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Der Schnellzug donnerte an dem kleinen Bahnwarthaus vorbei, dessen backsteinene Eckigkeit von Obstbäumen und Beerbüschen gerade noch so weit gedeckt wurde, daß es nicht häßlich abstach von den schönen Bauernhäusern, die mit ihren weichen Strohdächern behäbig in den Matten auf der andern Seite des Eisenbahngleises lagen. Vor der geschlossenen Barriere stand eine kleine Frau und hielt als Zeichen ihres Amtes eine Fahne in einem schwarzen Überzug aus Wachstuch im Arm. Die spaßige Ehrerbietung, die sich auf ihrem gutmütigen Gesicht malte, als das eiserne Ungeheuer an ihr vorüberbrauste, wich auf einmal einer neugierigen Spannung, wie wenn sie in einem der vorübergleitenden Wagen etwas Besonderes gesehen hätte.
Rasch öffnete sie die Barriere, stellte ihre Fahne an die Hauswand und rief zum offenen Fenster hinein:
»Du, Hans, ich glaub, 's Pfarrers Bienele ist gerade vorbeig'fahren.«
Im offenen Fensterkreuz saß ein junger Mensch. Sein über die Jahre ernstes Profil, das unter den dunkeln, über Stirn und Schläfen hängenden Haaren heraustrat, erschien in dem Licht eines weißwolkigen Himmels in seiner ganzen leidenden Magerkeit. Er wandte sich langsam der Mutter zu, und eine volltönende tiefe Stimme, wie man sie manchmal bei jungen Leuten gegen die Zwanziger trifft, sagte mit einer seltsamen Mischung von Neugierde und Gleichgültigkeit:
»So–o?!«
Das erste o des Wörtchens klang einige Töne höher als das zweite, und was an schmerzhafter Resignation und verstelltem Leichtnehmen in die drei Buchstaben hineingepreßt werden konnte, das lag darin.
Die Mutter schaute den Sohn nur still und verwundert an. Dann ging sie um die Hausecke und erzählte den Hühnern, die an der Stiege auf Futter warteten, sie würden gleich etwas bekommen. Im Garten holte sie einige Salatstöcke und brachte sie in die Küche. Von der Wand nahm sie ein blechernes Becken und trug, nachdem sie zuvor einige Hände voll Futter zum Küchenfenster hinausgeworfen hatte, alles in die Wohnstube.
Als sie in die Stube trat, die von einem kaum merklichen Duft von Karbol und Jodoform durchzogen war, klappte der Sohn das Buch zu, legte es aufs Fensterbrett und meinte, immer lesen werde mit der Zeit auch langweilig; er wolle lieber der Mutter beim Salatputzen helfen. Damit griff er nach zwei hinter seinem Stuhl an der Wand lehnenden Krücken, erhob sich in seiner ganzen hageren Länge und war mit einem einzigen großen Satz der vorangestellten Hölzer, denen er sein einziges Bein nachzog, bei der Mutter am Tisch. Das zweite, leere Hosenbein war in der Kniegegend gefaltet, nach oben geschlagen und mit einer großen Stecknadel an der Hüfte befestigt, als wollte der junge Mensch sich gegen den Verdacht, das fehlende Bein vorzutäuschen, mit grimmiger Sachlichkeit von vornherein wehren.
Hans Amrhein war nicht das Kind der kleinen Bauernfrau, die für ihren gerade auf dem Feld arbeitenden Mann den Dienst versehen hatte. Als winziges Menschlein hatte das kinderlose Bahnwartspaar ihn von einer ledigen Schwester des Bahnwarts angenommen und mit der ehrlichen Liebe zweier einfacher, tüchtiger Leute umgeben. So war er bis zum achten Jahr froh herangewachsen, als ihn auf einmal eine böse Krankheit anfiel. Ein eiterndes Geschwür am Knie, das nicht mehr heilen wollte, legte ihn auf zwei lange Jahre ins Bett. Aber als er zum erstenmal wieder mit einem Stock und einem steifen Bein in die Schule ging, da wußte er trotz seiner langen Krankenzeit nicht nur ebensoviel als die Buben, die keinen Tag in der Schule gefehlt hatten, sondern er brachte dem Lehrer noch einige Hefte voller Zeichnungen mit, durch die er die Einsamkeit seines Krankenlagers verschönt hatte. Tiere, Bäume, Menschen und Wolken, so wie er sie zum Fenster der Wohnstube hinaus hatte sehen können.
Einige Zeit, nachdem er den Lehrer mit seinen vollgezeichneten alten Schreibheften überrascht hatte, war eines Tages ein Wagen vors Bahnwartshaus gefahren und daraus ein großer Mann mit schwarzem Bart und breitem Filzhut gestiegen, der sagte, er sei der Pfarrer Feuerstein vom Münster in der Stadt und habe gehört, was der Bub, der Hans, schön zeichnen könne, und er möchte auch wissen, ob es ihm jetzt besser gehe.
Von jener Stunde an war ein glücklicher Wandel in Hansens Leben gekommen. Er brauchte nicht mehr in die alten verschriebenen Hefte zu zeichnen, sondern hatte Skizzenbücher, große und kleine, solche mit weißem und andere mit farbigem Papier, Bleistifte und Kohlen und Farben und Pinsel in Hülle und Fülle, und unter den glänzenden Augen von Vater und Mutter ließ der Hans auf dem Papier eine ganze Welt von Kühen und Bäumen und Bächen und Vögeln entstehen. Am allerschönsten konnte er aber immer den Himmel malen mit großen weißen Wolkenballen daran.
Im Dorf sagten die Leute schon, der Hans würde ein ganz berühmter Kunstmaler werden, aber das Schicksal war anderer Meinung. Das Übel, das dem Hans das Bein steif gemacht hatte, befiel ihn unversehens am rechten Handgelenk, und gerade am elften Geburtstag brachte der Pfarrer Feuerstein den Hans in die Klinik. Als er nach ein paar Wochen wieder zurückkam, da waren mit dem Gelenk auch drei Finger der rechten Hand steif.
Aber der Hans ergab sich nicht, sondern fing an mit der linken Hand zu schreiben und zu zeichnen, und es ging bald noch besser als früher. Er besuchte vom Herbst des Unglücksjahres an das Gymnasium in der Stadt, und der Pfarrer Feuerstein vereinigte seinen guten tapferen Willen mit der unerschrockenen Zähigkeit, mit der Hans sich entschlossen hatte, sein junges Leben und das Glück seines werdenden Künstlertums dem Tod so teuer als möglich zu verkaufen.
Aber der Tod hatte gar keine so große Eile. Er belagerte des heranwachsenden Jünglings Körper und Seele, von der er wohl wußte, daß sie nicht im Sturm zu nehmen sei, mit listigem Geschick und böser Ausdauer und zog seine Kreise immer enger um ihn. Als Hans in die Obersekunda kam, brach die alte Wunde am Knie wieder auf, und um sein Leben zu retten, erklärte er sich im Spital für die Zukunft mit einem Bein und zwei Krücken zufrieden.
So war er siebzehn Jahre alt geworden und hatte sich schon an eine kühne und verächtliche Betrachtung des Lebens und des Todes gewöhnt. Da kam ein Schein in das kleine Bahnwartshaus, der seine Jünglingsjahre in neuem Glanz aufleuchten ließ. Der Pfarrer Feuerstein hatte bei einem Besuch seine einzige Tochter mitgebracht. In der Nacht darauf schlief der Hans erst gegen Morgen ein, und als er am Morgen gerade noch mit knapper Not den Zug in die Schule erreicht hatte, fand die Mutter, als sie das kleine Zimmerchen zurecht machte, ein Blatt graues Zeichenpapier, darauf der Hans mit Bleistift des Pfarrers Tochter gezeichnet und mit Wasserfarben leicht getönt hatte. In den Monaten, die nun folgten, wurden die Professoren am Gymnasium mehr betreten von Hans zerstreut genialem Wesen und dem Rückgang seiner Leistungen in der Klasse; aber wenn sie den Schwarm von Liedern gekannt hätten, der aus des verkrüppelten Jünglings reinem Herzen aufstieg wie ein Flug weißer Tauben, dann hätten so manche begriffen, was ihnen in der Enge des Klassenzimmers nicht aufgehen wollte.
Sabine war, bevor sie es hindern konnte, in die Glut hineingerissen worden, und eine unselige Seligkeit zwischen Schwestern- und Frauenliebe hatte ihr Herz in helle Höhen gehoben, aber auch in dunkle Abgründe gedrückt, hatte es gestärkt und zermürbt und ihr Pflichten und Nöte auferlegt, deren einziger Mitwisser der Vater war, deren Geheimhaltung die spürsinnige Mutter aber noch mehr gegen die schweigsame Tochter aufbrachte.
Hans ging mit einer beängstigenden Sicherheit seinen Liebesweg und wuchs in diesem Hochschwung aller Seelenkräfte zu einer seine Krüppelhaftigkeit wie einen wesenlosen Schein hinter sich lassenden frühen Jünglingsreife empor. Seine körperliche Unzulänglichkeit übersah Hans mit blinder Gewalttätigkeit, und wenn er bei gelegentlichen Besuchen des Pfarrers einen Spaziergang mit Sabine durch die Felder machte, während Josua Feuerstein mit den Bahnwartsleuten plaudernd auf der Bank des Häuschens saß, so lag in der Art, wie er im Gehen die Krücken handhabte und bei hohlem Kreuz und aufrechtem Kopf sich ihrer mit einer gewissen spielerischen Großzügigkeit bediente, etwas von dem Ehrfurchtgebietenden, das von aller inneren Überlegenheit über ein schweres Schicksal wie ein Hauch würdigsten Menschentums strahlt.
Aber in den letzten Monaten, nachdem auch das zweite Bein zu kränkeln anfing und Hans unter Schmerzen wochenlang zu Hause bleiben mußte, da ergriff eine lang unterdrückte Rebellion Besitz von Sabinens Gemüt. Dieser Aufruhr gegen die nahende Gefahr, sich zerrieben zu sehen, in fruchtlosen Kämpfen mit einer verständnislosen Mutter und einem vom Schicksal gezeichneten Jüngling, klärte sich, ohne daß Sabine sich des innern Vorgangs bewußt wurde, zu einem harten Entschluß, nachdem ihr in Heitersberg der Mann entgegengetreten war, dessen flüchtige Erscheinung sie als ein augenblickliches Auflösen aller ihrer Gebundenheiten empfunden hatte, und dessen Bild nicht mehr aus ihrem Sinn verschwinden wollte. Als sie nach Schloß Brunn abreiste, erhellte nicht nur die Zuversicht, eine Lösung aus dem spannenden Verhältnis mit der Mutter zu finden, ihr Herz, sondern auch die Hoffnung, zu einem klaren Entschluß in ihrer hoffnungslosen schwärmerischen Neigung für Hans Amrhein zu gelangen.
Hans hatte schon am Morgen einen kleinen Brief von Sabine bekommen, den ihm der Briefträger durchs Fenster gestreckt, während die Mutter im Stall war. Sabine teilte ihm in dem Schreiben in Worten voller Schonung ihren Entschluß mit, einmal auf einige Wochen alle Menschen die sie liebe, und sogar ihn, zu meiden, um zur inneren Ruhe zu kommen, deren sie so sehr bedürfe.
Mit diesem Brief brach der wahre Ernst der Lage sich Bahn in Hansens Seele, so wie eine lang zurückgehaltene Bestie durch die Stäbe ihres Käfigs bricht. Er erschrak zwar nicht vor der Bestie der Wirklichkeit, denn er hatte den Absturz aus seinem Höhenflug schon hinter sich und wußte seit einigen Wochen, was kommen würde. Aber als es kam, konnte er sich doch nicht einer müden Erbitterung über alle diese Dinge dieser Welt erwehren, und als ihm zum Überfluß die Mutter in ihrer Harmlosigkeit noch sagte, sie glaube, Sabine sei eben vorübergefahren, da hätte er laut aufbrüllen mögen; nicht nur über den Verlust Sabinens, an dem er nicht mehr zweifelte, sondern über ihre freie Möglichkeit, der Härte der Geschehnisse auf ein Schloß zu entfliehen, während er sich im Bahnwartshaus die Zähne an seinem Schicksal zerbeißen konnte.
Aber als die Mutter hereinkam, hatte er getan, als ob er lese, und nachdem der Salat geputzt war, ging er allein hinauf in sein kleines Zimmer.
Hans war, wie viele körperlich Verkümmerte, von einer peinlichen Sauberkeit in allen äußeren Dingen. Auch sein Zimmerchen mit dem in die grünen Zweige der Obstbäume gehenden Giebelfenster war in all seiner Enge erfüllt von einer musterhaften Ordnung, die um so angenehmer wirkte, als es an den Wänden nicht an schönen Bildern und in einer Ecke nicht an einem behaglichen alten Ruhebett, einem Geschenk des Pfarrers fehlte. Auf einem Büchergestell standen viele sauber gebundene Bücher, und das lange Feldbett war durch einen geblumten Kattunvorhang den Blicken entzogen. Von dem üblichen Durcheinander in den Stuben künstlerisch veranlagter Studenten war in dem kleinen Raum ebensowenig zu verspüren, wie von der schnurgeraden Sauberkeit und Nüchternheit eines pedantischen und immer nur auf dem ersten Platz sitzenden Gymnasiasten.
Hans griff nach einem Bändchen seiner Bibliothek. Es war Spinozas Ethik, und er wollte sich gerade an dem verborgenen Leuchten ein wenig wärmen, das durch die geometrisch kühlen Sätze des großen Weisen scheint. Da fiel sein Blick zum Fenster hinaus, und er sah durch die Bäume zwei Männer auf der Straße gegen das Haus zukommen. Der eine in Hemd und Hose, einem alten Strohhut auf dem regelmäßigen sonnenverbrannten Gesicht und einer Haue über der Schulter war sein Vater, der andere der Pfarrer Feuerstein.
Was ist des Menschen Herz? Ein zaghaft oder störrisch Ding. Und so ist es nicht zu verwundern, daß Hans einen Augenblick lang von etwas wie Haß erfaßt wurde, als er den Vater Sabinens kommen sah. Der kam zweifellos mit der besten Absicht, ihn zu trösten, aber ebenso sicher mit dem unfreiwilligen Beruf, ihn zu peinigen, seine Wunden von neuem aufzureißen und all das nur, weil er glaubte, ihm Bitterstes versüßen zu müssen. Dagegen bäumte sich sein ganzes Innerstes auf, und als er die Schritte der beiden unten im Hausgang hörte, blieb er das erste Mal ruhig am Tisch sitzen, und ging nicht hinunter, seinem alten Freund und Helfer entgegen.
Der Pfarrer Feuerstein hatte schon in manches Herzens stumme Qual hineingesehen, war mutig und aufrecht an Sterbebetten gestanden, um ihn herum der Jammer einer versinkenden Familie, und war auch schon dazu verdammt gewesen, zum Tode verurteilte Verbrecher mit dem Gedanken vertraut zu machen, es sei gut und gerecht, daß ihr letzter Gang der zum Schafott sei. Aber noch nie hatte ihn ein Gefühl so wirrer Feigheit gefaßt, wie diesmal, wo er dem Hans sanft beibringen sollte, daß er Sabinen für längere Zeit nicht mehr sehen würde.
Als Hans auf des Vaters Rufen nicht herabkam, ging der Pfarrer hinauf. Beim Eintreten in das kleine Zimmer wurde er mit einer merkwürdigen, fast feindseligen Kühle und Kürze empfangen. So redete er von allerhand, von dem Abitur, das Hans ganz gut auch nach den großen Ferien ablegen könne, wenn er wieder ganz hergestellt sei, von den Ehren, die ihm und der Pfarrei bei Gelegenheit seines Dienstjubiläums widerfahren seien, von der Reblaus, die man nun richtig wieder auch dieses Jahr in den Weinbergen habe, und von vielen anderen Dingen, nur nicht von Sabine und ihrer Abreise.
Und als er sah, wie Hans freundlich und entgegenkommender wurde, je mehr er sich in gleichgültige Dinge hineinredete, da merkte der Pfarrer Josua Feuerstein, daß er für heute dem Hans überhaupt nichts zu sagen habe. Und beim Abschiednehmen sah ihn Hans aus seinen tiefen kranken Augen so dankbar an, wie nur einmal im Leben.