Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Denn es geschah einmal, daß in Kamanita ein Gefühl von Unbehagen, von Mangel aufstieg.
Da richtete er unwillkürlich seine Aufmerksamkeit auf den hunderttausendfachen Brahma, als die Quelle aller Fülle. Aber jene Empfindung wurde dadurch nicht verscheucht, sondern nahm von Jahrtausend-Dekade zu Jahrtausend-Dekade fast bemerkbar zu. Denn durch jenes aufsteigende Gefühl war der bisher unmerkbar stille Strom der Zeit auf Widerstand gestoßen, wie durch eine auftauchende Insel, an deren Felsenriff er jetzt schäumend vorüberflutete. Und es entstand sofort ein »Vorher« und ein »Nachher« – wie in einem Flusse durch ein auftauchendes Riff ein »vor« und »nach« der Stromschnelle entsteht.
Und es schien Kamanita, als ob der hunderttausendfache Brahma jetzt nicht ganz so klar leuchte, wie vorher.
Nachdem er aber fünf Millionen Jahre den Brahma betrachtet hatte, kam es ihm vor, als ob er ihn jetzt schon lange beobachtet habe, ohne Gewißheit zu erlangen.
Und er richtete seine Aufmerksamkeit auf Vasitthi.
Da wurde er inne, daß auch sie aufmerksam den Brahma beobachtete.
Da geriet er in Bestürzung. Mit dieser Bestürzung kamen die Gefühle. Mit den Gefühlen kamen die Gedanken, mit den Gedanken kam die Gedankensprache.
Und er sprach:
»Vasitthi, siehst du es auch? Was ist es mit dem hunderttausendfachen Brahma?«
Nach hunderttausend Jahren antwortete Vasitthi:
»Das ist es mit dem hunderttausendfachen Brahma, daß sein Glanz abnimmt.«
»Mir will es auch so scheinen,« sagte Kamanita nach Ablauf einer gleichen Zeit. »Freilich kann das ja nur eine vorübergehende Erscheinung sein. Aber schon das kommt mir wunderlich vor, daß am hunderttausendfachen Brahma überhaupt eine Veränderung stattfinden kann.«
Nach geraumer Weile, nach einigen Millionen Jahren, sprach Kamanita weiter:
»Ich weiß nicht, ob ich vielleicht geblendet bin. Bemerkst du etwa, Vasitthi, daß der Glanz des hunderttausendfachen Brahma wieder zunimmt?«
Nach fünfmal hunderttausend Jahren antwortete Vasitthi:
»Der Glanz des hunderttausendfachen Brahma nimmt nicht zu, sondern nimmt stätig ab.«
Wie ein Stück Eisen, das, weißglühend aus dem Schmiedeofen genommen, bald danach rotglühend wird: also hatte der Glanz des hunderttausendfachen Brahma jetzt einen rötlichen Schein bekommen.
»Mich wundert, was das wohl zu bedeuten hat,« sagte Kamanita.
»Das hat es zu bedeuten, mein Freund, daß der Glanz des hunderttausendfachen Brahma im Erlöschen begriffen ist.«
»Unmöglich, Vasitthi, unmöglich! Was würde dann aus dem Glanze und der Herrlichkeit dieser ganzen Brahmawelt werden?«
»Daran hat er gedacht, als er sagte:
›Bis in den höchsten Lichthimmel drängt das Leben sich – und zerfällt.
Wisset, einmal erlischt gänzlich auch der Glanz einer Brahmawelt.‹«
Schon nach einigen tausend Jahren erfolgte die ängstlich überstürzte Frage Kamanitas: »Wer hat denn diesen schrecklichen, diesen weltzermalmenden Ausspruch getan?«
»Wer sonst, als er, der Erhabene, der Weltkenner, der Vollendete, der Buddha.«
Da wurde Kamanita nachdenklich.
Eine geraume Zeit überlegte er sich diese Worte und erinnerte sich an manches.
Da sprach er:
»Einst schon, o Vasitthi, in Sukhavati, im Paradiese des Westens, sagtest du einen Spruch des Buddha her, der sich vor unseren Augen erfüllte. Und ich besinne mich, wie du dort eine ganze Rede von ihm, dem Erhabenen, mir treu berichtetest, in welcher jener Spruch vorkam. Dies weltzermalmende Wort aber war darin nicht enthalten. So hast du denn, o Vasitthi, noch andere Reden vom Erhabenen gehört?«
»Viele, mein Freund, denn mehr als ein halbes Jahr verbrachte ich täglich in seiner Nähe. Ja, auch sogar die letzten von ihm geäußerten Worte habe ich vernommen.«
Kamanita sah sie mit Bewunderung und Ehrfurcht an. Dann sprach er:
»So bist du eben deshalb, wie ich meine, das weiseste Wesen in dieser ganzen Brahmawelt. Denn alle diese Sternengötter ringsum sind in Bestürzung geraten, leuchten unstät, flackern und blinken; und auch der hunderttausendfache Brahma selber ist unruhig geworden, und aus seinem trüberen Glanze zucken dann und wann gleichsam Zornesblitze hervor. Du aber leuchtest ruhig, wie eine Lampe an windstillem Ort. Und auch das ist ein Zeichen der Störung, daß die Bewegung dieser Himmelskörper jetzt hörbar wird – wie wir einst, fern von hier, im Paradiese am Gestade der himmlischen Ganga stehend, donnerartige Klänge und mächtige Töne wie von fernem Glockengeläute aus dieser Brahmawelt vernahmen, so hören wir es jetzt von allen Seiten. Das deutet darauf, daß die Harmonie der Bewegungen gestört ist, daß Entzweiung und Auseinandertreten der Kräfte sich einstellt. Denn richtig heißt es ja: ›Wo Mangel ist, wird Lärm erzeugt, die Fülle ist in sich gefaßt.‹ Und so zweifle ich nicht daran, daß du recht hast. Wohlan, Vasitthi, während ringsum uns nun diese Brahmawelt erlischt und der Vernichtung anheimfällt, teile du mir deine Erinnerungen an den Vollendeten mit, damit ich ruhig werde wie du. Teile mir Alles aus deinem Leben mit! denn wohl mag es sein, daß wir zum letzten Male an einem Orte vereinigt sind, wo Geschehnisse von Geist zu Geist sich mitteilen lassen, und noch bleibt es mir unerklärlich, wie Angulimala bei mir in Ujjeni erschien, obwohl ich über sein Asketentum aufgeklärt wurde. Jene seine Erscheinung aber gab den Anstoß zu meinem Pilgergang, war die Ursache, daß ich nicht auf abschüssige Pfade kam, sondern im Paradiese des Westens auferstand, um von dort aus, durch deine Hilfe, zu dieser höchsten Himmelswelt emporzusteigen, wo wir unermeßliche Zeiträume hindurch göttliches Leben genossen haben. Es ahnt mir aber, daß auch jener Anstoß zu meiner Pilgerschaft von dir ausging. Dies nun, vor allem aber auch, wie es kam, daß du zu meinem Heile im Paradiese erschienst und nicht an einem weit höheren Orte der Seligkeit wieder ins Dasein tratest, möchte ich nun erfahren.«
Und während von Jahrhunderttausend zu Jahrhunderttausend die zunehmende Trübung des Brahmaglanzes immer bemerkbarer wurde und die Sternengötter immer mehr erblaßten;
während diese immer unruhiger flackerten und sprühten, und aus dem trüber werdenden Glutkreise des Brahma ungeheure Flammenstreifen hervorschossen und durch den ganzen Raum hin und her fegten, als ob der Gott mit hundert Riesenarmen nach dem unsichtbaren Feinde suchte, der ihn bedrängte;
während durch die gestörten Bewegungen der Himmelskörper sich Wirbelströmungen erhoben, die ganze Sternensysteme aus dem Brahmareiche hinausrissen, an deren Stelle dann die Finsterniswelle des leeren Raumes hereinbrach, wie das Meerwasser da hereinstürzt, wo das Schiff einen Leck bekommen hat;
und während an anderen Stellen Systeme ineinander gerieten und ein Weltbrand sich entzündete, dessen Explosionen Garben von Sternschnuppen bis in den Glutschlund des Brahma schleuderten;
während die Donnerschläge der zusammenbrechenden und ineinanderstürzenden Harmonien – das Todesröcheln der Sphärenmusik – immer furchtbarer von Himmelsgegend zu Himmelsgegend rollten und widerhallten: –
teilte Vasitthi unverstört, in gemessener Weise, Kamanita ihre letzten irdischen Erlebnisse mit.