Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XXXV. Lautere Spende

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, ehe ich meine Lippen öffnete, aber eine recht lange Zeit, glaube ich, saß ich stumm da und ließ Alles, was mir Angulimala erzählt hatte, Punkt für Punkt vor mir auftauchen, und dachte darüber nach und wunderte mich immer mehr. Denn obwohl ich viele Sagen aus alter Zeit von göttlichen Wundern und besonders von den Wundertaten Krishnas, als er auf dieser Erde wanderte, gehört hatte, so kamen sie mir doch alle miteinander geringfügig vor, wenn ich sie mit dem verglich, was an diesem Tage Angulimala im Walde widerfahren war.

Und ich fragte mich nun selber, ob jener große Mann, der in wenigen Stunden aus dem schrecklichen Räuber diesen sanften Menschen, der soeben zu mir gesprochen, gemacht hatte – jener »Vollendete«, der das Wildeste, was es in der ganzen Natur gab, so leicht und sicher gezähmt hatte: ob er nicht auch imstande sei, mein friedloses, von Leidenschaften stürmisch bewegtes Herz zu beruhigen und durch das Licht seiner Worte die nächtige Trauerwolke von ihm zu verscheuchen? Oder war dies vielleicht noch schwieriger, ja wohl gar eine Aufgabe, deren Lösung selbst die Kräfte des heiligsten Asketen überstieg?

Fast fürchtete ich, das letztere möchte der Fall sein, aber ich fragte doch, wo wohl jener große Asket, den er seinen Meister nannte, sich aufhielte, und ob auch ich ihn wohl aufsuchen könne.

»Recht so,« antwortete Angulimala, »daß du sofort danach fragst – und wonach solltest du auch sonst fragen? Deshalb bin ich ja zu dir gekommen. Die wir im Bösen Verbündete sein wollten, wir werden es jetzt im Guten sein. Der Erhabene weilt jetzt im Sinsapawalde, von dem du selber sprachst. Begib dich morgen dorthin, aber erst gegen Abend. Denn dann haben die Mönche ihre Gedenkenruhe beendigt und versammeln sich am alten Krishnatempel, und der Erhabene spricht da zu ihnen und zu den sonst Anwesenden. Zu dieser Stunde gehen nämlich viele Männer und Frauen von der Stadt dort hinaus, um den Gesegneten zu sehen und seinen lichtspendenden Worten zu lauschen; und mit jedem Abend wird der Andrang größer. Oft dauert ein solcher Vortrag bis in die späte Nacht hinein. Von alledem war ich schon genau unterrichtet, weil ich in der Sündhaftigkeit meines Herzens den scheußlichen Plan geschmiedet hatte, mit meinen Leuten nächstens die Versammlung zu überfallen. Die Gaben an Lebensmitteln und Stoffen, die viele der Besucher als Geschenke für den Orden mitbringen, bilden schon eine – wenn auch nicht reiche – so doch keineswegs ganz zu verschmähende Beute. Besonders aber gedachte ich einige vornehme Bürger aufzuheben und schweres Lösegeld von ihnen zu erpressen, und verband damit die Hoffnung, durch einen so dreisten Handstreich, gerade vor den Toren der Stadt, Satagira endlich aus den Mauern herauszulocken. Denn als ich den Plan faßte, war mir seine bevorstehende Reise noch unbekannt. – Versäume also nicht, edle Frau, morgen gegen Abend nach dem alten Krishnatempel zu gehen, das wird dir lange zum Heil gereichen. Mich verlangt es jetzt eiligst dahin zu kommen, ob ich wohl noch etwas hören werde. Doch in solchen schönen Mondnächten bleiben die Mönche lange beisammen, in religiöse Gespräche vertieft, und erlauben Einem gern zuzuhören.«

Er verbeugte sich tief vor mir und entfernte sich schnell. –

Am nächsten Vormittage schickte ich nach Medini, die nun ebenso bereit war, mit ihrem Gatten Somadatta mir Gefolge nach dem Krishnahain zu leisten, wie damals, als es sich darum handelte, die Begegnung zweier Liebenden zu vermitteln. In der Tat hatte sie schon vorher einmal ihren Gatten gebeten, sie eines Abends dort hinaus zu bringen, denn sie ließ sich nicht leicht etwas entgehen, wovon die Leute sprachen. Somadatta aber hatte sich vor dem Hausbrahmanen gefürchtet, und so war sie denn hocherfreut, durch die Aufforderung der Ministersgattin jenem Tyrannen gegenüber gedeckt zu sein.

Wir fuhren sofort nach den Kaufhallen, wo Somadatta, der dort seine Geschäfte besorgte, uns behilflich war, solche Stoffe auszusuchen, die für die Bekleidung der Mönche und der Nonnen geeignet waren. Auch kaufte ich dort eine große Menge Arzneien. Wieder nach Hause gekommen, plünderten wir die Vorratskammern: Krüge mit dem feinsten Öl, Kisten mit Honig, mit Butter und mit Zucker, Schüsseln mit Eingemachtem aller Art wurden für unseren frommen Zweck zur Seite gestellt. Meine eigenen Schränke mußten das Ausgesuchteste, was sie an wohlriechendem Wasser, Sandelstaub und Kampfer bargen, hergeben, und dann ging es in den Garten, dessen Blumenflor nicht geschont wurde.

Als die ersehnte Stunde kam, waren schon alle diese Sachen auf einen mit Maultieren bespannten Wagen geladen. Wir selber nahmen unter dem Zelte eines anderen Wagens Platz, und von den zwei silberweißen Vollblut-Sindhrossen gezogen, die jeden Morgen dreijährigen Reis aus meiner Hand fraßen, fuhren wir zum Stadttor hinaus.

Die Sonne näherte sich schon den Kuppeln und Türmen der Stadt hinter uns, und ihre Strahlen vergoldeten den Staub, der den ganzen Weg entlang aufgewirbelt wurde von den vielen, die wie wir – meistens jedoch zu Fuß – hinauspilgerten, um den Buddha zu sehen und zu hören.

Bald erreichten wir den Eingang zum Walde. Hier ließen wir die Wagen halten und begaben uns zu Fuß weiter, von Dienern gefolgt, welche die mitgebrachten Weihgeschenke trugen.

Seit jener Nacht aber, als wir dort voneinander Abschied nahmen, war ich in diesem Walde nicht wieder gewesen. Als ich nun – in derselben Begleitung – in seinen kühlen Schatten eintrat, überwältigte mich ein solcher Erinnerungsduft, der, gleichsam für mich hier aufgespeichert, im Verlaufe der Jahre seine Süßigkeit bis zur Giftigkeit konzentriert hatte, daß ich betäubt stehen blieb. Es war mir, als ob meine Liebe, in voller Stärke erwacht, sich mir in den Weg stellte, mich der Fahnenflucht und des Verrates zeihend. Denn ich kam ja nicht hierher, um ihr durch Einatmen des Erinnerungsduftes neue Nahrung zu geben, sondern um für mein enttäuschtes und gequältes Herz den Frieden zu suchen. Hieß das aber nicht vergessen, der Liebe entsagen wollen? War das nicht Wortbruch und feiger Verrat?

In solchem bangen Zweifel stand ich da, unschlüssig, ob ich weitergehen oder umkehren solle – zu großer Enttäuschung Medinis, die vor Ungeduld trippelte, wenn Andere uns überholten.

Jedoch der Anblick dieses Waldinneren, von der späten Nachmittagssonne mild und goldig durchstrahlt – das leise, gleichsam mahnende Rauschen und Lispeln der Blätter – die Leute, die beim Eintreten sofort verstummten und sich erwartungsvoll, fast scheu umsahen – hier und dort, in einiger Entfernung, am Fuße eines mächtigen Baumstammes, ein in die Falten seines gelben Mantels gehüllter Asket, mit untergeschlagenen Beinen und in Selbstvertiefung versunken, aus der erwachend wohl dann auch dieser und jener sich erhob und, ohne sich umzusehen, dieselbe Richtung einschlug, in der alle einem noch unsichtbaren Ziele zustrebten: – alles dies trug einen so still erhabenen Charakter und schien davon zu zeugen, daß hier Geschehnisse vorgingen so seltener, ja heiliger Art, daß sich keine Macht in der Welt dagegen stellen dürfte, ja, daß selbst die Liebe, wenn sie ihre Stimme dagegen erhöbe, ihres ganzen göttlichen Rechtes verlustig gehen würde.

So schritt ich denn entschlossen weiter, und die an Angulimala gerichteten Worte des Erhabenen von den vielen Menschengeschlechtern, die dahinleben, ohne daß ein Buddha in der Welt wäre, und von den so äußerst wenigen selbst unter den Zeitgenossen eines Buddha, denen es beschieden sei, ihn zu hören und zu sehen – diese Worte hallten mir im Ohre, wie das Läuten einer Tempelglocke, und ich fühlte mich wie eine Gebenedeite, die einem Erlebnisse entgegengeht, um welches kommende Geschlechter sie beneiden.

Als wir die Lichtung erreichten, wo die Tempelruine stand, waren hier schon viele Leute versammelt, sowohl Laien wie Mönche. Sie standen in Gruppen verteilt, die meisten in der Nähe der Ruine, die sich uns gegenüber erhob. Nahe an der Stelle, wo wir die Waldwiese betraten, bemerkte ich eine größere Gruppe von Mönchen, unter welchen mir ein wahrer Riese auffallen mußte, denn er überragte auch die höchsten neben ihm Stehenden um Haupteslänge.

Während wir uns nun umsahen, wohin wir wohl am besten unsere Schritte lenken sollten, trat zwischen uns und jenen Mönchen ein alter Asket aus dem Walde heraus. Seine hohe Gestalt hatte eine so königliche Haltung, und eine so heitere Ruhe strahlte aus seinen edlen Zügen, daß mir sofort der Gedanke kam: ob dieser Asket wohl der Sakyersohn sein sollte, den sie den Buddha nennen?

In seiner Hand trug er einige Sinsapablätter, und an jene Mönche sich wendend, sprach er:

»Was meint ihr, ihr Jünger, was ist mehr, diese Sinsapablätter, die ich in der Hand halte, oder die anderen Blätter droben im Sinsapawalde ?«

Und die Mönche antworteten:

»Die Blätter, die der Erhabene in der Hand hält, sind wenige, und viel mehr sind jene Blätter droben im Sinsapawalde.«

»So auch,« sagte er, der – wie ich jetzt wußte – der Buddha war – »so auch, ihr Jünger, ist das viel mehr, was ich erkannt und euch nicht verkündet, als das, was ich euch verkündet habe. Und warum, ihr Jünger, habe ich euch jenes nicht verkündet? Weil es euch keinen Gewinn bringt, weil es nicht den Wandel in Heiligkeit fördert, weil es nicht zur Abkehr vom Irdischen, zum Untergang aller Lust, zum Aufhören des Vergänglichen, zum Frieden, zum Nirvana führt.« »So hatte also jener törichte Greis doch darin recht!« rief Kamanita. ›Welcher Greis?‹ fragte Vasitthi.

Jener Asket, mit dem ich – wie ich dir erzählte – im Vororte Rajagahas, in der Halle eines Hafners, die Nacht zubrachte, die letzte meines Erdenlebens. Er wollte mir durchaus die Lehre des Erhabenen darlegen, was ihm, wie ich wohl merkte, nicht sonderlich gelang. Aber er brachte doch offenbar viele echte Aussprüche vor, und unter diesen eben auch wortgetreu, was du mir jetzt berichtet hast – sogar den Ort gab er richtig an und bewegte mich dadurch tief. Freilich, hätte ich geahnt, daß du dabei anwesend warst, dann wäre ich noch tiefer ergriffen worden.‹

›Er mag wohl selber sich unter den Anwesenden befunden haben,‹ sagte Vasitthi, ›jedenfalls hat er dir genau berichtet. Und der Erhabene fügte noch hinzu:

»Und was, ihr Jünger, habe ich euch verkündet? Was das Leiden ist, habe ich euch verkündet. Was die Entstehung des Leidens ist, was die Leidensvernichtung ist, was der zur Leidensvernichtung führende Weg ist – dies alles habe ich euch verkündet. Darum, ihr Jünger, was ich offenbart habe, das lasset offenbart sein, und was ich unoffenbart gelassen habe, das lasset unoffenbart bleiben.«

Indem er diese Worte sprach, öffnete er die Hand und ließ die Blätter fallen. Als nun das eine wirbelnd in meine Nähe hinflatterte, nahm ich mir ein Herz, trat eilig hervor und fing es auf, noch bevor es die Erde berührt hatte, indem ich es somit gleichsam aus seiner Hand empfing – um dann dies unschätzbare Erinnerungszeichen an meinem Busen zu verbergen, ein Symbol des Wenigen, aber einzig Nötigen, das uns der Vollendete aus seinem unermeßlichen Wissenshort mitteilte, das mich bis zu meinem Tode nicht mehr verlassen sollte.

Diese meine Bewegung zog die Aufmerksamkeit des Erhabenen auf mich. Jener riesenhafte Mönch verbeugte sich jetzt vor ihm und machte ihm flüsternd eine Mitteilung, worauf der Meister mich noch einmal ansah und dann dem Mönche einen Wink gab.

Dieser trat auf uns zu.

Wir verneigten uns alle tief, und ich sagte, daß ich, die Gemahlin des Ministers Satagira, einige geringe Gaben für den Orden der Heiligen mitgebracht hätte, um deren gütige Annahme ich bäte, und daß wir alle gekommen wären, um die Worte der Wahrheit zu vernehmen.

»Tritt näher, edle Frau,« sagte der Mönch – und sofort hörte ich, daß es Angulimala war – »der Erhabene will selber deine Gaben in Empfang nehmen.«

Wir traten alle bis auf ein paar Schritte an den Erhabenen heran und verneigten uns tief, ihn ehrfurchtsvoll mit den vor der Stirn gehaltenen, zusammengelegten Händen begrüßend, ohne daß ich ein Wort hervorzubringen vermochte.

»Reich sind deine Gaben, edle Frau,« sagte der Erhabene, »und meine Jünger haben wenige Bedürfnisse. Erben der Wahrheit sind sie, nicht Erben der Not. Aber auch die Buddhas der Vorzeit haben es so gehalten und gern Spenden frommer Anhänger entgegengenommen, damit diesen Gelegenheit werde, die Tugend des Almosengebens zu üben. Denn wenn die Wesen die Frucht des Gebens kennten, wie ich sie kenne, dann würden sie, wenn sie auch nur eine Handvoll Reis übrig hätten, diese nicht verzehren, ohne einem noch Ärmeren davon zu geben, und der Gedanke des Eigennutzes, der ihren Geist verdunkelt, würde aus ihm entweichen. So sei denn deine Spende vom Orden des Buddha mit Dank angenommen – eine lautere Spende. Denn das nenne ich eine lautere Spende, durch welche der Geber geläutert wird und der Empfänger auch. Und wie geschieht das? Da ist, Vasitthi, der Geber sittenrein, edel geartet, und die Empfänger sind sittenrein, edel geartet; so wird bei einer Spende der Geber geläutert und der Empfänger. Das ist, Vasitthi, höchste Lauterkeit der Spende – einer solchen, die du dargebracht hast.«

Darauf wandte der Erhabene sich an Angulimala:

»Geh, mein Lieber, und laß diese Geschenke zu den Vorräten bringen. Zuerst aber weise unseren edlen Gästen Plätze an vor den Stufen des Tempels, denn von dort aus werde ich den heute Anwesenden die Lehre darlegen.«

Angulimala hieß die Diener warten und forderte uns auf, ihm zu folgen. Zuerst aber ließen wir uns alles, was wir an Blumen mitgebracht hatten, und auch einige schöne Teppiche herausgeben. Dann gingen wir, von unserm stattlichen Begleiter geführt, durch die zusammenströmende Menge, die uns ehrerbietig Platz machte, nach dem Tempel.

Hier breiteten wir die Teppiche über die Stufen und schlangen Blumengewinde um die alten, verwitterten und zerbröckelten Säulen. Dann zerpflückten Medini und ich einen ganzen Korb voll Rosen und streuten die Blütenblätter über den Teppich auf der obersten Stufe, für den Erhabenen, darauf zu stehen.

Unterdessen hatten die Versammelten sich in einem großen Halbkreise geordnet, die Laien links, die Mönche und Nonnen rechts vom Tempel – die vordersten Reihen im Grase sitzend. Und auch wir nahmen jetzt auf einer umgestürzten Säule Platz, nur wenige Schritte von den Stufen entfernt.

Es mochten wohl etwa fünfhundert Menschen dort versammelt sein, aber eine fast lautlose Stille herrschte in der Runde, und man vernahm nur das stoßweise Rauschen und das leise Blätterlispeln des Waldes.


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