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Wir verlassen auf einen Augenblick Fabian und seine beiden Gefährten auf dem Eiland, wo sie eine Zuflucht gesucht haben, um ein Wort über den Trupp der Abenteurer und über ihren Führer zu sagen.
Wir finden sie gegen das Ende ihres zehnten Tagemarsches wieder, nachdem vierzig der Ihrigen auf dem Weg den Indianern oder den Gefahren der Steppe zum Opfer gefallen waren. Obgleich aber diese Verminderung ihrer Anzahl sie geschwächt hatte, so war doch der Ausgang des Kampfes zwischen diesen Abenteurern und den Indianern, die stets bereit waren, den Einfall in ihr Gebiet zurückzuweisen, noch gar nicht vorauszusehen. Die Schlauheit beider Teile war gleich groß; dieselbe Gewohnheit, fast unsichtbaren Spuren zu folgen, fand sich auf beiden Seiten. Die Habgier der einen hielt der Wildheit der anderen das Gleichgewicht.
Nichtsdestoweniger war aber der Enthusiasmus nicht mehr so glühend als an dem Tag, wo sie unter freiem Himmel im Presidio von Tubac die Messe für den glücklichen Erfolg ihrer Expedition gehört hatten. Damals waren die Abenteurer mit triumphierendem Hurra aufgebrochen, unter dem Donner des Geschützes und unter dem Zuruf der Einwohner und der Garnison des Presidio.
Doch hatte Don Estévan, der die Gabe, alles vorauszusehen, empfangen zu haben schien, keine Vorsichtsmaßnahme unterlassen. Bis jetzt handelte auf solchen Expeditionen jeder Mann sozusagen für sich allein, indem er sich zu seiner Verteidigung nur auf seine Waffen und auf sein Pferd verließ. Der Spanier hatte diese Abenteurer diszipliniert und sie zum Gehorsam gegen ihn gezwungen; die Wagen, die er gekauft hatte, dienten als Transport- und Verteidigungsmittel. Geradeso marschierten einst die alten Völker des Nordens auf ihren räuberischen Einfällen in das mittägliche Europa. Don Estévan hatte diese Taktik aus den Vereinigten Staaten mitgebracht, wo die Bewohner dazu bestimmt zu sein scheinen, die Steppen des amerikanischen Festlands zu durchziehen, um sie zu bevölkern. Auch war unter der geschickten und kräftigen Leitung eines solchen Führers diese letzte Expedition weiter in die Steppe vorgedrungen als irgendeine vorher unternommene.
Die Verantwortlichkeit, die auf Don Estévan ruhte, den wir eben mit nachdenklicher Miene in das für ihn errichtete Zelt haben treten sehen, hätte allein schon hingereicht, seine Stirn mit Wolken zu bedecken; aber vielleicht dachte Don Estévan mehr an die Vergangenheit als an Gegenwart und Zukunft. Der Spanier hatte die Energie Fabians mit der Kleinmütigkeit des Senators Tragaduros vergleichen können; fortgerissen vom Lauf der Ereignisse, hatte er immer nur daran gedacht, seinen Neffen von seinem Weg fernzuhalten. Als er in dem Strudel verschwunden war, nachdem er eine schmähliche Drohung gegen den Bruder seines Vaters ausgestoßen hatte, hatte dieser plötzlich eine unermeßliche Leere in sich gefühlt.
Eine schlecht geheilte Wunde seines Herzens war wieder aufgebrochen. Er stand auf dem Gipfel weltlicher Größe, und doch fehlte ihm etwas. Was er auch getan hatte, um es sich zu verheimlichen – der Stolz des Geschlechts lebte in ihm wieder auf. Als sein Neffe tot war, hatte sich seiner ein lebhaftes Mitgefühl für den jungen Mann bemächtigt, der in seiner Glut und Unzähmbarkeit, geliebt von Doña Rosarita, vielleicht den Senator in der Ausführung seines kühnen Plans ersetzen konnte. Er bedauerte es, sich von den Ereignissen beherrschen zu lassen haben, und in dem Augenblick, als der letzte Mediana nach ihm vor seinen Augen verschwunden war, bedauerte sein Stolz den Erben seines Namens, den er so würdig gefunden hatte, ihn zu tragen. Nach ihm sollte niemand sein Andenken mit in die Zukunft nehmen. An dem Tag vor der Eroberung des Val d'Or, in dessen nächster Nähe er sich wußte und wodurch er eine Sprosse höher stieg, machte sich dieses Bedauern noch lebhafter geltend. So vermag der Ehrgeiz im Herzen nur eine weite Leere hervorzubringen, um eine andere auszufüllen.
Indes war dies nicht die einzige Sorge, die Antonio de Mediana beschäftigte. Die Abwesenheit Cuchillos war ebenfalls ein Gegenstand der Unruhe für ihn. Ein treuloser Gedanke, den er dem Scharfblick Don Antonios verheimlicht hatte, den aber dieser zu ahnen begann und der ihn ebenfalls nachdenklich machte, hatte den Banditen aus dem Lager geführt.
Cuchillo hatte einen beträchtlichen Vorsprung vor den Indianern gehabt. Solange er gesehen hatte, daß er weit vom Lager Don Antonios de Mediana entfernt war, hatte er alle Kräfte seines Pferdes in Anspruch genommen; aber sobald er durch die Kaktushecke und die Eisenholzgebüsche die Verschanzung seiner Gefährten erblickte, mäßigte er seinen Ritt, um nicht die Verfolgung, deren Gegenstand er war, zu entmutigen.
Die Entfernung vom Lager war noch groß genug, daß er von keiner Schildwache, die ringsumher aufgestellt waren, bemerkt werden konnte. Als er die Indianer, die ihm nachjagten, beim Anblick der Rauchsäule – eines sicheren Zeichens für die Gegenwart weißer Krieger ebenfalls ihre Pferde zurückhalten sah, hielt er ganz an. Es lag in seinem Plan, so spät wie möglich zu den Seinen zurückzukehren, um erst im letzten Augenblick Lärm zu machen. Er kannte die indianischen Bräuche hinreichend, um kaltblütig ein so gefährliches Spiel zu wagen. Er wußte, daß sie fast niemals angreifen, außer wenn sie an Zahl überlegen sind; daß, ehe sie sich zu einem Sturm des Lagers entschieden hätten, noch einige Stunden vergehen würden, und daß endlich die Indianer, die ihn verfolgten – zufrieden damit, die Spur ihrer Feinde wiedergefunden zu haben –, umkehren würden, um diese Nachricht ihren Gefährten zu überbringen.
Er hatte sich nicht getäuscht. Die roten Männer nahmen bald ihren Weg nach dem Dickicht zurück, in dem ihre Truppe lagerte.
Ganz bezaubert von dem Erfolg seiner List, legte sich der Bandit, nachdem er die Feinde hatte verschwinden sehen, hinter einer Erhöhung nieder und lauschte aufmerksam, stets bereit, seine Flucht fortzusetzen, sobald seine geübten Sinne ihm die Rückkehr der Gefahr anzeigen würden. Wenn er sein Lager nur wenige Minuten vor dem Kampf wieder erreichte, so hoffte er auch mitten in der Aufregung, die dem Kampf vorangehen mußte, den Fragen Don Antonios zu entgehen, dessen Scharfsinn er fürchtete.
Wir würden morgen unser sechzig sein zur Teilung dieser Schätze, dachte er bei sich, wenn ich nicht dafür gesorgt hätte, daß beim Anbruch des Tages die Zahl um ein gutes Viertel vermindert sein wird. Dann, wenn diese roten und die weißen Dummköpfe miteinander kämpfen, werde ich ...
Ein ferner Schall wie der einer abgeschossenen Büchse unterbrach plötzlich die Gedankenreihe Cuchillos. Dieser durch die Ferne gedämpfte Lärm schien aus nördlicher Richtung zu kommen. Wirklich kam er auch vom Fluß her, in dessen Mitte sich das Eiland befand, das Bois-Rosé und seine beiden Gefährten in Besitz genommen hatten.
Es ist doch sonderbar, daß ein solcher Ton von da unten herkommt, dachte Cuchillo bei sich, indem er nach Norden blickte, denn das Lager der Weißen ist im Osten und das der roten Krieger im Westen!
Ein zweiter Schuß ließ sich hören, dann, nach einem ziemlich langen Zwischenraum ein dritter, worauf endlich ein gut unterhaltenes Gewehrfeuer folgte. Einen Augenblick wurde Cuchillos Herz ganz kalt; er stellte sich vor, daß eine zweite zahlreiche Partie Weißer unabhängig von der Expedition, die er führte – sich der Schätze bemächtigen könnte, die der alleinige Gegenstand seiner Begierde waren. Dann fürchtete er auch, daß Don Antonio vielleicht eine Abteilung seiner eigenen Truppe vorausgesandt hatte, um das Val d'Or zu besetzen und sich darin zu befestigen. Aber ein kurzes Nachdenken zeigte ihm sehr bald die geringe Wahrscheinlichkeit seiner Befürchtungen. Eine Abteilung Weißer würde Spuren zurückgelassen haben, die er während der zwei Tage, an denen er die Ebene durchstreifte, hätte erblicken müssen; und außerdem war es nicht wahrscheinlich, daß Don Antonio es gewagt haben würde, seine Truppe durch Teilung zu schwächen. Cuchillo faßte darum wieder Mut, blieb hinter der Bodenerhöhung, die ihn und sein Pferd unsichtbar machte, und kam endlich zu dem Schluß, daß die Schüsse von einer Abteilung amerikanischer Jäger herrühren mußten, die die Grenze ihres Landes überschritten hätten und auf mexikanischem Gebiet mit den Apachen handgemein geworden wären. –
Wir wollen Cuchillo seinem Nachdenken überlassen, um – wie versprochen – in das Lager Don Antonios zurückzukehren, und der Ordnung folgen, die wir aufgestellt haben, indem wir den Anblick der Steppe und die Stellung der verschiedenen Personen, die sie belebten, aus der Vogelperspektive beschreiben.
Das Gewehrfeuer hatte sich den ganzen Nachmittag hindurch verlängert, und man hatte es im Lager gehört, wo es zu einer Menge von Vermutungen Veranlassung gegeben hatte. Der Abend war gekommen. Rote Wolken bezeichneten im Westen noch die Flammenspur der Sonne. Die Erde fing an, sich von der Frische der Nacht abzukühlen, und in dem Maße, als die letzten Streiflichter der untergehenden Sonne erbleichten, stieg der Mond immer glänzender empor, bis zu dem Augenblick, wo die Dämmerung verschwunden war und der helle Schein des Mondes plötzlich das Licht der Sonne ersetzte.
Das Lager bot im Mondschein einen malerischen Anblick dar. Auf dem Hügel, der das ganze Lager beherrschte, erhob sich, wie wir schon erwähnt haben, das Zelt des Führers der Expedition mit seinem azurenen Banner und seinen goldenen Sternen gleich dem Himmel über ihm. Ein schwaches Licht schimmerte durch die Leinwand des Zeltes und bewies, daß der Führer für alle wachte. Einige Feuer, deren Herd sich in Vertiefungen befand oder mit Steinen umgeben war, um den Schein der Glut, deren Glanz die Lagerstelle hätte verraten können, zu verdecken, verbreiteten auf der ebenen Erde einen rötlichen Widerschein.
Für den Fall eines nächtlichen Angriffs erhoben sich Haufen von Reisbündeln in gewissen Entfernungen, die sofort in Brand gesetzt werden konnten und Licht genug verbreiteten, um den Tag zu ersetzen. Von den Abenteurern lagen Gruppen auf dem Boden, andere waren mit der Bereitung des Abendessens beschäftigt; dazwischen standen Pferde und Lasttiere, die ihre Ration Mais aus leinen Krippen fraßen. Sorglosigkeit und Entschlossenheit las man im Mondlicht auf dem bronzenen Antlitz der Männer, was hinreichend bewies, daß sie sich in bezug auf die Sorge für ihre Verteidigung ganz auf die Wachsamkeit des Führers verließen, den sie gewählt hatten.
Am Fuß des Zeltes lag sorglos ein Mann auf der Erde wie eine Dogge, die bei ihrem Herrn wacht. An den langen Haaren, an der Gitarre, die neben der Büchse lag, an den Mantelresten, mit denen er sich umhüllte, konnte man leicht den Gambusino Oroche wiedererkennen. Seine Zeit schien durch die Betrachtung eines von Sternen funkelnden Himmels und durch die Unterhaltung eines am Fuß des Hügels brennenden und mit grünen Zweigen genährten Feuers in Anspruch genommen zu sein, von dem sich der Rauch in einer perpendikularen Säule erhob, die im Mondschein silbern glänzte.
Jenseits der Befestigung bleichten ebenfalls die Strahlen des Mondes die Ebene, wo die Kakteen und die Napals große Schatten warfen. Er ließ im Regenbogenglanz den Nebel erscheinen, der westlich vom Berg die Spitzen einer Bergkette am Horizont bedeckte. Endlich beleuchtete er auch hinter den Wagen die Schildwachen, die, die Büchse im Arm, mit spähenden Augen auf und ab gingen.
Unter den Männergruppen, die sich sehr nahe den Wagen gelagert hatten, finden wir Benito, den Diener Don Estévans, Baraja und Pedro Diaz wieder. Alle drei unterhielten sich leise.
»Don Benito«, fragte Baraja den alten Diener, »Ihr seid so geschickt, jedes Geräusch in der Steppe oder im Wald zu erklären; könntet Ihr uns wohl sagen, was die Flintenschüsse bedeuten, die wir den ganzen Nachmittag gehört haben?«
»Ich kenne die Sitten der Indianer nur wenig, indes ...«
»Laßt hören!« sagte Baraja. »Nur nichts Schreckenerregendes so absichtlich verschweigen, wie Ihr es in jener berüchtigten Nacht mit den Jaguaren so gut verstanden habt.«
»Indes«, fuhr der Diener fort, »bin ich in meiner Jugend ihr Gefangener gewesen, und wenn sie nicht etwa bei irgendeinem unglücklichen Gefangenen die Marter anwenden, die ich erduldet habe, so ahne ich nicht, was die Ursache dieses Gewehrfeuers, das wir gehört haben, sein könnte.«
»Glaubt Ihr denn, daß sie irgend jemand in diesen Steppen gefangengenommen haben?«
»Warum nicht?« antwortete der alte Hirt auf diese neue Frage Barajas. »Seit zwei Tagen ist unser Freund Cuchillo nicht zurückgekommen, und ich fürchte fast, daß diese Dämonen auf seine Kosten ihre Belustigungen vornehmen. Wenn es dieselbe Behandlung ist, die ich erduldet habe, so wolle Gott seine Seele annehmen!
» Aber von welcher Behandlung sprecht Ihr denn? Diese Marter muß doch nicht so schrecklich sein, da Ihr mit dem Leben davongekommen seid.«
»Glaubt Ihr? Gut; ich erkläre Euch, daß das Skalpieren, das Zerreißen des Körpers in Stücke, das Braten bei langsamem Feuer – daß alle Qualen, die sie erfinden, mit einem Wort nichts sind im Vergleich damit.«
»Demonio!« erwiderte Baraja. »Ich denke doch, daß die Indianer nur in der Aufregung ein Vergnügen daran finden, jemand so zu martern?«
»Das tun sie, wenn sie bei guter Laune sind; denn es ist sehr selten, daß sie nicht zufrieden wären, wenn sie einige Gefangene gemacht haben. Also – sollte das Unglück es wollen, daß Ihr in ihre Hände fielet, Freund Baraja, so bittet Gott, daß die Apachen an diesem Tag bei lustiger Laune sind, und Ihr werdet eine grausame Todesstrafe erdulden, aber doch wenigstens eine sehr kurze.«
»Fünf oder sechs Minuten, meine ich?«
»Fünf oder sechs Stunden – zuweilen auch länger –, aber ...«
Benito wurde durch die Ankunft Oroches unterbrochen.
»Senor Diaz«, sagte der letztere, »Don Estévan hält es für nötig, einen Augenblick mit Euch zu sprechen, und bittet Euch, zu ihm ins Zelt zu kommen.«
Diaz erhob sich, folgte Oroche und ließ Baraja und Benito in ihrer Unterhaltung fortfahren.
»Ich habe die besorgte Miene Don Estévans bemerkt«, sagte Benito. »Obgleich er niemals recht fröhlich gewesen ist seit der Abreise von der Hacienda – und besonders seit dem Augenblick, wo dieser junge Mann durch sein Pferd mit in den Waldstrom hinabgerissen wurde –, so ist er mir doch heute düsterer als gewöhnlich vorgekommen.« Baraja empfand bei dieser Gelegenheit einige Gewissensbisse, denn wenn man sich noch erinnert, was Pepe der Schläfer dem Kanadier erzählte, so war der Abenteurer einer von denen gewesen, die ihrerseits Feuer auf den Spanier und Fabian gegeben hatten. Er ließ also die Unterhaltung fallen, um sie an dem Punkt wiederaufzunehmen, wo sie unterbrochen war. Ihr sagtet also«, wiederholte er, »daß eine solche Marter fünf oder sechs Stunden dauere, zuweilen länger, aber ...«
»Aber niemals kürzer. Ihr werdet übrigens nach meiner Erzählung urteilen, daß eine sechsstündige Marter zuweilen besser ist als eine vierundzwanzigstündige, denn unter allen Todesarten ist die grausamste die, vor Furcht zu sterben.«
»Zum Teufel mit Euren Geschichten!« rief Baraja. »Ich weiß nicht, warum ich so wahnwitzig bin, Euch so zu befragen.«
»Es ist schrecklich, aber belehrend; und da Ihr jeden Augenblick den Indianern in die Hände fallen könnt, so ist es doch gut, zu wissen, welches Schicksal Euch in einem solchen Fall bevorstehen kann; es ist doch immer ein Trost in Ermangelung eines besseren.«
»So macht doch ein Ende!« sagte Baraja seufzend. »Ich sehe wohl, daß alles in allem das Gewerbe eines Goldsuchers ein verwünschtes Geschäft ist.«
»Ich habe immer«, fuhr der Erzähler fort, »mit Recht oder Unrecht gedacht, daß sich immer nur das ereignet, was sich ereignen muß, und daß man folglich über nichts in Schrecken zu geraten braucht. So sagte ich denn auch zu mir, als ich den Indianern in die Hände fiel, daß sie tun könnten, was ihnen beliebte; wenn ich nicht sterben sollte, so würde ich doch nicht sterben. Nun, die Indianer waren an diesem Tag in sehr mürrischer Laune, weil wir in einem Scharmützel nicht wenige Krieger getötet hatten. Sie beratschlagten anfangs – ich merkte es sehr gut an ihren Gebärden –, ob ich skalpiert, bei lebendigem Leibe erdrosselt oder in Stücke gehauen werden sollte. Endlich brachte ein Führer, dessen Aufregung außerordentlich war, seine Krieger dahin, daß man mich an einen Pfahl band, um ihnen als Zielpunkt in der Handhabung der Büchse zu dienen.
Sie hatten einen langen Tag vor sich, und ich sollte die Kosten ihres Vergnügens für einen ganzen Tag bezahlen. Ich hatte einige Worte aus ihrer Unterhaltung verstanden und dachte, weil ich gegen alle Gewohnheit weder skalpiert noch lebendig gebraten werden sollte, so könnte ich vielleicht allem anderen noch entgehen. Wirklich war ich vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne ein Zielpunkt für ihre Büchsen. Jeder Krieger trat vor, wenn die Reihe an ihn kam, zielte nach meinem Kopf und gab Feuer. Ich hielt so 284 Schüsse aus, nicht mehr und nicht weniger; ich zählte der Zerstreuung halber, denn die Zeit schien mir sehr lang.«
»Ich glaube es«, sagte Baraja im Ton der Überzeugung. »Aber Señor Benito, Ihr bindet uns etwas auf mit Euren 284 Büchsenschüssen!«
»Ich kann nicht einen einzigen ablassen. Ich habe Euch ja gesagt, daß die Indianer sehr aufgeregt waren, und um sich zu trösten, machten sie den Versuch, mich vor Furcht sterben zu lassen. Die schlechtesten Schützen, die mich sofort hätten töten können, schössen nur mit Pulver nach mir. Öfter als zweihundertmal fühlte ich, wie das pfeifende Blei meine Haarbüschel bewegte. Dann aber, als sie sahen, daß diese fürchterliche Angst mich nicht getötet hatte, banden sie mich los. Ich hatte zwölf Stunden am Pfahl gestanden und kann sagen, daß ich 284mal erschossen wurde. Glaubt Ihr noch«, schloß der Erzähler, »daß dies keine grausamere Behandlung gewesen ist als der wirkliche Tod und daß, wenn die Annäherung des einfachen Todes zuweilen eine solche Entmutigung und Angst bei dem Kühnsten hervorbringt, es nicht eine Höllenqual ist, seine Seele zwanzigmal in der Stunde Gott zu empfehlen? Das heißt, alle drei Minuten einmal, denn in jedem Augenblick glaubte ich, daß dieses barbarische Spiel zu Ende, jeder Schuß der letzte sein würde.« Die beiden Sprecher waren eine kurze Zeit schweigsam: Benito dachte an die Erinnerungen aus seiner Jugend und war in Nachdenken versunken; Baraja belauschte angestrengt sozusagen das Schweigen der Steppe, in der so fürchterliche Dramen aufgeführt wurden. Der Gedanke an eine schreckliche Todesmarter, die fünf bis sechs Stunden – zuweilen länger, niemals jedoch kürzer – dauern konnte; diese 284 Büchsenschüsse, von denen der alte Hirt auch nicht einen ablassen wollte – all dies verdüsterte die Gedanken Barajas. Und doch trieb ihn eine unbesiegbare Neugierde, gegen seinen Willen den Greis noch weiter zu befragen. »Ihr glaubt also«, sagte Baraja, das Wort wieder aufnehmend, »daß vielleicht einer der Unseren den Indianern zur Belustigung gedient hat?«
Cuchillo oder Gayferos, der Mann, den man zu seiner Suche ausgesandt hat; der eine oder der andere oder vielleicht alle beide!« antwortete Benito. »Und Gott gebe, daß sie die Kraft gehabt haben, unser Dasein an dieser Stelle nicht zu verraten!«
»Fürchtet Ihr das?« sagte Baraja.
»Diese Indianer sind teufelsmäßig neugierig, und sie haben Mittel, Euch Eure Geheimnisse zu entreißen, im Vergleich mit denen die der heiligen Inquisition nur Kinderspiele waren. Und obwohl sie dank der Geschicklichkeit Pedro Diaz' unsere Spur verloren haben, so kann doch ein unvorsichtiges Wort eines Gefangenen sie nach unserem Lager führen.«
»Was Ihr da sagt, ist fürchterlich!« murmelte Baraja. »Aber belehrend, wiederhole ich Euch. Ihr denkt doch noch an die Nacht mit den Jaguaren?«
»Wollte Gott, ich wäre noch da! Wir hatten es doch höchstens mit zwei Tieren zu tun; und hier mit wie vielen roten Dämonen? Man wagt gar nicht, es zu berechnen.«
»Kaum hundert«, erwiderte der alte Hirt phlegmatisch; »selten sind sie in größerer Zahl auf dem Marsch. Wohlan, um auf die Nacht an der Poza zurückzukommen; der Schrecken unserer Pferde machte Euch selbst Furcht, aber er belehrte Euch wenigstens über die Gefahr. Die Furcht abgerechnet, die ich nicht kenne, spiele ich für Euch die Rolle der Pferde, deren Instinkt ...« Der alte Vaquero unterbrach sich, um den Kopf rechts und links zu wenden. »... deren Instinkt sie niemals täuscht«, fuhr er fort. »Ei, seht doch, die Maultiere hören auf, ihren Mais zu fressen, und scheinen zu horchen.«
Baraja erbebte sichtlich.
»Seht dort das edle Schlachtroß von Pedro Diaz, wie es den Hals lang macht, als ob es die Gefahr wittere, wonach sein Herr und es selbst so begierig zu sein scheinen.«
»Nun, was beweist das?«
»Noch nichts; aber wenn diese Tiere, anstatt nur mit dem Fressen aufzuhören – oder wie jenes dort, anstatt die Nüstern zu öffnen und den Hals auszustrecken –, schaudern und dumpf schnauben, so will das sagen, daß die Indianer nicht fern sind. Die Pferde erkennen den Herrn in ihnen an! Denn es läßt sich nicht leugnen: Diese Dämonen allein haben den wilden und majestätischen Anblick der Könige der Schöpfung beibehalten.«
»Caramba!« sagte Baraja. »Wollt Ihr Loblieder auf die Indianer anstimmen, wie Ihr es bei den Jaguaren getan habt?«
»Warum nicht? Ich lasse meinen Feinden da Gerechtigkeit widerfahren, wo es nötig ist. Aber beruhigt Euch; die Maultiere fangen wieder an zu fressen, und Diaz' Pferd scheint falschen Lärm gemacht zu haben. Werfen wir einen Blick rings um das Lager!«
Mit diesen Worten erhob sich Benito, von Baraja gefolgt, den seine Erzählungen zugleich erschreckten und bezauberten; er schlüpfte unter die Wagen, um die schweigende Unermeßlichkeit, die sie umgab, zu befragen. Aber nichts ließ die Nähe einer Gefahr ahnen. Einer der auf Wache stehenden Reiter ging vorüber, die Büchse im Arm.
»Habt Ihr nichts gesehen, nichts gehört?« fragte der gewesene Hacendero.
»Ich habe nichts gesehen«, antwortete die Wache. »Nur habe ich das Wiehern eines Pferdes zu hören geglaubt; es kam aus einem jener kleinen Täler, die Ihr dort unten seht; aber ich werde mich ohne Zweifel getäuscht haben. Trotz alledem aber bin ich doch erstaunt, daß weder Cuchillo noch Gayferos zurückkehrt.«
Nach diesen Worten ging der Reiter wieder auf und ab, und die beiden Sprecher setzten sich wieder an den Platz, den sie eingenommen hatten.
»Es ist unklug«, fuhr Benito fort, »daß mitten unter allen Vorsichtsmaßnahmen, die Don Estévan de Arechiza stets beachtet hat, er diese Rauchsäule den ganzen Nachmittag hat unterhalten lassen. An einem heiteren Himmel wie diesem hier ist es ein Zeichen, das weithin sichtbar ist.«
»Ich gebe es zu«, erwiderte Baraja; »aber Ihr wißt, daß unser Führer Cuchillo notwendig ein Zeichen haben mußte, um sich zurechtfinden zu können. Die Menschlichkeit einerseits und unser persönlicher Vorteil andererseits geboten unserem Chef diese Vorkehrung, so gefährlich sie auch sein mag.«
»Die Menschlichkeit – ich sage nicht nein; aber unser persönlicher Vorteil! Was trifft den Reisenden, der des Nachts den Irrlichtern in die Sümpfe folgt? Er fällt in lockeren Schlamm und versinkt. Wohlan, unter uns gesagt, Cuchillo scheint mir seinem Gesicht nach einer jener Führer zu sein, der statt zu Goldminen nur in Sümpfe leitet.«
»Habt Ihr nichts von dem Gerücht gehört, das sich unter den Leuten unserer Expedition gebildet hat?«
»Welches? Daß diese Expedition nicht so aufs Geratewohl hin wie die frühere unternommen ist und daß Don Estévan in diesen Einöden das Dasein eines unermeßlichen Goldlagers kennt?«
»Ohne Zweifel kennt er dessen Dasein, denn ich will darauf wetten, daß dieses Gerücht begründet ist; aber er kennt die Lage nicht, und ich habe gute Gründe, zu glauben, daß Cuchillo in dieser Beziehung viel mehr weiß, als er sagen will, und daß sein Tod für uns ein unersetzlicher Verlust sein würde.«
»Das bezweifle ich«, erwiderte der alte Diener, den Kopf schüttelnd. »Das Gesicht Cuchillos ist eines von denen, in denen ein geübtes Auge sich nicht täuscht. Übrigens wünsche ich sehr, mich zu täuschen.«
»Bah! Ihr seht alles schwarz.«
»Ich muß Euch in der Tat vorkommen wie jene Vögel von böser Vorbedeutung, die nur traurige Kunde geben. Niemand fürchtet die Gefahr weniger als ich; und doch scheint es mir, als ob Gott mir einen geübteren Sinn, sie vorher zu ahnen, verliehen hätte. Ich weiß nicht, welche innere Stimme mir heute abend zuruft, mein Leben zu hüten; und warum, wenn wir es recht betrachten? Wer kann das hindern, was kommen soll? Ach, seht doch, diese Tiere hören abermals auf zu fressen, um zu horchen!«
»Wenn sie nur nicht noch anfangen zu schaudern«, sagte Baraja.
»Was ist dabei zu tun?« erwiderte der alte Hirt. »Was mich betrifft, so werde ich, wenn Ihr nichts dagegen habt, mich auf meinen Mantel legen und schlafen.« Und indem er die Tat den Worten folgen ließ, wickelte sich Benito in seine wollene Decke – ebenso, wie er sich in seinen Fatalismus einhüllte – und streckte sich lang aus, mit dem Kopf an einen Packsattel gelehnt, wie diese am Fuß der Einfriedung aufgehäuft lagen.
Aber Baraja war weit davon entfernt, ein Anhänger derselben Lehre wie der alte Hirt zu sein. Seine Einbildungskraft zeigte ihm tausend schreckliche Erscheinungen, die vor ihm aus der stets so feierlichen Dunkelheit der Steppe auftauchten. Er glaubte jeden Augenblick das Geheul der Indianer hören zu müssen, das die tiefe Stille unterbrach, in der sich Gefahren verbargen, von denen die kleinste das Haar auf dem Kopf sich sträuben ließ. Besonders in der Nacht hat auch der mutigste Mann solch schwache Augenblicke, und der ruinierte Hacendero war, ohne gerade einen für alle Fälle erprobten Mut zu haben, doch weit davon entfernt, ein Feigling zu sein. Er versuchte vergeblich, sich wie sein Gefährte in alles zu ergeben und ebenfalls einzuschlafen; aber er war noch zu sehr Neuling in dieser an Gefahren und Abenteuern reichen Laufbahn, um die philosophische Sorglosigkeit Benitos zu besitzen. Weit davon entfernt, wie dieser zu glauben, daß man einer unvermeidlichen Gefahr gegenüber nichts weiter tun könne, als den Kopf zu beugen, war der gewesene Hacendero vielmehr der Ansicht, das beste Mittel, sie zu vermeiden, sei das, ihr zu entfliehen.
Allein in diesen Einöden, die das Mondlicht wie einen See erstrahlen ließ, wo der Tod überall lauern konnte, wäre es ebenso gefährlich gewesen, aus dem Lager zu fliehen, als ein Schiff in der Gefahr zu verlassen, um sich in die unbekannten Tiefen des Ozeans, die der gierige Hai durchstreift, hineinzustürzen.
Nach einem langen Tagesmarsch schliefen alle Abenteurer lang ausgestreckt auf dem Sand; die Posten allein waren wach und ließen den Kies unter ihren Füßen erknirschen. Dieses von keinem anderen Geräusch unterbrochene Schweigen beruhigte endlich Baraja, als der Abendwind ihm noch den Schall einiger jener fernen Schüsse zutrug, die man während des Tages gehört hatte. Dieser Umstand widersprach den Behauptungen des alten Vaqueros in bezug auf die Marter von Gefangenen.
Baraja stieß den alten Diener mit dem Ellbogen. »Man schießt noch dort unten!« sagte er.
Der Vaquero lauschte. »Das ist richtig. Wenn dies jedoch kein Zeichen ist, daß Cuchillo oder Gayferos zum Zielpunkt indianischer Büchsen dienen, so freue ich mich darüber und wünsche Euch eine gute Nacht. Schlaft ebenfalls, Freund Baraja; in den Steppen ist die Zeit zum Schlafen sehr kostbar, obgleich man jede Minute in die Lage kommen kann, auf ewig einzuschlafen.« Nach diesem erschreckenden Ausspruch hatte der alte Vaquero seinen wollenen Mantel wieder über seine Augen gebreitet, um sie vor den lästigen Strahlen des Mondes zu schützen, als das dumpfe Schnauben der Lasttiere ihn abermals den Kopf heben ließ. »Ach«, sagte er, » die roten Teufel schweifen nicht weit von hier umher!«
Ein Wiehern, das aus der Tiefe der Ebene herüberscholl, ließ sich, begleitet von einem Alarmruf, aus der Ferne vernehmen; zu gleicher Zeit, als ein Reiter mit verhängten Zügeln herbeisprengte. Und wie als letztes Anzeichen der Gefahr ließ der Instinkt die Tiere schweigen; ihrem dumpfen Schnauben folgte ein Schaudern vor Schrecken, das ihnen der Abendwind aus westlicher Richtung zuzutragen schien.
»Das ist Cuchillo!« schrie der Vaquero beim Anblick des Reiters, der im Galopp herbeikam. Dann fügte er ganz leise hinzu, so daß nur Baraja ihn hörte: »Möge der Reisende sich in acht nehmen, wenn der Irrwisch in der Ebene tanzt!«