Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XXXI. Die Erscheinung auf der Terrasse

Als Satagira sein Ziel, mich als Frau zu besitzen, erreicht hatte, erkaltete seine Liebe schnell, um so mehr, als sie ja von meiner Seite keine Erwiderung fand. Ich hatte versprochen, ihm eine treue Gattin zu sein, und er wußte wohl, daß ich mein Versprechen halten würde. Mehr stand aber auch nicht in meiner Macht, selbst wenn ich es gewollt hätte.

Da ich ihm nur eine Tochter gebar, die schon im zweiten Jahre starb, wunderte sich niemand – und ich wahrlich am wenigsten – darüber, daß er sich eine zweite Frau nahm. Diese gebar ihm den erwünschten Sohn. Dadurch bekam sie die erste Stellung im Hause; auch verstand sie, seine Liebe, auf die ich so willig verzichtet hatte, auf geschickte Weise zu fesseln. Außerdem nahmen die Geschäfte meinen Gemahl immer mehr in Anspruch, denn er war nach dem Tode seines Vaters mit dessen Stellung betraut worden.

So gingen mehrere Jahre ruhig dahin, und ich vereinsamte mehr und mehr, was mir denn auch ganz recht war. Ich gab mich meiner Trauer hin, verkehrte mit meinen Erinnerungen und lebte in der Hoffnung auf ein Wiedersehen hier oben, eine Hoffnung, die mich ja auch nicht getäuscht hat.

Der Palast Satagiras lag an derselben Schlucht, aus der du so oft nach der »Terrasse der Sorgenlosen« hinaufgestiegen bist, aber an einer viel steileren Stelle, und hatte eine ganz ähnliche Terrasse wie mein Vaterhaus. Hier pflegte ich alle schönen Abende zuzubringen, ja in der heißen Zeit blieb ich dort oft die ganze Nacht, auf einem Ruhebett schlafend. Denn die Felswand der Schlucht, die noch dazu von hohem Mauerwerk gekrönt wurde, war so steil und glatt, daß gewiß kein Mensch an ihr hinaufklettern konnte.

Einmal in einer herrlichen, milden Mondnacht lag ich nun dort auf meinem Lager, ohne zu schlafen. Ich dachte an dich, und zwar an jenen ersten Abend unseres Zusammenseins; der Augenblick, wo ich mit Medini auf der marmornen Bank der Terrasse saß und eure Ankunft erwartete, stand mir so lebhaft vor der Seele, und ich dachte daran, wie sich dann plötzlich, noch bevor wir es hofften, deine Gestalt über den Mauerrand erhob – denn du warst ja in deinem ungestümen Eifer Somadatta zuvorgekommen.

In diese süßen Träume verloren, hatte ich unwillkürlich meinen Blick auf der Brustwehr ruhen lassen, als plötzlich eine Gestalt sich über dieselbe erhob.

Ich war so überzeugt, daß nie und nimmer ein Mensch diese Stelle erklimmen könne, daß ich gar nicht daran zweifelte, dein Geist, von meiner Sehnsucht heraufbeschworen, käme, um mich zu trösten und um mir Kunde zu bringen von dem seligen Orte, wo du mich erwartetest.

Deshalb erschrak ich denn auch gar nicht, sondern stand auf und breitete die Arme gegen den Kommenden aus.

Wie nun aber dieser auf der Terrasse stand und sich mit raschen Schritten näherte, sah ich, daß seine Gestalt viel größer als die deine, ja sogar riesenhaft war, und ich merkte, daß ich den Geist Angulimalas vor mir hatte. Nun erschrak ich so heftig, daß ich mich am Kopfende der Ruhebank festhalten mußte, um nicht umzusinken.

»Wen hast du erwartet?« fragte der Furchtbare, an mich herantretend.

»Einen Geist, aber nicht den deinen,« antwortete ich.

»Kamanitas Geist?«

Ich nickte.

»Als du jene Bewegung des Bewillkommnens machtest,« fuhr er fort, – »fürchtete ich, daß du einen Liebhaber hättest, der dich des Nachts hier besuchte. Denn in dem Falle würdest du mir nicht helfen. Und ich habe deine Hilfe so nötig, wie du jetzt die meinige.«

Bei diesen sonderbaren Worten wagte ich aufzublicken, und nun schien es mir, daß ich keinen Geist, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut vor mir habe. Aber der Mond stand hinter ihm, und geblendet von seinen Strahlen und vom Schrecken verwirrt, konnte ich nur die mächtigen Umrisse einer Gestalt sehen, die wohl auch einem Dämon angehören konnten.

»Ich bin nicht der Geist Angulimalas,« sagte er, meinen Zweifel erratend, »ich bin er selber, ein Mensch wie du.«

Ich fing heftig zu zittern an, nicht vor Angst, sondern, weil ich dem Menschen gegenüberstand, der meinen Geliebten grausam ermordet hatte.

»Fürchte dich nicht, edle Frau!« fuhr er fort – »du hast von mir nichts zu befürchten; bist du doch der einzige Mensch, vor dem ich selber mich gefürchtet habe, und dem ich, wie du so richtig sagtest, nicht in die Augen sehen durfte, weil ich dich betrog.«

»Du betrogst mich?« rief ich, und kaum weiß ich, ob in meiner Seele Freude aufstieg, geweckt durch die Hoffnung, mein Geliebter sei noch am Leben, oder ob noch größere Verzweiflung mich bei dem Gedanken ergriff, daß ich mich hatte verleiten lassen, mich von dem Lebenden zu trennen.

»Ich tat es,« antwortete er, »und deshalb sind wir aufeinander angewiesen. Denn wir haben beide etwas zu rächen und an demselben Mann: an Satagira!«

Mit dem Anstand eines Fürsten machte dieser Räuber eine Handbewegung, mit der er mich aufforderte, mich zu setzen, als ob er mir viel zu sagen hätte. Ich, die ich mich nur noch mit Mühe aufrechthalten konnte, ließ mich willenlos auf die Bank niedersinken, und staunte ihn an, atemlos begierig auf seine nächsten Worte, die mich über das Schicksal des Geliebten aufklären mußten.

»Kamanita mit seiner Karawane,« fuhr er fort – »fiel mir in der Waldgegend Vedisas in die Hände. Er verteidigte sich tapfer, wurde aber unverwundet gefangen genommen, und als das Lösegeld zur rechten Zeit eintraf, unbehelligt nach Hause geschickt. Wohlbehalten kam er in Ujjeni an.«

Bei dieser Nachricht entrang sich ein tiefer Seufzer meiner Brust. Ich empfand in diesem Augenblick nur Freude darüber, den Geliebten unter den Lebenden zu wissen, so töricht dies Gefühl auch war. Denn durch das Leben war er mir noch mehr als durch den Tod entfernt.

»Als ich in Satagiras Gewalt fiel,« fuhr Angulimala fort, »erkannte dieser sofort die kristallene Kette mit dem Tieraugen-Amulett an meinem Halse, als dieselbe, die Kamanita angehört hatte. Am folgenden Abend kam er allein in mein Gefängnis und versprach mir, zu meinem größten Erstaunen, mir die Freiheit zu schenken, wenn ich vor einem Mädchen beschwören wollte, daß ich Kamanita umgebracht habe. ›Dein Eid allein,‹ sagte er, ›würde sie freilich nicht überzeugen, aber einem ›Wahrheitsakte‹ muß sie glauben.‹ – Er erklärte mir jetzt, ich sollte in der ersten Stunde der Nacht auf eine Terrasse geführt werden, wo das Mädchen sich aufhalten werde. Er wollte dafür sorgen, daß die Fesseln durchfeilt wären, so daß ich sie unschwer sprengen könne, worauf es dann ein leichtes für mich sei, mich über die Brustwehr zu schwingen, in die Schlucht hinabzusteigen und derselben abwärts folgend zu entfliehen, da sie schließlich in eine enge Rinne ausmünde, durch die ein kleiner Bach unter der Stadtmauer sich in die Ganga ergösse. Mit einem feierlichen Eide schwor er mir zu, mich an der Flucht aus Kosambi nicht hindern zu wollen.

Zwar traute ich ihm nicht allzusehr, aber ich sah keinen anderen Ausweg. Einen ganz falschen Wahrheitsakt zu begehen, dazu hätte mich allerdings nichts verleiten können, denn ich hätte ja dadurch das furchtbarste Zorngericht der beleidigten Göttin auf mich geladen. Aber ich erkannte sofort, wie ich meinen Schwur so einrichten könnte, daß ich nicht mit klaren Worten eine Unwahrheit sagte, während dennoch ein jeder heraushören würde, daß ich Kamanita getötet habe: und ich vertraute darauf, daß Kali, die an allen Schlauheiten Gefallen findet, mir wegen dieses Kraftstückes mit aller Macht beistehen und mich heil durch die Gefahren führen würde, die ein Verrat Satagiras mir bereiten möchte.

Alles ging nun in der Tat, wie es zwischen uns verabredet war, und du selber hast gesehen, wie ich die eisernen Ketten sprengte. Noch heute weiß ich aber nicht, ob Satagira Wort gehalten und die Ketten hat durchfeilen lassen, wie er es mir versprochen hatte, oder ob mir Kali durch ein Wunder half. Doch glaube ich eher das erstere. Denn kaum war ich einige Klafter in die Ganga hinausgeschwommen, so wurde ich von einem Boote voll Bewaffneter überfallen. Auf diesen Hinterhalt hatte er also vertraut. Hier aber zeigte es sich, was die Hilfe Kalis wert ist: denn obwohl die an meinen Handgelenken hängenden Kettenstücke meine einzigen Waffen waren, gelang es mir doch, alle Krieger totzuschlagen, und auf dem während des Kampfes gekenterten Boote erreichte ich glücklich das sichere nördliche Ufer; freilich nicht ohne so viele und tiefe Wunden davonzutragen, daß ein ganzes Jahr verging, bevor ich mich davon erholt hatte. In dieser Zeit habe ich aber oft genug geschworen, daß Satagira mir dies büßen solle. Und nun ist die Zeit dazu gekommen.«

In meiner Seele wütete ein Sturm von Entrüstung über diesen an mir verübten, unerhörten Betrug. Ich konnte es dem Räuber nicht verdenken, daß er durch dies Mittel sein Leben gerettet hatte, und da er seine Hände nicht mit dem Blute meines Geliebten befleckt hatte, vergaß ich in diesem Augenblick, wieviel anderes unschuldiges Blut aber an ihnen klebte, und empfand weder Schreck noch Abscheu vor diesem Manne, der mir die Botschaft gebracht hatte, daß mein Kamanita noch auf dieser Erde wanderte wie ich selber. Aber ein bitterer Haß erhob sich in mir gegen ihn, der schuld daran war, daß wir beide getrennt unsere Erdenwanderung zu Ende führen mußten, und die Drohung Angulimalas gegen sein Leben vernahm ich mit einer unwillkürlichen Freude, die wohl in meinem Gesichtsausdrucke zu lesen war.

Denn mit erregter, leidenschaftlicher Stimme fuhr Angulimala fort:

»Ich sehe, hohe Frau! daß deine edle Seele nach Rache dürstet, und die soll dir auch bald werden. Deshalb bin ich ja hierher gekommen. Schon viele Wochen habe ich hier vor Kosambi auf Satagira gelauert. Endlich habe ich jetzt aus sicherer Quelle in Erfahrung gebracht, daß er in diesen Tagen die Stadt verlassen wird, um sich nach den östlichen Gauen zu begeben, wo ein zwischen zwei Dörfern schwebender Rechtsstreit zu schlichten ist. Ehe ich davon wußte, war mein ursprünglicher Plan, ihn zu zwingen, einen Ausfall gegen mich zu machen, um mich wieder gefangen zu nehmen; diese seine Reise macht es mir aber noch bequemer. Freilich habe ich infolge meiner ersten Absicht kein Geheimnis aus meiner Anwesenheit gemacht, sondern meine Taten für mich sprechen lassen, und das Gerücht von meinem Wiedererscheinen ist längst verbreitet. Obwohl die meisten glauben, daß irgend ein Betrüger erstanden ist und sich für Angulimala ausgibt, so hat doch die Furcht schon so sehr um sich gegriffen, daß nur größere und gut bewaffnete Züge sich in die bewaldete östliche Gegend, wo ich hause, hinauswagen. Du scheinst freilich davon nichts gehört zu haben, weil du eben als eine um ihr Lebensglück betrogene Frau allein mit deiner Trauer verkehrst.«

»Ich habe wohl von einer dreisten Räuberbande vernommen,« sagte ich, »aber deinen Namen noch nicht nennen gehört, weshalb ich auch glaubte, deinen Geist zu sehen.«

»Satagira aber hat mich nennen gehört,« fuhr der Räuber fort, »verlasse dich darauf, und da er guten Grund hat, zu glauben, daß es der richtige Angulimala ist und noch besseren Grund, diesen zu fürchten, so ist anzunehmen, daß er nicht nur unter starker Bedeckung reisen, sondern auch noch andere Vorsichtsmaßregeln treffen und sich vieler auf Täuschung berechneter Schliche bedienen wird. Indessen, obschon die Bande, über die ich gebiete, nicht sehr groß ist, soll weder das eine noch das andere ihm helfen, wenn ich nur mit Sicherheit weiß, zu welcher Stunde er auszieht und welchen Weg er einschlägt. Und dies ist es, was ich durch dich zu erfahren hoffe.«

Wenn ich auch bis jetzt stumm und gleichsam in einen Bann geschlagen seiner Erklärung gelauscht hatte, ohne zu bedenken, wieviel ich mir schon dadurch vergab, so stand ich doch bei dieser Zumutung entrüstet auf und fragte ihn, was ihm wohl berechtige, zu glauben, daß ich tief genug gesunken wäre, um einen Dieb und Räuber zum Bundesgenossen zu nehmen.

»Bei einem Bundesgenossen,« erwiderte Angulimala ruhig, »ist die Hauptsache, daß er zuverlässig ist, und du fühlst wohl, daß du dich in dieser Sache ganz auf mich verlassen kannst. Auch brauche ich deine Hilfe, denn nur durch sie kann ich das, was ich wünsche, mit Sicherheit erfahren. Wohl habe ich eine sonst gute Quelle für Nachrichten, durch die ich eben auch von der bevorstehenden Reise Satagiras weiß; aber wenn er vorsichtshalber ein falsches Gerücht verbreitet, so kann auch sie getrübt werden. Du aber bedarfst meiner, weil eine stolze und edle Seele in einem Fall wie dem deinigen nur durch den Tod des Verräters Genugtuung findet. Wärest du ein Mann, dann würdest du ihn selber töten; da du eine Frau bist, brauchst du dazu meines Armes.«

Ich wollte ihn heftig abweisen, aber er gab mir mit einer so würdigen Handbewegung zu verstehen, er habe noch nicht Alles gesagt, daß ich gegen meinen Willen schwieg.

»Dies, edle Frau,« fuhr er fort, »ist die Rache. Aber es gibt noch ein Anderes, Wichtigeres. Für dich: das künftige Glück zu ergreifen; für mich: Vergangenes zu sühnen. Mit Recht sagt man ja von mir, daß ich grausam sei, ohne Mitleid gegen Mensch und Tier.

Ja, ich habe tausend Taten vollbracht, für deren jede man hundert oder tausend Jahre in einer Erzhölle büßen muß, wie die Priester lehren. Zwar hatte ich einen gelehrten und weisen Freund, Vajacravas, den das Volk jetzt sogar als einen Heiligen verehrt, und an dessen Grab ich auch reichlich geopfert habe: der hat uns oft bewiesen, daß es solche Höllenstrafen nicht gebe, und daß der Räuber im Gegenteil das brahmandurchdrungenste Wesen und die Krone der Schöpfung sei. Doch hat er mich nie so recht davon überzeugen können. ...

Sei dem nun, wie es wolle. Ob es Höllenstrafen gibt oder nicht: – gewiß ist es, daß von allen meinen Taten nur eine mir schwer auf dem Herzen liegt, und zwar die, daß ich mit meinem schlauen Wahrheitsakt dich betrogen habe. Schon damals durfte ich dir nicht ins Gesicht sehen, und die Erinnerung an jene Stunde sitzt mir noch immer wie ein Dorn im Fleische. Nun wohl, was ich damals gegen dich verbrach, möchte ich jetzt wieder gut machen, soweit es noch möglich ist; die bösen Folgen möchte ich vernichten. Du wurdest durch meine Schuld von dem tot geglaubten Kamanita getrennt und an diesen falschen Satagira gebunden. Diese Fessel will ich dir nun abnehmen, so daß du wieder frei bist, dich mit dem Geliebten zu verbinden; und ich selber will nach Ujjeni gehen und ihn heil und sicher herbringen. Nun tue du das deinige, ich werde das meinige tun. Für eine schöne Frau ist es ja nicht schwer, dem Gemahl ein Geheimnis zu entlocken. Morgen, sobald es dunkel ist, komme ich hierher, um mir den Bescheid von dir zu holen.« Er verbeugte sich tief, und bevor es mir in meiner Verwirrung und Bestürzung möglich war, ein Wort hervorzubringen, war er so plötzlich von der Terrasse verschwunden, wie er erschienen war.


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