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Richard war sich nicht klar darüber, was er eigentlich von Franziska erbitten wollte. Er hatte nur eine dunkle Empfindung, er müsse die Frau retten, die sich vertrauensvoll zu ihm geflüchtet hatte, und er brauche dazu die Unterstützung einer anderen Frau. Die Ritterlichkeit, die an sich in seiner Natur lag, kam angesichts der Not Sylvias gewaltsam zum Durchbruch, und er glaubte, daß Franziska dafür Verständnis haben würde.
Als Richard gemeldet wurde, sprach Franziska gerade mit Lizzi Bryce über seinen Fall. Der Bericht des Detektivbüros über Carsdale lag vor ihr auf dem Tisch. Überall waren Zeitungen mit den letzten Nachrichten über die Affäre Walsingham verstreut. Und Franziska wußte, daß nur der Tod Werricks die beiden daran gehindert hatte, mit dem größten Teil von Richards Vermögen das Weite zu suchen.
Sie sah Lizzi verwundert und fast erschreckt an, als das Mädchen mit der Mitteilung kam, Mr. Shrewsbury bäte darum, sie einen Augenblick sprechen zu dürfen. Sie glaubte ihn in Paris und war nun überzeugt, daß sein Besuch eine ganz besondere Bedeutung haben müsse. Bevor sie noch mit ihrer Überlegung zu Ende war, sagte Lizzi:
»Ich will gehen, Fränze. Mr. Shrewsbury wird Geschäftliches zu besprechen haben.«
»Nein, bleib hier. Ich habe keine Geschäfte mit ihm. Was soll ich tun?«
»Du mußt ihn natürlich empfangen. Sicher ist es eine wichtige Angelegenheit. Sag Johanna, daß sie ihn sofort hereinbittet.«
Franziska gehorchte, und Lizzi verschwand im Nebenzimmer. Und Richard fand Franziska hinter ihrem Schreibtisch mit einem Eifer, den ein aufmerksamer Beobachter als wenig echt hätte feststellen können, in ihre Schreibereien vertieft.
»Fräulein Leverton«, begann er ohne Gruß und Vorrede, »ich –« Aber hier stockte er schon und sah sich schüchtern um.
»Guten Morgen, Mr. Shrewsbury, was steht zu Diensten?«
Ihr geschäftsmäßiger Ton wirkte erkältend auf ihn, und er überlegte, was sie wohl sagen würde, wenn sie den Zweck seines Besuches wußte.
»Ich wollte Sie sprechen, ich nehme an, wir sind allein.«
»Ich sehe sonst niemand im Zimmer«, sagte sie ein wenig spöttisch. »Was gibt es denn, Mr. Shrewsbury?«
»Sie müssen schon verzeihen, wenn ich etwas konfus erscheine. Ich bin erst heute morgen von Paris gekommen, und seitdem war ich unausgesetzt auf den Beinen.«
»Dann setzen Sie sich lieber«, meinte sie und deutete auf einen Stuhl.
»Danke«, sagte er und ließ sich mit einem tiefen Seufzer nieder. »Die Sache ist die – ich brauche einen Menschen, der mir hilft, und da dachte ich an Sie.«
Franziska heuchelte großes Interesse an ihren Briefen.
»Sollten Sie da nicht bei Kapitän Burgoyne oder Kapitän Blair wertvollere Hilfe finden?«
»Nein, ich brauche die Hilfe einer Frau. Sehen Sie, ich bin ganz offen zu Ihnen, weil ich – weil ich Ihnen vertraue. Ich will versuchen, so klar als möglich zu sprechen, obgleich das sonst nicht meine Sache ist. Ich sehe, daß Sie Zeitungen gelesen haben, und so werden Sie wissen, was gestern abend geschehen ist.«
»Ich weiß.«
»Als ich heute früh alles erfahren hatte, fuhr ich heim zum Berkeley Square. Und – dort fand ich –«
»Frau Walsingham«, sagte Franziska ganz ruhig.
»Wie können Sie das wissen?« rief er aus.
»Ich wußte es nicht, ich erriet es. Nach Ihrer Vorrede konnte ich mir denken, worauf Sie hinauswollten.«
»Also, ich fand sie in meiner Wohnung. Sie war in der dunklen Nacht gekommen und hatte sich in einem Zimmer eingeschlossen. Nun ist sie da, und ich habe mit ihr gesprochen.«
»Und?« sagte Franziska mit gutgespielter Gleichgültigkeit. »Was weiter?«
Richard beugte sich vor und sah sie ernst an.
»Sie wissen, ich bin getäuscht worden. Ich sehe noch nicht überall klar, aber ich bin ein Narr gewesen, solange ich in England bin. Doch ich empfinde weder Haß noch Rachsucht gegen sie, und ich dulde es nicht, daß eine Frau gehetzt wird. Sie sagte mir heute morgen, daß sie den Mann nicht mit Überlegung erschossen hat, und sooft sie mich sonst belogen haben mag, hier hat sie die Wahrheit gesprochen. Soweit ich es vermag, will ich ihr zur Flucht verhelfen.«
»Und warum sind Sie zu mir gekommen?« fragte Franziska, indem sie ihn fest ansah.
»Weil Sie mir helfen sollen. Sie sind klug, Sie werden einen Ausweg finden. Ich konnte sie in der Schwesterntracht nicht fortbringen. Ich dachte, Sie würden vielleicht eine Möglichkeit der Verkleidung ausdenken, so daß ich sie heute abend aus der Stadt herausbringen kann.«
Franziska lachte – mit Absicht. Sie wollte ergründen, wie Richard in Wirklichkeit gesonnen war.
»Das ist ein sonderbares Verlangen. Sie vergessen zunächst, daß Sie mich in ein Verbrechen verwickeln wollen, und zweitens, daß Frau Walsingham und ich Feindinnen sind. Warum sollte ich einer Frau helfen, die mich mehr als einmal beschimpft hat?«
Richard sah sie seltsam an. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck, und er stand langsam auf.
»Ich bitte um Entschuldigung, ich hatte gedacht –«, aber dann brach er ab und ging auf die Tür zu. Dort wandte er sich um. »Verzeihen Sie gütigst, daß ich Sie mit der Angelegenheit belästigt habe.«
Als er schon die Hand an der Türklinke hatte, hörte er sie sprechen.
»Mr. Shrewsbury!« rief sie.
Richard wandte sich schnell um.
»Bitte?«
»Wollen Sie der Frau wirklich nur aus Mitleid helfen?«
Er sah sie verwundert an.
»Aber natürlich. Sie tut mir leid, wie mir jede andere Frau in ihrer Lage leid tun würde.«
Franziska beugte sich über ihre Briefe.
»Ich wollte Ihnen meine Hilfe ja nicht versagen«, sagte sie leise. »Aber wissen Sie auch, was das zu bedeuten hat? Sie wird von der Polizei in London gesucht, alle Bahnhöfe und Seehäfen werden bewacht, so daß sie wenig Aussicht auf Entkommen hat. Und wer ihr hilft und überführt wird, setzt sich der Gefahr schwerer Bestrafung aus. Wenn ich Ihnen beistehe, mache ich mich gleichfalls strafbar, und die Beteuerung, daß wir aus Mitleid gehandelt haben, wird uns beide nicht schützen.«
»Ich wollte Sie nicht in Gefahr bringen, das darf natürlich nicht sein. Ich dachte nur an Kleidungsstücke oder –«
In diesem Augenblick meldete das Hausmädchen den Kapitän Blair.
»Bitten Sie den Herrn für einen Augenblick in das Eßzimmer«, sagte Franziska. Sie wandte sich wieder an Richard. »Mr. Shrewsbury«, fuhr sie eindringlich fort, »lassen Sie sich raten und erzählen Sie alles Kapitän Blair. Er wird Ihr Vertrauen nicht mißbrauchen und einen Ausweg wissen. Halten Sie mich nicht für hartherzig, ich weiß, daß nur ein guter Mensch so denken kann wie Sie. Aber – sprechen Sie mit Kapitän Blair.«
»Wenn Sie es für gut halten, will ich es tun.«
Als Blair eingetreten war, erklärte er, daß er nach seinem Besuch bei Fräulein Leverton bei Richard habe vorsprechen wollen.
»Und Shrewsbury kann gleich mit anhören, was ich Ihnen über Carsdale mitzuteilen habe. Bei der Gelegenheit wird er erfahren, was Sie mit soviel Mühe in seinem Interesse erreicht haben.«
»Das hat noch Zeit«, bemerkte sie ein wenig verwirrt. »Carsdale ist sicher genug aufgehoben. Aber Mr. Shrewsbury hat Ihnen etwas zu erzählen.«
Und Richard schüttete ihm sein Herz aus. Doch Blair schüttelte den Kopf.
»Mein lieber Junge, das ist sehr gut und selbstlos von Ihnen gedacht, aber es geht nicht. Wenn diese unglückliche Frau wirklich Kleider von Fräulein Leverton bekommt, wie wollen Sie sie fortbringen? Etwa in Ihrem Auto? Bedenken Sie doch, daß die Polizei inzwischen erfahren hat, daß Sie mit ihr verlobt waren. Es ist für Sie ganz unmöglich, sie aus London herauszubringen. Es gibt nur einen Weg; sie muß sich selbst der Polizei stellen. Wenn sie erklärt, wie alles gekommen ist, besteht keine Gefahr für ihr Leben. Meiner Ansicht nach kann sie überhaupt nicht schwer bestraft werden. Sie hat einen Fremden in ihrem Zimmer gesehen und in ihrer Angst geschossen – was ist da Schlimmes dabei? Aber ein Fluchtversuch würde alles verderben.«
»Möchten Sie nicht selbst mit ihr sprechen?« fragte Richard traurig. »Ich habe keine Überredungsgabe, und schließlich ist sie doch mein Gast.«
»Einverstanden«, sagte Blair. Und so verabschiedeten sie sich von Franziska und fuhren zu Richards Wohnung. Vor der Tür trafen sie einen Fremden, einen großen, freundlich aussehenden Mann, der sie scharf musterte und Mr. Shrewsbury bei seinem Namen rief.