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Als Emil Himmelheber aus dem Münsterportal getreten war und den Weg nach dem Schloßberg zu einschlug, tobte der Frühlingssturm, der ihm oben auf dem Turm Haare und Kleider zerwühlt hatte, nun in ihm selbst.
Jetzt nur keine Menschen! – das war sein einziger Gedanke, und er schritt mit gesenktem Kopf sicher wie ein Schlafwandler das schmale Zickzacksträßchen zwischen Weinbergen, Gärten und Wald hinauf, bis er oben auf der Fahrstraße stand.
Was war's, daß er auf einmal die Welt schöner, größer und weiter sah? Daß es ihn wie eine unbezähmbare Lust befiel, sich an einem der Bäume am Weg zu versuchen, ihn auszureißen und weit über die Dächer und Türme der Stadt hinwegzuschmeißen? Eine süße Wut und eine schmerzhafte Seligkeit drängten sich in seiner Brust und suchten Dinge, an denen sie sich austoben konnten.
So stieg er hinauf auf den breiten Bergweg, bis er an das Türchen eines hölzernen Gartenhags kam. Dort machte er halt, holte hinter einem Pfosten einen großen rostigen Schlüssel hervor und trat in einen kleinen, steil nach der Stadt zu abfallenden Baumgarten ein, unter dessen Zweigdach ein altes, ziemlich großes massives Gartenhaus stand. Aus einem zweiten Versteck holte er einen zweiten Schlüssel, öffnete das Gartenhaus, trat in das einzige Zimmer und stieß die mit Spinnweb verhängten Fenster und Läden auf, die gerade hinab auf das Dächergewirr der Stadt gingen.
Dieser schmale Streifen Erde zwischen Weingärten und Wald war seine Zuflucht in allen Nöten des Lebens gewesen, und die Mutter hatte manchen schweren Kampf mit dem verstorbenen Manne geführt um das großväterliche Erbstück, das inmitten eines Komplexes von teurem Villenbauland lag, dem Sohn zu erhalten. Dort hatte sich Emil schon als Gymnasiast von den Lasten seiner Bildung und Erziehung erholt. Dort durften die Büsche ohne Furcht vor der Gartenschere wachsen, die Ranken sich schlingen und der Efeu spinnen, wie sie wollten, wenn sie es nur nicht gar zu wild trieben. In dem Gartenhaus hatte er schon tage- und wochenlang gewohnt. Das war sein Tirol, seine Schweiz, seine Nordsee, wenn die Schulkameraden dahin verreisten. Dort war er ganze Sommernächte lang zwischen blühenden Rosenbüschen gelegen und hatte mit einem kleinen Fernrohr hinüber nach den anderen im Äther schwimmenden Welten geschaut. Dort kehrte er, wenn er sich von den unvermeidlichen Streitereien mit der geliebten Mutter erholen wollte, zur großen Mutter Erde zurück, arbeitete mit Schaufel und Rechen, mit Okuliermesser und Baumschere und auch mit Papier, Tinte und Feder.
Emil nahm aus einem ungehobelten Schrank an der Wand des Gartenhauses sein altes Fernrohr und sah hinab auf die Stadt. Gerade unter seinem einsamen Zufluchtsort lag der Stadtgarten, in dem eine Musikkapelle spielte. Der Frühling hatte die Bürgerschaft, die jungen Mädchen und die Studenten gelockt. Da segelten sie alle, in neuen Sommerkleidern, die Professoren- und Geheimratsgattinnen, da bummelten die Scharen von Studenten und kicherten die Herden heiratsfähiger Töchter; da gingen auch manche seiner Kollegen, die es vor Neid nie zur wahren Kollegialität mit ihm hatten kommen lassen; da wiegte sich in prallen Hüften so manche reiche Tochter, die seine Mutter ihm im Geist schon anverlobt hatte.
Emil seufzte wie ein Befreiter laut auf, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und sagte nichts als: »Gott sei Dank!«
Dann nahm er den kunstreich aus ungeschälten Eschenstäben von ihm selber angefertigten Faulenzerstuhl aus der Gartenstube und stellte ihn unter die Akazien, in denen es schon leise anfing zu treiben und zu duften. Er setzte sich in den Stuhl, und sein Gehirn fing an zu arbeiten.
Sein Entschluß war bald gefaßt. Er würde auf der Universitätsbibliothek alles zusammensuchen, was es über die Geschichte und den Bau des Münsters von Rheineck gab, und dann, beladen mit dem ganzen Wissen, hinauffahren, sich beim Pfarrer Feuerstein vorstellen und ihm in einer Stunde beweisen, wie unentbehrlich seine, des Privatdozenten Emil Himmelheber, Kenntnisse bei der geplanten Münsterrestauration von Rheineck seien. Das war ganz einfach.
So saß er und baute Münster und Luftschlösser. In den Gärten unter ihm schimmerte es schon leicht violett im Laub der Syringenbüsche, von langsam aufbrechenden Blütentrauben. Der Bergwald hinter Emils Einsiedelei türmte sich in farbigem Baumgewirr lichtgrün und hellbraun hinauf bis zum Gipfel, und anstatt der Musikanten im Stadtgarten, die ihre Instrumente zusammengepackt hatten und heimgegangen waren, musizierten die Amseln in den Gärten. Ihre Kantilenen übertönte aber auf einmal ein schweres Summen wie von nahenden Bienenschwärmen, das immer lauter und immer dröhnender wurde. Die warme Frühlingsluft zitterte unter dem Gesang aller Glocken im Münsterturm, die den morgigen Sonntag einläuteten, und wie ein duftiges Nebelbild tauchte noch einmal die sanfte Gestalt Annas vor seinen Augen auf.
Da erhob er sich rasch, nahm den nächsten Weg hinunter nach der Universitätsbibliothek unter die Füße und langte noch vor Einbruch der Nacht, beladen mit dickleibigen Büchern, zu Hause an, wo die Mutter ihn so freundlich empfing, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen sei. Die ganze Nacht und den ganzen Sonntag verbrachte Emil über den Werken, die von des Rheineckschen Münsters Bau und Geschichte berichteten, und fuhr am Montag mit einem der ersten Züge hinauf nach Rheineck selbst.
Hoch über dem Fluß hinter dem zweitürmigen Münster schaute die kühle Fassade eines hohen, an den Fenstern der unteren Stockwerke mit ausgebauchten Gittern versehenen Patrizierhauses auf einen leeren, nüchternen Platz. Ein messingener Türklopfer hing an der schweren Haustüre, und als Emil Himmelheber drei wuchtige Schläge mit ihm gegen die Türe führte, öffnete ihm eine alte Magd und führte ihn durch einen hallenden, dunklen Hausgang in ein großes Gemach, das von dem Geruch vieler Polstermöbel erfüllt war. An den Wänden hingen mit Silberdruck auf schwarz poliertem Holz fromme Verse aus der Bibel, und in einem großen Glas führten einige Goldfische ein freudloses Dasein.
Nach etwa fünf Minuten trat Frau Pfarrer Feuerstein in der ganzen Wucht ihrer hausfraulichen Würde ein, und Emil stellte sich vor.
»Sie sind mir bekannt durch ihren Aufsatz in der ›Hochwacht‹,« sagte Frau Feuerstein in einem für Emil nicht gerade ermutigenden Ton.
Emil fragte nach dem Münsterpfarrer und sprach von seinem Interesse für die Renovierung des Rheinecker Münsters.
»Ich bin zurzeit ganz allein, Herr Himmelheber, mein Mann ist gegenwärtig auf unserem Landhaus, und meine einzige Tochter ist den ganzen Sommer über zur Erholung verreist.«
So sprach Frau Pfarrer Feuerstein, und die Art, wie sie sprach, brachte eine solche Distanz zwischen sich und den Besuch, daß Emil davon absah, zu fragen, wo sich die Tochter der Frau Pfarrer erholte, und mit einer kurzen Entschuldigung für die Störung sich wieder empfahl. Nicht ohne einige Unbehaglichkeit und leise Beschämung über diesen wirklich nicht erwarteten Ausgang seines ersten Ansturms fuhr er nach Hause zurück, packte dort in aller Eile seinen Koffer und nahm den nächsten Schnellzug nach München.
Er hatte jetzt nur ein Bedürfnis, allein und unerkannt unter anderen Menschen zu sein. Die dunkeln, starken Mächte, welche Menschen und Dinge zusammenweben und wieder trennen und wieder zusammenweben, hatten Emil Himmelheber in ihre stillen, festen Hände genommen und ihn durch eine weiche Wucht innerer Vorgänge aus seinem bisherigen Leben hinausgeführt. Auf der Reise waren leise Zweifel in ihm aufgetaucht, ob seine Fahrt ins Pfarrhaus von Rheineck nicht ein knabenhaftes Abenteuer war, und Bedenken darüber, ob eine Frau, seine Frau, die unruhige Leere seines Innern ausfüllen würde, bemächtigte sich seiner mehr und mehr. Dem Geheimnis der Welt und dem Rätsel seines eigenen Daseins auf die Spur zu kommen, schien ihm auf einmal der Mühe noch mehr wert zu sein, als auf mißlungenen Abenteuern seinem Weib nachzuspüren. Zu den Quellen selbst wollte er jetzt steigen, irgendwo in einem schönen Winkel der Welt sich die Ehrenzeichen einer ernsthaften Berührung mit dem Erdboden, Schwielen an den Händen, erwerben und seinen Sinn und seine Seele durch das Handhaben von Karst und Haue, von Pflugschar und Egge den stillen Gewalten des Himmels und der Erde gefügig machen, die sich ihm durch Sonnenglanz und Sternenschimmer in Erdgeruch und Kräuterduft schon offenbaren würden. Das Bauernblut seiner Großeltern fing an in seinen Adern zu kreisen, und nach einigen Tagen des Lebens mit Freunden und Bekannten aus Münchener Künstler- und Gelehrtenkreisen machte er sich eines schönen Morgens in seinem schlechtesten Wanderanzug auf den Weg über die bayrische Hochebene gegen Österreich zu.
Bei einem Gärtner in Linz an der Donau arbeitete er vierzehn Tage als Gehilfe. Er wäre gern länger geblieben, wie auch der Gärtnermeister nicht ungern von den Kenntnissen seines seltsamen Gesellen in der Blumenzucht profitiert hätte; aber die Neigung der Gärtnersfrau nahte sich Emil, wie schon manchmal in seinem Leben, als ein sanftes Schicksal, das ihn weitertrieb. Aber er zog dennoch mit einem reichen Gewinn von dannen. Er hatte wieder das Geheimnis der friedlich lächelnden und königlich ruhigen Gesichter der Handwerker und Bauern entdeckt. Die saßen an den Samstagabenden oder an den Sonntagnachmittagen auf den Bänken vor ihren Häusern und schauten mit hellen Augen in die Welt hinein, welche ihnen weder so hart noch so rätselhaft vorkam wie den Städtern. Von Linz nach Wien fuhr er auf einem Floß, und da er sich beim Sperren, Anlegen und bei den sonstigen Hantierungen auf dem primitiven Fahrzeug geschickt und stark erwies, so konnten die Flößer den neuen Gehilfen nicht genug loben. Abends ruhte er mit den rauhen Gesellen auf den Haufen der in große Ringe geschlungenen Floßweiden aus und erwies sich bei den Erzählungen der bärtigen Halbriesen als ein so aufmerksamer Zuhörer, wie sie schon lange keinen mehr gehabt hatten. In Wien trieb er sich schauend und studierend acht Tage lang im Prater, in den Galerien und Cafés herum und wanderte dann wieder westwärts, bis er eines schönen Tages etwas müde in einem behäbigen Städtchen am Inn vor der Wahl stand, wieder bei einem Gärtner einzutreten oder droben unter den lichten Gipfeln des Vorarlbergs sich vom langen Wandern zu erholen.
Nach einer schlecht durchschlafenen Nacht in einer geringen Herberge des Städtchens fand er am anderen Morgen eine tief eingerissene Schlucht, wo ein weiß schäumender Fluß in schwarzen Felsenketten tobte. Diesem Fluß entgegen stieg er unter wilden, von feuchtem Erdgeruch und herben Pflanzendüften erfüllten Laubgängen, bis er die grüne, weite Schale eines lieblichen Alpentales vor sich sah, in dem unter breitästigen Bäumen braune Holzhütten auf blühenden Matten so sicher und behaglich ruhten, als ob ihnen und den Menschen, die sie bargen, nichts Übles auf der Welt geschehen könnte. In der Ferne rang sich's von allen Seiten empor von lichten, perlgrauen, manchmal auch leicht rot und blau durchbänderten Felswänden, an denen sich wie weiße Girlanden Schneestreifen von Gipfel zu Gipfel schwangen. Und aus den schwachleuchtenden Eisschalen sanken die Wasserschleier der leise singenden Gletscherbäche herab.
Das war das Tal seiner Sehnsucht. Das wußte Emil gleich, als er aus der kühlen Schlucht trat und im Maienglanz das schöne Bild des Hochtals vor sich sah, dessen drohende Felswände gemildert erschienen durch einen Wald uralter Bäume und durch ein kleines Dorf mit einer heimelig dreinschauenden Kirche. Er schritt rasch auf das Dorf zu, las an einem Wegweiser den Namen Brand, ging an den wenigen zum Teil noch geschlossenen Hotel- und Pensionsbauten vorüber und mietete bei einem Schuhmacher in einem fröhlichen Häuslein für vier Wochen ein großes mit Arvenholz getäfeltes Zimmer. Am gleichen Abend schrieb er der Mutter, die er während der ganzen Wochen ebenso wie alle Freunde und Bekannte ohne Nachricht von sich gelassen, den ersten Brief. Nach vier Tagen hatte er mit einem Koffer voll frischer Wäsche und Kleider auch seinen treuen Eispickel und das Gletscherseil, dazu ein überschwengliches, von keinem Vorwurf über die rasche Abreise getrübtes Schreiben und zum Überfluß dazu noch zwei fünffach in Papier gewickelte Hundertmarkscheine.