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Als ich das Dorf, wo meine Leute Nachtquartier bezogen hatten, wieder erreichte, zögerte ich nicht, diese zu wecken, und schon ein paar Stunden vor Sonnenaufgang war die Karawane unterwegs. Am zwölften Tage erreichten wir um die Mittagsstunde ein gar liebliches Tal in der waldigen Gegend Vedisas. Ein kleiner kristallklarer Fluß wand sich gemach durch die grünen Wiesen; die sanft ansteigenden Hügel waren mit blühendem Gebüsch bestanden, das einen würzigen Duft verbreitete; etwa in der Mitte der langgestreckten Talsohle und unfern dem Flüßchen erhob sich ein Nyagrodhabaum, dessen undurchdringliche Laubkuppel einen schwarzen Schatten auf die smaragdene Matte warf und, von ihren tausend Nebenstämmen gestützt, einen Hain bildete, in dem wohl zehn Karawanen wie die meinige hätten Obdach finden können. Die Stelle war mir von der Hinreise wohl erinnerlich, und ich hatte sie schon zur Lagerstätte ausersehen. Es wurde also Halt gemacht. Die wegmüden Ochsen wateten in den Strom hinaus und tranken begehrlich das kühle Naß, um sich dann am zarten Ufergras zu laben. Die Leute erfrischten sich durch ein Bad und machten sich dann gleich daran, dürre Zweige zu sammeln und ein Feuer zum Reiskochen anzuzünden, während ich selbst – auch durch ein Bad erfrischt – mich im tiefsten Schatten, an eine Wurzel des Hauptstammes angelehnt, hinstreckte, um an Vasitthi zu denken und bald in der Tat von ihr zu träumen. An der Hand des geliebten Mädchens schwebte ich durch paradiesische Gefilde.
Ein großes Geschrei brachte mich jäh zur rauhen Wirklichkeit zurück. Als ob ein böser Zauberer sie aus der Erde hätte emporwachsen lassen, wimmelten bewaffnete Männer um uns herum, und das nahe Gebüsch entsandte immer neue. Sie waren schon bei den Wagen, die ich in einem Kreise um den Baum hatte aufstellen lassen, und fochten mit meinen Leuten, die alle im Gebrauch der Waffen geübt waren und sich tapfer verteidigten. Bald war ich mitten im Kampfgetümmel. Mehrere Räuber fielen von meiner Hand. Plötzlich sah ich einen großen, bärtigen Mann von schrecklichem Aussehen vor mir; sein Oberkörper war unbekleidet, und um den Hals trug er eine dreifache Reihe von Menschendaumen. Da wußte ich denn: »Das ist der Räuber Angulimala, der grausame, der blutgierige, der die Dörfer undörflich, die Städte unstädtlich, die Länder unländlich macht, der die Leute umbringt und ihre Daumen sich um den Hals hängt.« Und ich glaubte schon, meine letzte Stunde sei gekommen.
Wirklich schlug mir dies Ungetüm sofort das Schwert aus der Hand – eine Leistung, die ich keinem Wesen aus Fleisch und Blut zugetraut hätte. Bald lag ich an Händen und Füßen gefesselt auf der Erde. Um mich her waren alle meine Leute erschlagen bis auf einen, einen alten Diener meines Vaters, der von der Menge überwältigt worden und, ebenso wie ich, unverwundet in Gefangenschaft geraten war. Ringsum, unter dem schattigen Dache des Riesenbaumes, in Gruppen gelagert, taten die Räuber sich gütlich.
Jene kristallene Kette mit dem Tigerauge, von der ich dir schon erzählt habe, wie sie beim Ringkampf mit Satagira um Vasitthis Ball zerriß – jene Kette, die mir meine gute Mutter beim Abschied als Amulett umgehängt hatte, war mir durch Angulimalas blutige Mörderhand vom Halse gezerrt worden. Noch viel schmerzlicher war mir aber der Verlust der Asokablume, die ich seit jener Nacht auf der Terrasse immer an meinem Herzen getragen hatte. Nicht weit von mir glaubte ich sie zu entdecken, ein rotes Flämmchen im zerstampften Grase, gerade dort, wo die jüngsten Räuber hin und her liefen, das dampfende Fleisch des schnell geschlachteten und gebratenen Rindes und Kürbisflaschen mit Branntwein den Schmausenden zu bringen. Mir war es, als ob sie mein Herz zerstampften, so oft ich meine arme Asokablume unter ihren schmutzigen Füßen verschwinden sah, um immer weniger leuchtend zum Vorschein zu kommen, bis ich sie gar nicht mehr erspähen konnte. Und ich dachte, ob wohl Vasitthi jetzt vor dem sorgenlosen Baume stände, um ihn zu befragen? Wie gut dann, daß er ihr nicht sagen konnte, wo ich weilte, denn gewiß hätte sie vor Schreck ihre zarte Seele ausgehaucht, wenn sie mich in dieser Umgebung gesehen hätte.
Nur ein Dutzend Schritte von mir entfernt zechte der furchtbare Angulimala selber mit einigen seiner Vertrauten. Fleißig machte die Flasche die Runde, und die Gesichter – mit Ausnahme eines einzigen, von dem ich noch später sprechen werde – wurden immer röter, während die Räuber sich lebhaft, fast erregt unterhielten, ja bald in offenbaren Streit gerieten.
Leider gehörte die Wissenschaft der Gaunersprache damals noch nicht zu meinen vielen Fähigkeiten – woraus man ersieht, wie wenig der Mensch beurteilen kann, welche Kenntnisse ihm am nützlichsten sein werden. Gar zu gern hätte ich den Sinn ihrer lauten Rede verstanden, denn ich konnte nicht in Zweifel sein, daß sie mich und mein Schicksal betraf. Die Mienen und Gebärden zeigten mir das mit unheimlicher Deutlichkeit, und wahre Flammenblicke, die unter den dichten, zusammengewachsenen Brauen des Häuptlings von Zeit zu Zeit nach mir herüberblitzten, ließen mich mein Amulett gegen den bösen Blick, das jetzt auf der zottigen Brust des Ungeheuers selber erglänzte, sehr vermissen. In der Tat hatte ich, wie ich später erfuhr, einen Liebling Angulimalas und dazu den besten Degen der ganzen Bande vor seinen Augen niedergestreckt, und der Häuptling hatte mich nur deshalb nicht getötet, weil er seine Rachsucht durch den Anblick meiner langsamen Todesmarter zu stillen gedachte. Die anderen aber wollten nicht zugeben, daß eine reiche Beute, die von Rechts wegen der ganzen Bande gehörte, auf solche Weise nutzlos vergeudet würde. Ein kahler, glatt rasierter Mann, der wie ein Priester aussah, fiel mir als Angulimalas Hauptgegner auf, der allein es verstand, diesen Wilden zu bändigen. Er war auch der einzige, dessen Gesichtsfarbe während des Zechens seine Blässe bewahrte. Nach einem langen Streit, währenddessen Angulimala ein paarmal in die Höhe fuhr und zum Schwerte griff, siegte schließlich – zu meinem Heile – der professionelle Gesichtspunkt.
Die Bande Angulimalas gehörte nämlich zu den »Absendern« – so genannt, weil es zu ihren Regeln gehört, von zwei Gefangenen den einen abzusenden, damit er das geforderte Lösegeld auftreibe. Wenn sie einen Vater und seinen Sohn gefangen nahmen, hießen sie den Vater gehen, das Lösegeld für den Sohn zu beschaffen; von zwei Brüdern schickten sie den älteren; war ein Lehrer mit seinem Jünger in ihre Hände gefallen, so wurde der Jünger abgesandt, hatten sie einen Herrn und seinen Diener gefangen, so mußte der Diener gehen – darum eben hießen sie »Absender«. Zu diesem Zwecke hatten sie, ihrer Sitte gemäß, jenen Diener meines Vaters geschont, während sie alle meine anderen Leute niedermetzelten; denn obschon etwas bejahrt, war dieser noch rüstig und sah klug und erfahren aus – wie er denn auch schon mehrmals Karawanen geführt hatte.
Er wurde nun seiner Fesseln entledigt und noch an demselben Abend abgeschickt, nachdem ich ihm eine vertrauliche Botschaft mitgegeben hatte, an der meine Eltern die Richtigkeit der Sache erkennen konnten. Bevor er sich auf den Weg begab, ritzte aber Angulimala einige Zeichen in ein Palmblatt und übergab es ihm. Es war eine Art Geleitbrief für den Fall, daß er auf dem Rückweg, wenn er die Summe bei sich trug, in die Hände anderer Räuber fallen sollte. Denn Angulimalas Name war so gefürchtet, daß selbst Räuber, die Königsgeschenke von der Straße entführten, sich nimmer vermessen hätten, etwas, das sein Eigentum war, auch nur anzurühren.
Auch mir wurden nun bald die Fesseln abgenommen, da man wohl wußte, daß ich nicht töricht genug sein würde, einen Fluchtversuch zu machen. Das erste, wozu ich meine Freiheit benutzte, war, daß ich nach der Stelle hinstürzte, wo ich die Asokablume hatte verschwinden sehen. Aber ach, nicht einmal mehr ein farbloses Restchen konnte ich von ihr entdecken! Diese zarte Blumenflamme schien unter den rohen Räuberfüßen gänzlich zu Asche zerstampft. War sie ein Wahrzeichen unseres Liebesglücks?
Ziemlich frei lebte und bewegte ich mich jetzt unter diesen gefährlichen Gesellen, in der Erwartung des Lösegeldes, das binnen zwei Monaten kommen mußte.
Da wir uns in der dunklen Hälfte des Monats befanden, gingen die Diebstähle und Räubereien lebhaft vonstatten. Denn diese Zeit, die der furchtbaren Göttin Kali gehört, wird fast ausschließlich zu den regelmäßigen Geschäften benutzt, so daß keine Nacht ohne irgend einen Überfall oder Einbruch verging. Mehrmals wurden auch ganze Dörfer geplündert. In der fünfzehnten Nacht des abnehmenden Mondes aber wurde Kalis Fest mit grauser Feierlichkeit begangen. Nicht nur Stiere und zahllose schwarze Ziegen, sondern auch einige unglückliche Gefangene wurden vor ihrem Bild geschlachtet; man stellte das Opfer vor den Altar und öffnete ihm eine Schlagader, so daß das Blut gerade in den aufgerissenen Mund der scheußlichen, mit Menschenschädeln behangenen Gestalt spritzte. Danach folgte eine wilde Orgie, wobei die Räuber sich im Rauschtrank bis zur Besinnungslosigkeit besoffen und sich mit den Bajaderen ergötzten, die man zu diesem Zwecke mit beispielloser Dreistigkeit aus einem großen Tempel entführt hatte. Angulimala, der in seiner Weinlaune großmütig wurde, wollte auch mich mit einer schönen, jungen Bajadere beglücken. Da ich aber in Erinnerung an Vasitthi das Mädchen verschmähte, so daß es ob dieser Schmach in Tränen ausbrach, geriet er darüber in eine solche Wut, daß er mich ergriff und auf der Stelle erdrosselt hätte, wäre mir nicht jener kahle, glattrasierte Räuber zu Hilfe gekommen. Wenige Worte von ihm genügten, um den eisernen Griff des Häuptlings erschlaffen zu lassen und ihn dann, brummend wie eine notdürftig bezähmte Bestie, fortzuschicken.
Dieser merkwürdige Mann, der jetzt zum zweitenmal mein Retter wurde – mit Händen, die von dem von ihm geleiteten schrecklichen Kaliopfer noch blutig waren – war der Sohn eines Brahmanen. Weil er aber unter einer Räuberkonstellation geboren war, wandte er sich dem Räuberhandwerke zu. Zuerst hatte er den »Würgern« angehört, trat aber auf Grund wissenschaftlicher Erwägungen zu den »Absendern« über. Vom väterlichen Hause her hatte er nämlich einen Hang zu religiösen Betrachtungen und nicht weniger zu gelehrten Erörterungen ererbt. So leitete er einerseits den Opferdienst als Priester – und man schrieb das seltene Glück dieser Bande fast ebensosehr seiner Priesterwissenschaft wie der Führertüchtigkeit Angulimalas zu – andererseits trug er auch die Wissenschaft des Räuberwesens in systematischer Form vor, und zwar sowohl die Technik wie die Moral; denn ich merkte zu meinem Erstaunen, daß die Räuber eine solche hatten, und sich keineswegs für schlechtere Menschen als andere hielten.
Diese Vorträge fanden besonders nachts in der lichten Hälfte des Monates statt, in der – abgesehen von zufälligen Vorkommnissen – die Geschäfte ruhten. Auf einer Waldwiese hockten die Zuhörer in mehreren halbkreisförmigen Reihen um den ehrwürdigen Vajaçravas, der mit untergeschlagenen Beinen dasaß. Sein mächtiger haarloser Schädel erglänzte im Mondlicht, und seine ganze Erscheinung war der eines vedischen Lehrers nicht unähnlich, der in der Stille der Mondnacht den Insassen der Waldeinsiedelei die Geheimlehre mitteilt – aber manches unheilig wilde Gesicht, ja manche Galgenphysiognomie war rings in der Runde zu schauen. Mir ist es in der Tat, als ob ich sie in diesem Augenblick sähe – als ob ich das tiefe auf und ab schwellende Brausen des ungeheuren Waldes hörte, manchmal durch das ferne Gebrüll eines Tigers oder das heisere Bellen des Panthers unterbrochen – und dazu, ruhig fließend wie ein Strom, die Stimme Vajaçravas' – diesen tiefen, volltönenden Baß, eine köstliche Erbschaft ungezählter Generationen von Udgatars.
Zu diesen Vorträgen hatte ich Zutritt, weil Vajaçravas eine Vorliebe für mich gefaßt hatte. Er behauptete sogar, ich sei unter einem Räuberstern geboren wie er, und ich würde mich einmal den Dienern Kalis zugesellen, weshalb es mir nützlich sei, seiner Rede zu lauschen, die unzweifelhaft den in mir noch schlummernden Trieb wachrufen würde. Ich habe da also sehr merkwürdige Vorlesungen von ihm gehört über die verschiedenen »Sekten Kalis« – gewöhnlich Diebe und Räuber genannt – und über ihre unterschiedlichsten Gebräuche. Ebenso lehrreich wie unterhaltend waren seine Exkurse über Themata wie: »Die Nützlichkeit der Dirnen zum Hineinlegen der Polizei«, oder »Kennzeichen der für Bestechung zugänglichen Beamten höheren und niederen Ranges, nebst kurzer Anweisung über die in Frage kommenden Geldbeträge«. Von scharfsinnigster Menschenbeobachtung und strengster Schlußfolgerung zeugte seine Behandlung der Frage »Wie und warum die Spitzbuben sich auf den ersten Blick gegenseitig erkennen, während die ehrlichen Leute es nicht tun, und welche Vorteile aus diesem Umstande ersteren erwachsen«, nicht zu reden von den glänzenden Ausführungen: »Über die Stupidität der Nachtwächter im allgemeinen, eine anregende Betrachtung für Anfänger« – bei welchen der nächtliche Wald von einem Lachchor widerhallte, so daß man von allen Seiten des Lagers zusammenströmte, um zu hören, was los sei.
Aber auch trockene technische Fragen wußte der Meister interessant zu behandeln, und ich erinnere mich wirklich fesselnder Schilderungen, wie man geräuschlos eine Bresche in der Wand macht oder einen unterirdischen Gang kunstgerecht anlegt. Die richtige Verfertigung der verschiedenen Arten von Brecheisen, besonders des sogenannten »Schlangenmaules«, sowie des »krebsförmigen« Hakens wurde sehr anschaulich dargelegt; der Gebrauch des leisen Saitenspieles, um zu erkunden, ob jemand wacht, und des aus Holz gemachten Männerkopfes, den man zur Tür oder zum Fenster hereinsteckt, um zu sehen, ob dieser vermeintliche Einbrecher bemerkt wird – alles dies wurde gründlich besprochen. Seine Erörterungen, wie man bei Ausführung eines Diebstahls unbedingt jeden umbringen müsse, der später als Zeuge würde auftreten können, sowie die allgemeinen Betrachtungen, wie ein Dieb nicht mit einem moralischen Wandel behaftet sein dürfe, sondern rauh, hart und gewalttätig, gelegentlich dem Rauschtrank und den Dirnen ergeben sein müsse, zählen zu den gelehrtesten und geistreichsten Vorträgen, dies ich je gehört habe.
Um dir aber eine richtige Vorstellung von diesem wahrhaft profunden Geiste zu geben, muß ich dir die berühmteste Stelle aus seinem in fast kanonischem Ansehen stehenden Kommentar zu den uralten Kali-Sutras, der Geheimlehre der Diebe, hersagen.Über den indischen Sutrastil und das folgende Kapitel siehe die Note am Schlusse des Werkes.