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Frau Walsingham schritt direkt auf das Wohnzimmer zu. Aber vor der Tür blieb sie stehen und sah das Mädchen an. Beide betrachteten einander mit festen Blicken. Dann lächelte die Dienerin ein wenig.
»Sie sehen – ermüdet aus.«
Die andere nickte und ging in ihr Schlafzimmer.
»Bestellen Sie Mr. Shrewsbury«, sagte sie noch, »ich käme sofort. Setzen Sie ihm Whisky und Soda vor. Halt, geben Sie mir auch etwas, ich bin – müde.«
Sie mischte sich im Eßzimmer den Trunk und nahm ihn mit in den Schlafraum. Dort blickte sie in den Spiegel. Sie wußte, was die Guyner mit dem Ausdruck »ermüdet« gemeint hatte. Da waren Falten und Runzeln um Mund und Augen, sie sah um zehn Jahre gealtert aus. Plötzlich lächelte sie.
»Das macht nichts«, murmelte sie, »wenn das wahr ist, bin ich frei. Frei, mein Gott, und was für Aussichten!«
Sie sah nicht mehr ermüdet aus, als sie eine halbe Stunde später Richard begrüßte. Sie trug ihr schönstes Kleid und zeigte ihr strahlendstes Lächeln. Und Richard, den sein Nachmittagserlebnis etwas mißgelaunt gemacht hatte, hatte das Gefühl von Trost und Freude und hielt ihre Hand etwas länger in der seinen, als notwendig gewesen wäre.
»Ich hielt Sie schon für verschollen«, lachte sie. »Vergessen Sie nicht, daß Sie noch fremd in London sind.«
»Es tat mir sehr leid, daß ich Sie nicht abholen konnte. Da war erst das Frühstück mit Burgoyne, und dann – dann machte ich meinen Besuch in Maida Vale. So wurde es spät, ich konnte mir denken, daß Sie nicht mehr im Büro waren.«
»Hoffentlich haben Sie gegessen?«
»Etwas in Eile. Und Sie?«
»Vom Essen lasse ich mich nie abhalten«, erwiderte sie. »Ich habe auch nicht lange auf Sie gewartet. Geben Sie mir bitte eine Zigarette. Und was zog Sie nach Maida Vale? Ich wußte gar nicht, daß Sie die Gegend kannten.«
»Ich kannte sie auch nicht. Ich machte Fräulein Leverton meinen Besuch.«
Frau Walsingham ließ ihre Zigarette fallen und bückte sich, sie aufzuheben. Dabei gewann sie ihre Fassung wieder und machte ein gleichgültiges Gesicht.
»So, kennen Sie denn Fräulein Leverton?«
»Ich lernte sie erst heute kennen. Niemand hatte mir von ihrer Existenz erzählt«, sagte Richard.
»Niemand – damit meinen Sie Carsdale und mich. Was hätten wir für Veranlassung gehabt?«
»Freilich – es sei denn, weil unsere Väter alte Freunde waren«, sagte er nachdenklich.
»Und wo trafen Sie Franziska Leverton?«
»Bei ihrem Notar, zu dem ich mit Burgoyne gegangen war. Ich fragte sie, ob ich ihrer Mutter – ich dachte, ihre Mutter lebte noch – einen Kondolenzbesuch machen dürfte. Sie war einverstanden, und so ging ich diesen Nachmittag hin.«
»Haben Sie sich darum so tipptopp angezogen?«
»Ich dachte, das tut man, wenn man seinen ersten Besuch macht. Halten Sie es nicht für schicklich?«
»Natürlich. Also Sie wollten die Mutter besuchen. Erzählen Sie weiter.«
»Sie hat keine Mutter mehr«, fuhr Richard fort. »Und – ich muß Sie etwas fragen. Fräulein Leverton schien böse zu sein wegen des Briefes, den ich an ihren Vater schrieb, und den Carsdale nachher behielt – Sie wissen ja.«
Frau Walsingham legte ihre Zigarette in den Aschebecher und suchte sich aus dem Kistchen eine andere.
»Franziska Leverton gehört zu der Klasse junger Mädchen«, erwiderte sie, »die immer böse sind, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht. Ihr Vater hat sie als einziges Kind verzogen und ihr allen Willen gelassen. So war sie gewohnt, in seinem Büro zu regieren, und während seiner Krankheit kümmerte sie sich um Dinge, die sie nichts angingen. Natürlich ärgert sie sich nun wegen des Briefes, aber war Carsdale nicht Levertons Kompagnon? Sie ist wütend, weil ihr das Geschäft mit Ihnen entgangen ist, denn sie hält sich für ein Finanzgenie. Das ist die ganze Sache, lieber Freund.«
»So«, sagte Richard bestürzt, »meinen Sie? Aber sie gab mir einen Bescheid für Carsdale.« Er wiederholte Franziskas Worte. »Ich möchte es ihm am liebsten gar nicht sagen.«
»Dummheit! Sagen Sie es ihm ruhig, er wird darüber lachen. Sie kennen John Carsdale nicht. Aber werden Sie öfters nach Maida Vale gehen?«
Richard fühlte, wie er rot wurde. Er wußte nicht recht, warum.
»Fräulein Leverton hat mich für Sonntag eingeladen.«
Sie lachte.
»Tatsächlich? So ist Fräulein Franziska doch nicht ganz von Stein. Aber natürlich ist Lizzie Bryce als Anstandsdame dabei.«
»Lizzie Bryce? Ist das die kranke junge Dame?«
»Sie ist nicht krank, sie ist ein armer Krüppel. Barklay Leverton hatte sich ihrer angenommen, sie ist ein sehr kluges Mädchen. Sie sind beide nicht dumm, nehmen Sie sich in Acht, daß die Mädchen Sie nicht verschlingen.«
Richard sah sie zweifelnd an.
»Ich weiß bei Ihnen nie, ob Sie im Ernst oder im Scherz reden. Sie scheinen Fräulein Leverton nicht gerade zu lieben.«
»Das ist ganz unwichtig. Aber offen gestanden, ich mag sie nicht, weil sie mich auch nicht mag. Mit ihrem Vater kam ich ganz gut aus. Aber die Tochter hat verstiegene Ideen. Sie kämpft für Frauenrechte, sie ist eine Moderne. Ich bin ganz unmodern und kümmere mich nicht um Frauenrechte. Ich bin auch nicht besonders klug.«
»Das stimmt nicht«, sagte Richard feurig, »in meinen Augen sind Sie die klügste Frau, die ich je gekannt habe.«
»Und Sie haben schon eine Menge gekannt, nicht wahr?« erwiderte Frau Walsingham neckend. Sie legte die Zigarette fort, trat an das Fenster und blickte in das Zwielicht da draußen. Leise begann sie: »Vielleicht wird es gut sein, wenn die beiden Mädchen sich in Zukunft um Sie kümmern. Ich denke daran, fortzugehen.«
Ehrlich bestürzt sah Richard auf. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß diese Frau einen weiten Platz in seinem Leben einnahm. Und sie wollte fortgehen? Das würde eine schwer auszufüllende Lücke geben.
»Aber warum denn?« rief er aus. »Warum wollen Sie fort? Und wohin?«
»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie gleichgültig. »Nach Timbuktu, zum Nordpol, irgendwohin. Ich habe es satt.«
»Was denn? London?«
»London und das Leben. Warum sollte ich nicht? Sie, mein Freund, verstehen das natürlich nicht, wie alle jungen Leute.«
»Ich bin nicht jünger als Sie«, unterbrach er sie. »Sie bestätigten mir sogar neulich, daß ich tatsächlich älter bin, daß Sie erst im September einundzwanzig werden. Ich bin schon seit drei Monaten einundzwanzig.«
»Eine Frau ist immer fünf Jahre älter als ein Mann«, sagte sie. »Im Vergleich zu Ihnen bin ich eine alte Frau. Sehen Sie, ich arbeitete, weil ich Beschäftigung haben wollte, aber Spaß macht es mir nicht, alle Tage stundenlang im Büro zu sitzen. Nein – ich gehe fort.«
»Aber wohin?« rief Richard ganz außer sich.
»Vielleicht nach Amerika – Neuyork. Vielleicht nach Australien. Vielleicht reise ich und schreibe ein Buch darüber, wenn ich wiederkomme.«
»Ich begreife nicht, weshalb Sie fort wollen«, erwiderte er hartnäckig.
»Ich glaube es. Vielleicht, weil ich so einsam bin.«
»Einsam!« rief Richard aus. Er stand auf und trat neben sie ans Fenster.
»Ist das Ihr Ernst?« fragte er mit zitternder Stimme.
»Ach, Sie waren so gut. Seitdem Sie hier sind, habe ich mich nie einsam gefühlt. Aber ich war es, und ich werde es wieder sein.«
»Wieder?«
»Ich kann Sie nicht immer für mich allein haben«, sagte sie ganz leise. »Nein, ich muß fortgehen.«
Richard näherte sich ihr noch mehr. Im Halbdunkel sah sie noch hübscher aus. Seine Pulse schlugen, sein Blut schien plötzlich Feuer zu fangen.
»Tun Sie es nicht«, sagte er heiser, »Sie dürfen nicht, ich lasse Sie nicht gehen.«
Alle seine Schüchternheit war dahin, er legte den Arm um sie und zog sie an sich.
»Bleib«, flüsterte er, »bleib und werde meine Frau. Wenn du gehst, gehe ich mit.«
Sie versuchte sich ihm zu entwinden, aber er hielt sie fest. Er lachte ein wenig, zuversichtlich, obgleich ihn seine eigene Kühnheit überraschte.
»Du siehst, du kannst nicht gehen, denn ich bin stärker als du. Ich lasse dich nicht los, bis du mir versprichst, zu bleiben. Versprich es.«
Frau Walsingham erschrak plötzlich. Sie fühlte die eigenen Pulse erregt, das eigene Herz schlagen. Sie fand weder Bewegung noch Worte, und der Mann, den sie bisher für ein Kind gehalten, lachte siegreich.
»Versprich es. Versprich es, daß du bleiben und meine Frau werden willst. Versprich es, Sylvia.«
Er hob ihren Kopf, bis die Augen einander trafen. Sie senkte die ihren.
»Ja«, antwortete sie leise.
Einen Augenblick später machte sie sich los und sah ihn verwirrt an.
»Ist es denn wahr?«
Er schloß sie aufs neue in seine Arme und sagte triumphierend: »Natürlich! Denkst du, ich hätte dich gehen lassen?«
Vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben war Frau Walsingham ehrlich überrascht. Als Richard gegangen war, saß sie noch lange in Gedanken versunken. Um Mitternacht kam ein Kabeltelegramm von Nevada. Mit zitternden Fingern öffnete sie es. Dann wußte sie, daß die Nachrichten, die sie am Soho Square erhalten hatte, Tatsache waren.