über die Fenstergesimse und in den Saal hineinstreckten. Denn sie, denen geholfen werden sollte, sie wollten auch von dem für sie veranstalteten Genuß selber etwas haben.
Die Künstler saßen in einem schönen Halbkreis längst in Bereitschaft, wobei Lotte ihren Stuhl dicht neben Emil hatte, als der Pfarrer mit seinem runden Antlitz voll gebändigter Bonhomie und seinem Kopf voll kurzer Löckchen die Veranstaltung durch eine etwas salbungsvolle Ansprache eröffnete und dann Herrn Doktor Himmelheber aus Deutschland das Wort erteilte zu einem, wie er sagte, von diesem selbstverfaßten Prologus.
Emil erhob sich, trat vor und las mit leichter Unterstützung eines beschriebenen Blattes Papier ein Gedicht vor, das alle mit viel Achtung und Aufmerksamkeit anhörten, das aber auf niemand irgendeinen Eindruck machte. Nur Marianne sah, wie Lotte sich während des Gedichtes fest zusammenraffte, wie in ihren Augen ein beglücktes Staunen aufleuchtete und wie ihr zum Schluß während der letzten Verse ein leiser Schauer durch den ganzen Körper zitterte.
Dann spielten der Pfarrer, der Grenzinspektor und der Schullehrer ihr Mozartsches Trio. Aber war es nun die Aufregung, vor so großem Publikum sich produzieren zu müssen, oder waren es die Strapazen der vorhergegangenen Nacht, jedenfalls fand Lotte, daß sie lange nicht so gut spielten wie am Abend vorher. Einmal waren sie sogar nahe daran, aus dem Konzept zu geraten und mit Schimpf und Schande umzuwerfen; aber der Pfarrer spielte auf dem Klavier einige Takte so oft hintereinander her, bis die Klarinette und das Fagott sich wieder in die richtigen Windungen der Komposition hineingefunden hatten.
Der Hauptlehrer, der nicht so sehr wie seine beiden Kollegen für klassische Musik war und die Sehnsucht, eine besondere Rolle zu spielen, nicht immer mit Erfolg unterdrücken konnte, überraschte seine Partner mit der Mitteilung, er habe Raffs Kavatine auf der G-Saite mitgebracht und wolle, um ihnen ein Ausruhen zu ermöglichen, ein kleines Solo zum besten geben, würde jedoch, falls es der Herr Pfarrer und der Herr Grenzinspektor nicht wünschten, zurückstehen. Die beiden sahen einander erstaunt an, und bevor sie sich geeinigt hatten, war der Herr Amethystus Finneisen schon auf Lotte zugeschritten, um sie mit einer verbindlichen Verbeugung zu bitten, die Klavierbegleitung zu übernehmen.
Der Beifall nach Beendigung der Kavatine war so stürmisch, daß die beiden Kollegen des Herrn Hauptlehrers gute Miene zum bösen Spiel machen mußten und sich, wenn auch nicht ganz herzlich, dafür bedankten, daß durch die Kavatine die verschiedenen Scharten des Trios ausgewetzt waren.
Nach einer kleinen Pause, während welcher einige durstige Wiener sich schon umschauten, ob nicht auch serviert würde, wurde ein Haydnsches Quartett gespielt, und das leichte und doch so festgefügte Tongewebe des liebenswürdigen Rokokokomponisten vermochte die Aufmerksamkeit der Gesellschaft so zu fesseln, daß der Pfarrer heimlich beschloß, nun auch seinerseits aus der Verborgenheit herauszutreten. Er kündigte als Einlage das Boccherinische Menuett, bearbeitet für Violine mit Klavierbegleitung, an und erbat sich aus Rache gegen den Lehrer, daß nicht dieser, wie schon so oft, sondern Lotte ihn am Klavier begleite.
Das Publikum fing aber nach der schlecht durchschlafenen Nacht in den Ecken doch schon an zu gähnen; so entschied sich der Pfarrer, von seinem Vorhaben abzustehen, und mit erhobener Stimme verkündete er, Fräulein Charlotte Kirsten, welche als eine ganz ausgezeichnete Klavierkünstlerin gerühmt werde, habe nun die Güte, den verehrten Herrschaften die Sonata appassionata von Beethoven vorzutragen, und er bitte höflichst um Ruhe während des Vortrags.
Lotte hätte, wie schon während des Konzertes, laut aufschreien können vor Vergnügen über diese Einleitung, und sie überlegte sich gerade, wie sie später Isy und deren Mutter von diesem denkwürdigen Abend erzählen wolle, als Emil sie durch einen Wink darauf aufmerksam machte, daß sie nun an der Reihe sei.
Lotte sah Emil aus ihren prachtvollen Augen mit einem überlegenen und gefährlichen Lächeln an. Ihre Stunde schien ihr endlich gekommen. Sie hatte mittags dem unbefangenen, sicheren Benehmen Emils keinen Widerstand zu leisten vermocht und hatte ihm zugesagt. Im Laufe des ganzen Nachmittags hatte sie geschwankt zwischen Zweifeln, ob sie sich in den Personen hinter Mariannens Fenster getäuscht, oder ob Emils Sinne auch jetzt noch nur mit leichten äußerlichen Fäden an Mariannens voller Schönheit hingen. Aber neben diesen Zweifeln hatte auch die kühle Sicherheit in ihr Fuß gefaßt, daß sie einen Schlag gegen Emil tun müsse, einen großen machtvollen Schlag, so wie es ihrer würdig wäre. Sie wollte ihm ihre Sehnsucht nach einem freien, gewaltigen, gütigen Manne in Tönen enthüllen und ihn nach ihrem Bekenntnis um so ferner von sich halten – als einen ihrer Unwürdigen.
So setzte sie sich vor Mariannens Instrument und spielte. Und während sie spielte, wurde langsam eine andere Welt im Saal. Die gähnenden Wiener wachten wieder auf und versicherten einander flüsternd, das hätten sie noch nie gehört. Der Pfarrer legte sein feistes Häuptlein melancholisch auf die Seite und wußte nicht, wie ihm geschah. Nur der Herr Lehrer vergaß nicht, wenn er aus einem Entzücken ins andere fiel, seine Befriedigung auch durch eine gönnerhafte Miene und durch ein kennerhaftes Nicken des Kopfes dem Publikum anzuzeigen. Marianne aber saß im Büfett und gewahrte, wie auf Emils Gesicht, ja in seiner ganzen Gestalt sich alles veränderte. Es ging etwas wie eine Verklärung über sein Wesen. Sein Körper schien zu wachsen und im Wachsen hart zu werden wie Stahl. Seine Augen schauten klar und tief in der Erwartung eines seltenen Anblicks über die Menschen hinweg und durch ein Fenster in unabsehbare Weiten. Als ob er glücklich sei, nach langen Jahren wieder in der Heimat, in seiner Heimat angelangt zu sein, so dünkte es Marianne, daß sein Gesicht manchmal aussah. Je wunderbarer die Welt der Töne Mariannens Ohr berührte, die unter Lottens Fingern ihrem Klavier entstiegen, desto tiefer sank ihr Herz und desto klarer wurde ihr, was der Achleitner drüben vor ein paar Wochen zu ihr von denen gesagt hatte, die draußen in der Heimat des Doktors schon auf ihn warteten.
Emil aber erlag langsam dem Engel, der in Beethovens Tonwelt sein Flammenschwert über alle schwingt, die sich verzweifelt vor den Toren des Paradieses drängen. Er stand regungslos mit gesenktem Haupt an der Wand hinter den Mitwirkenden. Was war jetzt der Sturm der Elemente in der vergangenen Nacht gegen diese Gewalten? Hier heulten Seelen auf im wilden Toben der Empörung über die Qual ihrer Friedlosigkeit, und jede trostreiche Stimme, die sich aus dem Taumel vernehmen ließ, jede männliche Erhebung über das Schicksal wurde immer wieder überflutet von Ozeanen der Leidenschaft. Was waren die Blitze grimmigen Humors, die manchmal durchs Sturmgewölk brachen? Kurze Augenblicke einer gewaltsamen Aufhellung, hinter denen die Nacht jedesmal um so finsterer wurde.
Lotte hatte ihres Herzens Qual vor Emil enthüllen wollen und entfesselte in ihm selber eine Sturmflut des Wehs. Und die beiden Meere wogten einander entgegen und brandeten wider einander. Aber wie eine selige Insel zwischen den wilden Wassern tauchte der zweite Satz, das Andante, auf, und Emil sah sich in einem Nachen über die Fluten von der einen Seite her dem sonnenbeschienenen Eiland zurudern, während die Zauberin dort am Klavier von der anderen Seite sich näherte.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirne und blickte hinüber zu ihr. Sie saß da, losgelöst von allem um sie herum, das Bild der großen Künstlerin. Das Lied beseligenden Friedens, das jetzt unter ihren Fingern emporklang, nahm dem spröden Adel ihres Wesens auch die letzte Härte. Emil stand mit halbgewendetem Gesicht in verzückter Starrheit. So schön hatte er noch kein Weib gesehen.
Da begannen die Variationen des Themas bis zur dritten, wo die Erde entrückt scheint und Himmelsbläue die erhobene Seele umhellt.
Das war den Wienern nicht zugkräftig genug, und einige von ihnen gähnten wieder. Aber als der zweite Satz mit der Dissonanz im letzten Takt endigte und Lotte gleich mit der tollen Figur des F-Moll-Allegros fortfuhr, die wie ein tosender Bergbach in die Tiefe stürzte, da legte sich der Bann von Lottes Kunst noch einmal auch über die Widerwilligen. Emil aber erlitt den Krampf einer ringenden Seele bis in die tiefsten Bitternisse. Erst als in den letzten Takten Beethovens Engel gestählt und geharnischt aufstand wie ein Unüberwindlicher, erst jetzt rannen dem Manne an der Wand die Tränen übers Gesicht. Er drückte sich noch mehr in die Ecke und zeigte sich erst wieder vor Lotte, als der starke Beifall der Künstlerin ebenso die Anerkennung für ihre Kunst als den Dank dafür aussprach, daß das Konzert nun zu Ende war.
Lotte wußte, daß sie in ihrem Leben noch nie so gespielt hatte wie heute abend, und als Emil festen Schritts kam und sich über ihre Hand beugte, da konnte sie den Jubel über ihren Sieg kaum in sich behalten. Sie sah Emil nur noch leuchtender und drohender zugleich als vor dem Spiele an.
Dann kam der Pfarrer, der Lehrer, der Grenzinspektor und der zufällig gefundene Cellist und drückten in teils wohlgewählten, teils schlecht gesetzten Worten der Kollegin des Abends ihre höchste Anerkennung aus. Während dessen erfüllte ein erlösendes Stuhlrücken den kleinen Saal. Alles atmete auf, und noch schwebten die letzten Akkorde der Appassionata zwischen den Girlanden hin, als mit seiner großen Handharmonika der Sepperl sich durch die Türe drückte. Er grinste über das ganze Gesicht und wurde bewillkommnet wie jemand, den man längst erwartet hatte.
Der Sepperl, der Hausknecht in der »Gemse«, hielt es für eine seiner Lebensaufgaben, alle Menschen, die die Handharmonika nicht zu den ernsten Musikinstrumenten rechneten, von diesem großen Irrtum zu bekehren.
Als der Langerwartete mit den kleinen, freundlichen Augen und der keck in die Lüfte stehenden Stumpfnase auf einem Stuhl an der Wand Platz genommen hatte, fuhr er zuerst mit dem Handrücken über den Mund, nahm dann sein Instrument liebevoll an sich, neigte den Kopf ein wenig auf die Seite und präludierte eine Perlenreihe von Tönen herunter. Als das Instrument nach Wunsch seinem Willen gehorchte, fing er an mit einem feinen Wiener Walzer, währenddessen die letzten Stühle aus dem Weg geräumt wurden. Bald wiegten sich die Paare unter den leichten Tannengirlanden des Sälchens. Die Baßregister der Handharmonika brummten eine handfeste Begleitung, während die hohen Töne jauchzten und mit so viel Herz und Gemüt, als das Instrument eben in sich hatte, aus dem langen Balg heraussprangen. Der Sepperl geriet immer mehr in die Gewalt der Frau Musika und mit ihm die Tanzenden. Selig und leise wiegte sich sein Oberkörper hin und her, und unter den Tänzern schluchzte und jauchzte, wiegte und wogte es, und der Fußboden war ganz elektrisch von dem Schleifen der vereinigten Fußpaare.
Alles stand schon nach einer Viertelstunde unter dem Bann von Sepperls Handharmonika. Nur Lotte und Emil saßen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, in einer stummen, großen Einigung der Seelen, die Beethovens dämonische Gewalten um sie geschlungen hatten. Wie zwei Menschen aus einer anderen Welt saßen sie abseits auf ihren Stühlen beim Klavier und ihnen gerade gegenüber im Büfett Marianne, ebenso stumm, aber wie ein Mensch aus dieser Welt, der jene in sprachlosem Staunen erkannt hatte.
Und während sie so saß, nahte ganz leise und unauffällig der Achleitner, bestellte ein Bier und sagte dann gut und ernst und ohne daß es jemand hörte:
»Hab ich dir's nit g'sagt, Marianderl?«