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Richard hatte während der letzten Stunden das Staunen verlernt, aber an diese Möglichkeit hätte er doch nicht im Traum gedacht. Er stand im Hausflur und starrte Kedgin an, als habe dieser ihm unglaubliches erzählt. Mit Mühe begriff er, was der Diener eigentlich meinte.
»Hier?« sagte er schließlich. »Hier?«
»Ja, hier«, antwortete Kedgin, indem er am ganzen Körper zitterte. »In dem kleinen Schlafzimmer. Ich habe die Dame heute morgen noch nicht gesehen. Aber ich weiß, daß sie noch hier ist.«
Wirre Gedanken gingen durch Richards Kopf.
»Wenn der gnädige Herr eintreten wollte«, fuhr Kedgin fort, »dann könnte ich alles erzählen. Ich bin ganz außer mir, besonders, seit ich die Zeitung gelesen habe. Weiß der gnädige Herr schon?«
»Ich weiß.« Richard ging in das Eßzimmer und winkte dem Diener, zu folgen.
»Nun erzählen Sie. Setzen Sie sich, aber trinken Sie erst einen Schluck Brandy, Sie zittern ja wie Espenlaub. Warten Sie, ich gebe Ihnen etwas.«
»Es tut mir leid«, sagte Kedgin, indem er das Glas nahm, das Richard ihm reichte, »aber ich habe mich zu sehr erschreckt. Ich dachte, Frau Walsingham wäre wahnsinnig geworden, so benahm sie sich. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Dazu ist meine Frau noch verreist. Ich hätte fast einen Nervenschock bekommen, als Sie vorhin den Schlüssel ins Schloß steckten.«
»Gut, nun bin ich hier«, sagte Richard. »Erzählen Sie mir, wie Frau Walsingham herkam. Wann war das?«
»Es mochte gegen zehn Uhr gewesen sein. Ich hörte die Korridortür aufschließen. Dann ging jemand in das Wohnzimmer. Es war ein leichter Schritt, Sie oder der Herr Kapitän konnten es nicht sein. Ich sah nach. Und ich wäre fast vor Schrecken umgefallen, als ich eine barmherzige Schwester dort stehen sah. Dann hörte ich sprechen, und nun merkte ich, daß es Frau Walsingham war. ›Kedgin‹, sagte sie, ›denken Sie, ich bin ein Geist?‹ – ›Ich war erschrocken, gnädige Frau‹, sagte ich. ›Dann geben Sie mir einen Brandy mit Soda‹, sagte sie. ›Es mag komisch aussehen, wenn eine Schwester so etwas trinkt. Aber es macht nichts, außer Ihnen ist ja niemand da.‹ Ich gab ihr, was sie wünschte, drehte aber erst das Licht an. Und da erschrak ich noch mehr. Denn sie sah so weiß aus wie die Haube, die sie trug, und ihre Augen leuchteten wie Kohlen, und sie lachte mich an – mich schaudert noch, wenn ich daran denke.«
»Dann denken Sie nicht daran. Erzählen Sie weiter.«
»Jawohl. Sie trank und sagte eine Weile nichts. Schließlich fing sie an: ›Kedgin, ich bleibe die Nacht hier. Fragen Sie weiter nichts, ich bin todmüde und will das kleine Schlafzimmer haben.‹ Damit ging sie und schloß sich ein, und seitdem habe ich nichts mehr von ihr gesehen. Natürlich, gnädiger Herr, habe ich heute morgen die Zeitung gelesen und weiß, was passiert ist.«
»Sie haben nichts mehr von ihr gehört, seit sie in das Zimmer gegangen ist?« fragte Richard.
»Nichts. Es war mir schon unheimlich, ehe Sie kamen. Sie wird sich doch nicht etwas angetan haben?«
Richard fuhr bei dieser Bemerkung zusammen. Schließlich war es nicht ausgeschlossen.
»Ich hoffe es nicht, Kedgin«, sagte er besorgt. »Es ahnt natürlich niemand, daß sie hier ist?«
»Meines Wissens nicht. Es war schon dunkel, als sie kam. Sie wird unbemerkt hineingegangen sein.«
»Wir wollen noch ein wenig warten«, sagte Richard. Dann erinnerte er sich, daß Burgoyne mit Blair kommen wollte. »Das geht nicht«, dachte er, ging ans Telefon und läutete Blair an. Burgoyne war gerade eingetroffen. Er fand eine Ausrede, um ihr Kommen aufzuschieben und verabredete sich zu einer anderen Zeit. Dann sah er auf seine Uhr. Es war kurz vor zehn.
»Ich werde an die Tür klopfen, Kedgin«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß ihr etwas zugestoßen ist, aber schlafen wird sie nicht mehr.«
Er bekam auf mehrmaliges Klopfen keine Antwort. Als er schon das schlimmste befürchtete, und als Kedgin vorschlug, die Tür aufzubrechen, wurde sie plötzlich geöffnet, und Frau Walsingham stand vor ihnen.
Sie trug immer noch die Schwesterntracht, in der sie aus ihrer Wohnung geflüchtet war, und in dem düsteren Schwarz erschien ihr Gesicht noch bleicher. Aber noch mehr entsetzte sich Richard über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Das da war eine abgehärmte, zusammengebrochene Frau unbestimmten Alters.
Für einen Augenblick starrten die drei in peinlichem Schweigen einander an. Dann beutete die Frau auf Kedgin.
»Gehen Sie, ich möchte mit Ihrem Herrn sprechen.«
Auf einen Wink von Richard ging Kedgin hinaus, und Frau Walsingham trat in das Speisezimmer und setzte sich mit einer müden Bewegung. Sie blickte ihn aus trüben Augen an. Noch nie hatte er sie so teilnahmslos gesehen. Und als sie dann sprach, wunderte er sich über den Ton ihrer Stimme. Es klang, als wäre alle Energie von ihr gewichen.
»Ich dachte mir, daß Sie es wären«, begann sie, und sie schaute ihn dabei an wie ein lebloses Ding. »Vermutlich waren Sie überrascht, zu hören, daß ich hier wäre. Aber ich konnte diese Nacht London nicht verlassen. Vielleicht kann ich es auch heute vormittag nicht. Ich weiß nicht, was schon bekannt ist. Und – ich habe keine Ahnung, was Sie schon wissen.«
Auf dem Tisch lag eine Morgenzeitung, und schweigend reichte sie ihr Richard. Vergebens wartete er auf ein Zeichen von Erregung, während sie las.
»Ja«, sagte sie, »aber Carsdale hat damit nichts zu tun. Ich wußte nicht, daß er kommen wollte. Sie haben alles gelesen? Es ist schnell herausgekommen.«
»Ich habe es gelesen«, antwortete er.
»Gewiß, ich habe Werrick erschossen. Ich drückte ab, als ich sein Gesicht sah. Und ich wundere mich darüber nicht. Ich sehe ein, daß ich nicht fort kann. Ich denke, ich stelle mich am besten der Polizei. Ich bin müde. Ich nahm ein Schlafmittel. Es hat nicht geholfen. Würden Sie mir Tee geben?«
Richard gab Kedgin den entsprechenden Auftrag und ging in das Speisezimmer zurück. Sie war über die Zeitung gebeugt und las gerade von der Entdeckung des Geldes und der Schiffskarten.
»Was heißt das?« fragte sie. »Davon habe ich nichts gewußt. Carsdale muß im Begriff gewesen sein, mich aufzufordern, mitzufahren. Zweihunderttausend. Das dürfte Ihr Geld sein. Ich habe auch noch eine Menge. Macht nichts, Sie bekommen es zurück, denn ich werde kaum fortkommen.«
»Was beabsichtigen Sie? Was kann ich für Sie tun?« fragte Richard. »Wir müssen einen Entschluß fassen, was haben Sie vor?«
Sie sah ihn mit ihren trüben Augen an, als verstände sie den Sinn seiner Frage nicht. Er wiederholte seine Worte.
»Ja«, sagte sie plötzlich. »Ich wollte nach Wien gehen, nun weiß ich. Ich habe Geld dorthin durch die Englisch-Österreichische Bank überweisen lassen. Ja, ich wollte nach Wien.«
Kedgin kam mit dem Tee. Sie sah ihn scharf an.
»Tun Sie mir etwas Brandy hinein«, sagte sie.
Richard machte ein peinlich berührtes Gesicht, aber Kedgin warf ihm einen bedeutsamen Blick zu, goß reichlich Brandy in die Tasse und stellte sie vor sie hin. Und Richard sah, wie nach dem ersten Schluck ihre Augen Glanz bekamen. Mit einem seltsamen rätselhaften Blick schaute sie ihn an. »Sie sehen, Ihre Wohnung war mein einziger Zufluchtsort. Ich wußte, daß ich hier während der Nacht sicher sein würde. Aber ich denke, ich werde mich doch stellen müssen.«
»Ich wünschte, ich wüßte einen Ausweg«, seufzte Richard. »Gäbe es nicht eine Möglichkeit, Sie außer Landes zu bringen?«
Sie sah auf ihre Kleidung.
»In diesem Aufzug? Nicht sehr wahrscheinlich.«
»Aber – irgendwie anders«, drängte er. »Denken Sie nach.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich mag nicht, ich habe es satt. Sie können das nicht verstehen, keiner kann es. Es war zuviel. Ich möchte nur noch schlafen, sonst nichts.«
Dann trank sie plötzlich den Tee aus, und während sie Richard noch einmal sonderbar ansah, begab sie sich in das Zimmer, in dem sie die Nacht verbracht hatte. Richard blieb in tiefster Bestürzung zurück. Etwas mußte geschehen, es mußte Rat geschafft werden. Und dabei konnte er weder Burgoyne noch Blair brauchen.
Und dann kam ihm die Erleuchtung. Nachdem er Kedgin befohlen hatte, auf die Wohnung und seinen Gast sorgfältig Obacht zu geben, stürmte er hinaus, nahm einen Wagen und fuhr nach Maida Vale, um bei Franziska Leverton Hilfe zu suchen.