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Der Fremde blieb vor dem großen Gebäude stehen und betrachtete prüfend die glänzende Außenseite. Er war sich darüber klar, daß er in seiner Kleidung hier nicht eindringen könne, daß die Frau, die er drei Stunden hindurch neugierig und Pläne schmiedend beobachtet hatte, in diesen Räumen vor ihm sicher war, daß er wenig Aussicht hatte, sie in dieser Nacht noch zu Gesicht zu bekommen.
Endlich wandte er sich ab und ging bis zur nächsten Straßenecke. Zum zweitenmal in dieser Nacht griff er in die Tasche und klimperte mit den losen Geldstücken darin. Sie bedeuteten sein ganzes irdisches Besitztum.
»Ich will mir aber doch zu einem Glas Bier und einem Käsebrot verhelfen«, brummte er halblaut. »Wenn ein Mann weiß, daß er Sonnabend hungern muß, ist das kein Grund für ihn, schon Freitag zu fasten, solange er noch einen Schilling in der Tasche hat.«
Wie eine Erinnerung aus früheren Tagen fiel ihm ein, daß es in der Nähe der Fleetstraße billige Speisehäuser gab, in denen Setzer, Korrektoren und die unbedeutenderen Presseleute zu verkehren pflegten. So setzte er sich nach dieser Richtung hin in Bewegung, die Hände in den Taschen und das scharfe Auge auf jedes Gesicht gerichtet, das ihm begegnete. Und in einer der ruhigeren Straßen in der Gegend von St. Clement Danes fand er sich plötzlich John Carsdale von Angesicht zu Angesicht gegenüber und blieb, von einer Straßenlaterne voll beleuchtet, vor ihm stehen.
Carsdale war stolz auf seine tadellosen Nerven, aber bei dieser Gelegenheit fuhr er nicht nur zusammen, er rief auch hastig aus:
»Himmel, Sydney Werrick! Bist du es wirklich?«
Der Fremde streckte ihm seine kühle und feste Hand hin.
»Gewiß. Wie geht es dir, Hans?«
Carsdale sah sich um, während er des Mannes Hand nahm. Es waren nur wenig Menschen in der Nähe. Seine Geistesgegenwart kam ihm wieder.
»Lieber Gott«, begann er, »du hast mich ein bißchen überrascht. Ich dachte, du warst gestorben.«
»Wer hat dir das erzählt?«
»Sandy Kinahan.«
»Sandy Kinahan hat niederträchtig gelogen wie immer.«
»Nun, Sandy ist tot«, bemerkte Carsdale feierlich. »Darüber ist kein Zweifel, denn ich habe ihn selbst vor wenigen Tagen im Charing Croß-Krankenhaus gesehen. Er kam bei einem Straßenunfall ums Leben.«
»So brauche ich ihn nicht totzuschlagen«, sagte Werrick. »Er war ein Schuft, und wenn er sagte, ich sei tot, führte er irgendeine Teufelei im Schilde. Aber davon will ich jetzt nicht sprechen. Hast du eine Zigarre bei dir?«
Carsdale reichte ihm seine Zigarrentasche hin.
»Hoffentlich geht es dir nicht so schlecht, daß du dir keinen Tabak mehr kaufen kannst?« fragte er.
Werrick wählte sich umständlich eine Zigarre aus, biß die Spitze ab und steckte das Kraut in Brand, ehe er antwortete:
»Das gerade nicht, aber meine Mittel sind beschränkt, so daß ich sparen muß. Dazu hatte ich eine unvorhergesehene Ausgabe von zwei Schillingen.«
»Wofür?« fragte Carsdale.
»Um Sylvia anzusehen«, erwiderte der andere.
Carsdale erschrak.
»Immerhin war das Geld gut angelegt. Ich sah sie, wie sie ins Theater – ist es nicht das Odalium? – ging. Bei ihr war ein junger Kerl, der sehr um sie bemüht war, daß sie nicht fiel und die Knochen brach. Da opferte ich die zwei Schilling, um an ihrer Schönheit eine Augenweide zu haben. Eine noch größere an dem Diamantenhalsband, das sie trug, und das ich auf elftausend Pfund schätze. So ist es richtig, Sylvia schwimmt im Geld, und ich habe siebzehn Schilling in der Tasche.«
»Wo ist Sylvia nun?« fragte Carsdale. »Ich nehme an, du weißt es.«
»Gewiß, sie ging ins Cecil mit dem jungen Bengel und zwei Kavalieren, die wie Offiziere aussehen. Der eine hat bloß einen Arm. Nehme an, Sylvia sitzt jetzt bei Sekt und Hummersalat, und morgen hat sie Beschwerden.«
»Wie kamst du herüber?«
»Viehtransport«, erwiderte Werrick lakonisch.
»Ehe ich dich traf, suchte ich einen billigen Ausschank. Nun kommt es auf dich an, wohin ich gehe.«
»Warum auf mich?« fragte Carsdale.
»Weil du mir erzählen wirst, wo ich Sylvia finden kann«, antwortete Werrick gemütlich.
Carsdale lachte.
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Dann würde es mir für jemand – leid tun.«
Carsdale lachte abermals.
»Es ist besser, du kommst zu mir, etwas essen. Ich bin das Herumstehen satt.«
»Ich auch. Ich dachte, es macht dir Spaß. Ist es weit bis zu deiner Wohnung?«
»Nicht, wenn man ein solches Vehikel benutzt«, sagte Carsdale, indem er eine Autodroschke anhielt. »Wie lange bist du in London, Sydney?« fragte er freundlich, nachdem sie eingestiegen waren.
»Ungefähr seit zwei Uhr.«
»Und der Zweck?«
»Sylvia und – dich zu suchen. Also Kinahan erzählte, ich wäre hinüber?«
»So erzählte er Sylvia. Er wußte sogar, wie du gestorben wärest. Er sagte, sie hätten dich in irgendeinem Goldgräbernest in Nevada oder Colorado oder so ähnlich erschossen. Kinahan meinte, Sylvia solle an den Richter kabeln. Sie tat es und bekam die Bestätigung.«
»Dann haben Sandy und der Richter ein abgekartetes Spiel gehabt. Ich war dort und Kinahan auch, er ging aber früher weg. Ich möchte wissen, was sie beabsichtigten, und ich mochte auch wissen, wie Sylvia zu dem jungen Burschen und den Diamanten kommt. Aber das wirst du mir erzählen.«
Carsdale wußte, daß der Mann neben ihm nicht mit sich spaßen ließ, und danach formte er seine Pläne.
»Ich habe immer allerlei Eßwaren im Hause«, sagte er, als sie in seiner Wohnung gelandet waren. »Wenn ich auch Junggeselle bin, habe ich doch eine Speisekammer, und darin findet sich gerade eine feine kalte Taubenpastete und ein hübsch reifer Stiltonkäse. Was Getränke angeht, so brauchst du nur den Schrank dort zu öffnen. Such dir aus, worauf du Appetit hast.«
Und Carsdale deckte selbst den Tisch und bediente seinen Gast, als wenn er über dessen Ankunft sehr erfreut wäre. Dann brachte er Whisky und Zigarren und ging zum Geschäftlichen über.
»Nun, Sydney, wollen wir ganz offen miteinander reden. Du hast den jungen Mann gesehen, der Sylvia heute abend begleitete?«
»Natürlich.«
»Er will sie heiraten, und er wiegt schwer.«
»Wieviel?«
Carsdale wußte, daß er nichts verheimlichen konnte.
»Eine gute Viertelmillion«, erwiderte er.
Werrick besah mit Kennerblicken seine Zigarre.
»Tut mir leid wegen Sylvia. Wüßte nicht, wie es zu machen wäre, zumal Sandy nun einmal gelogen hat.«
»Sie ging erst darauf ein, nachdem sie Kinahan gesprochen hatte, Sie glaubte natürlich dem Telegramm des Polizeichefs.«
»Natürlich. Aber der hat eben gleichfalls gelogen.« Er rauchte eine Weile nachdenklich und starrte zur Decke. »Es ist eine peinliche Situation«, sagte er schließlich. »Es tut mir herzlich leid wegen Sylvia, aber niemand kann verlangen, daß ich in die Themse springe oder mir ein Loch in den Kopf schieße, weil sie des Jungen Geldsack heiraten will.«
»Ich weiß mir auch keinen Rat«, sagte Carsdale. Er trommelte auf die Tischkante.
»Nun«, begann Werrick langsam und überlegen, »ich habe noch nie von einer Situation gehört, die man nicht irgendwie zum eigenen Vorteil hätte drehen können. Ich bin der Ansicht, daß, wenn dieser Bursche eine Viertelmillion hat, es mit dem Teufel zugehen müßte, wenn wir drei uns das nicht zunutze machen könnten.«
»Ich wußte es, daß du würdest mitmachen wollen«, bemerkte Carsdale lachend.
»Natürlich will ich mitmachen. Ich denke, ich habe das größte Recht dazu.«
»Und vorausgesetzt, wir nehmen dich in unsere Gesellschaft auf, was kannst du als Kapitalseinlage geben?« fragte er grinsend.
Werrick sah ihn schief an.
»Ich kann etwas beisteuern, was ihr beide mit all eurer Klugheit nicht aufweisen könnt.«
»Gut, gut, mein Junge«, erwiderte Carsdale begütigend. »Natürlich muß Sylvia erst gefragt werden.«
»Selbstverständlich«, stimmte Werrick zu. »Habe ich nicht immer mit mir reden lassen?«
»Wenigstens hast du immer Geduld gehabt, bis es Zeit war, zum Handeln. Wo wirst du diese Nacht bleiben? Wenn es dir gleich ist, kannst du hier übernachten. Platz ist genug vorhanden.«
»Ich bin einverstanden.«
»Gut«, sagte Carsdale und stand auf. Er sah auf seine Uhr. »Ich muß noch ausgehen, wenn es auch schon Mitternacht ist. Du wirst hier alles finden, was du brauchst. Mach es dir gemütlich, Sydney.«
Werrick nickte nur, und Carsdale nahm Hut und Stock und ging fort. Als er auf der Straße war, blieb er einen Augenblick stehen und stieß eine Reihe von Flüchen aus. Dann überlegte er, daß er noch viel Zeit hatte, und so ging er zu Fuß bis zu Frau Walsinghams Wohnung. Der Nachtportier war es gewohnt, ihn zu allen Stunden zu sehen, und er nickte nur, zum Zeichen, daß Frau Walsingham schon zu Hause wäre.
Sylvia öffnete ihm selbst. Sie trug noch ihren Theaterstaat, nur das Halsband hatte sie abgelegt. Carsdale legte den Finger auf die Lippen und folgte ihr mit leisen Schritten in das Eßzimmer. Sie brach zuerst das Schweigen.
»Was gibt es?« flüsterte sie. »Es ist etwas geschehen, ich sehe es dir an. Was gibt es?«