Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Also: Das 476. Sutram lautet: »Auch die göttliche, meint ihr? – Nein! – Unverantwortlichkeit – wegen des Raumes, der Schrift, der Tradition.« Der ehrwürdige Vajaçravas kommentiert dies folgendermaßen:
»Auch die göttliche –« nämlich Strafe. Denn im vorhergehenden Sutram war von solchen Strafen die Rede, welche der Fürst oder die Obrigkeit über den Räuber verhängt, als da sind: Hand-, Fuß- und Nasenverstümmelung, der Breikessel, der Pechkranz, das Drachenmaul, das Spießrutenlaufen, der Marterbock, die siedende Ölbeträufelung, die Enthauptung, das Zerreißen durch Hunde, die Pfählung bei lebendigem Leibe – hinreichende Gründe, warum der Räuber sich womöglich nicht fangen lassen darf, wenn er aber doch gefangen worden ist, auf jede Weise zu entfliehen versuchen soll.
Nun meinen einige: auch göttliche Strafe drohe dem Räuber. »Nein,« sagt unser Sutram; und zwar deshalb nicht, weil Verantwortungslosigkeit statthat. Welches auf drei Weisen ersichtlich ist: durch Vernunft, durch den Veda und durch die überlieferten Heldenlieder.
»Wegen des Raumes« – hiermit ist folgende Vernunfterwägung gemeint. Wenn ich einem Menschen oder einem Tier den Kopf abhaue, so fährt das Schwert zwischen die unteilbaren Teilchen hindurch; denn diese selbst kann es, eben wegen ihrer Unteilbarkeit, nicht durchschneiden. Was es durchschneidet, ist der die Teilchen trennende leere Raum. Diesem aber kann man, eben wegen seiner Leerheit, keinen Schaden zufügen. Denn einem Nichts schaden ist gleich: nicht schaden. Folglich kann man durch dies Durchschneiden des Raumes keine Verantwortlichkeit auf sich laden, und eine göttliche Strafe kann nicht stattfinden. Wenn aber dies vom Töten gilt, wieviel mehr dann von Handlungen, die von den Menschen geringer bestraft werden!
Soweit die Vernunft, nunmehr die Schrift.
Der heilige Veda lehrt uns, daß das einzige wahrhaft Existierende, die höchste Gottheit, das Brahman ist. Wenn dies aber wahr ist, dann ist offenbar alle Tötung eine leere Täuschung. Dies sagt auch der Veda mit deutlichen Worten an der Stelle, wo Yama, der Todesgott, den jungen Naçiketas über dies Brahman belehrt und unter anderem sagt:
Wer, tötend, glaubt, daß er tötet,
Wer, getötet, zu sterben glaubt,
Irr geht dieser wie jener: –
Der stirbt nicht, und der tötet nicht.
Noch überzeugender aber wird diese abgründige Wahrheit im Heldenliede von Krishna und Arjuna uns offenbart. Denn Krishna, der an sich das ungewordene, unvergängliche, ewige, allgewaltige, unerdenkliche Wesen war, der höchste Gott, der sich zum Heil der Wesen als Mensch hatte gebären lassen – Krishna half in den letzten Tagen seines Erdenwandelns dem Könige der Panduinge, dem hochherzigen Arjuna, im Kriege gegen die Kuruinge, weil diese ihm und seinen Brüdern großes Unrecht getan hatten. Als nun die beiden Heere in Schlachtordnung ihre waffenstrotzenden Reihen einander gegenüberstellten, erblickte Arjuna auf der gegnerischen Seite manchen einstigen Freund, manchen Vetter und Gevatter der vergangenen Tage: denn die Panduinge und die Kuruinge waren Söhne von zwei Brüdern. Und Arjuna ward im Herzen innig gerührt, und er zögerte, das Zeichen zur blutigen Schlacht zu geben; denn er mochte nicht jene töten, die einst die Seinen gewesen. So stand er gesenkten Hauptes, von schmerzlichem Zaudern zernagt, unschlüssig auf seinem Streitwagen: und neben ihm der goldene Gott, Krishna, der sein Wagenlenker war. Und Krishna erriet die Gedanken des edlen Pandaverfürsten. Und er zeigte lächelnd auf die beiden Heeresmassen und belehrte ihn, wie alle jene Wesen nur scheinbar entstehen und vergehen, weil in ihnen allen nur das eine unerstandene und unvergängliche, von der Geburt und vom Tode unberührte Wesen besteht:
Wer einen für den Mörder hält,
Wer einen hier gemordet meint,
Der kennt und weiß von beiden nichts: –
Denn Keiner mordet, Keiner stirbt.
Wohlan, den Kampf beginne du!
Solchermaßen belehrt, gab der Pandaverfürst das Zeichen zum Beginn der ungeheuren Schlacht und siegte. Also machte Krishna, der menschgewordene höchste Gott, durch Offenbarung dieser großen Geheimlehre Arjuna von einem flachsinnigen und weichherzigen Mann zu einem tiefsinnigen und hartherzigen Weisen und Helden.
So gilt denn nun in Wahrheit folgendes: Was Einer begeht und begehen läßt: wer zerstört und zerstören läßt, wer schlägt und schlagen läßt, wer Lebendiges umbringt, Nichtgegebenes nimmt, in Häuser einbricht, fremdes Gut raubt: Was Einer begeht, er ladet keine Schuld auf sich. – Und wer da gleich mit einer scharf geschliffenen Schlachtscheibe alles Lebendige auf dieser Erde zu einer einzigen Masse Mus, zu einer einzigen Masse Brei machte, der hat darum keine Schuld, begeht kein Unrecht. Und wer auch am südlichen Ufer der Ganga verheerend und mordend dahinzöge, so hat der darum keine Schuld: und wer da auch am nördlichen Ufer der Ganga spendend und schenkend dahinzöge, so hat der darum kein Verdienst. Durch Milde, Sanftmut, Selbstverzicht erwirbt man kein Verdienst, begeht man nichts Gutes.
Und es folgt nun das erstaunliche, ja schreckliche
477. Sutram,
welches in seiner frappanten Kürze lautet:
»Vielmehr – wegen des Essers.«
Den Sinn dieser wenigen, in tiefstes Geheimnis sich hüllenden Worte erschließt uns der ehrwürdige Vajaçravas folgendermaßen:
Weit davon entfernt, daß göttliche Strafe dem Räuber und Totschläger droht, findet »vielmehr« das Entgegengesetzte statt: nämlich Gottähnlichkeit, was aus den Vedastellen hervorgeht, wo der höchste Gott als der »Esser« gepriesen wird, wie:
Der Krieger und Brahmanen ißt wie Brot,
Das mit des Todes Brühe er begießt.
Wie nämlich die Welt in Brahman ihren Ursprung hat, so auch ihr Vergehen, indem das Brahman sie immer wieder hervorgehen läßt und sie immer wieder vernichtet. Gott ist somit nicht nur der Schöpfer, sondern auch der Verschlinger aller Wesen, von denen hier nur »Krieger und Brahmanen« genannt werden, als die Vornehmsten, die für alle stehen. Wie es denn auch an einer anderen Stelle heißt:
Ich esse Alle, aber mich ißt niemand.
Diese Worte sagte nämlich der höchste Gott, als er in der Gestalt eines Widders den Knaben Medhatithi zur Himmelswelt trug. Denn ungehalten über seine gewaltsame Entführung verlangte dieser zu wissen, wer sein Entführer sei: »Sage mir, wer du bist, sonst werde ich, ein Brahmane, dich mit meinem Zorn treffen.« Da gab nun der Widdergestaltige sich zu erkennen als jenes höchste Brahman, das Alles in Allem ist, mit den Worten:
Wer ist's, der tötet und gefangen nimmt?
Wer ist der Widder, der dich führt von dannen?
Ich bin es, der in dieser Form erscheint,
Ich bin es, der erscheint in allen Formen.
Wenn Einer fürchtet sich vor was auch immer,
Ich bin's, der fürchtet und der fürchten macht;
Doch in der Größe ist ein Unterschied:
Ich esse Alle, aber mich ißt niemand.
Wer könnte mich erkennen, wer erklären?
Ich schlug die Feinde alle, mich schlug niemand.
Hier muß es nun auch dem blödesten Auge klar werden, daß die Brahmanähnlichkeit nicht darin liegen kann, geschlagen und gegessen zu werden – wie es der Fall sein müßte, wenn Sanftmut und Selbstverzicht etwas Gutes wäre – sondern im Gegenteil darin, alle Anderen zu schlagen und zu essen – d. h. auszunutzen und zu vernichten – selbst aber von niemand Schaden zu leiden.
Es kann demnach keinem Zweifel unterliegen, daß jene Lehre – von der Höllenstrafe der Gewalttäter – von den Schwachen erfunden ist, um sich vor der Gewalttätigkeit der Starken zu schützen, indem sie dadurch die letzteren einschüchtern wollen.
Und wenn im Veda einige Stellen diese Lehre enthalten, so müssen sie – weil mit den Hauptsätzen unvereinbar – von jenen fälschlich eingeschoben worden sein.
Wenn also der Rigveda sagt, daß, obwohl die ganze Welt eigentlich das Brahman ist, der Gott dennoch den Menschen als das Brahmandurchdrungenste erkenne: – so muß nunmehr anerkannt werden, daß unter den Menschen wiederum der echte und wahre Räuber das Brahmandurchdrungenste Wesen ist und somit die Krone der Schöpfung darstellt. Was aber den Dieb anbelangt, der sich zur Räuberschaft nicht erhebt, so ist es, weil die Schrift des öfteren erklärt, daß die Meinung »dies gehört mir« eine Wahnvorstellung ist, die dem höchsten Zwecke des Menschen hinderlich ist, ohne weiteres klar, daß der Dieb, der eben die beständige tatsächliche Widerlegung jenes Wahnes »dies gehört mir« zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, die höchste Wahrheit vertritt. Doch steht, wegen seiner Gewalttätigkeit, der Räuber höher.
So ist denn nun das »Krone-der-Schöpfung-Sein« des Räubers erwiesen, sowohl durch Vernunfterwägung, wie mittelst der Schrift, und ist als unwiderlegbar zu betrachten.