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XVII. Das Liebesnest in der Düne

Seit jenem Malheur bei der Table d'hote hatte Frau Lemke übrigens – ohne daß sie es wußte – ihren Spitznamen weg.

»Weeßte, Mamachen, wie se dir hier nennen – et is schrecklich!« sagte Fräulein Lieschen.

»Na?«

»Das falsche Gebiß!«

»Wer nennt mia so und woher weeßte det?«

»Frage man Edwin – der wird's dir auch sagen.«

»So – na, dajejen läßt sich nischt machen, hia hat ja jeda seene beson'nere Bezeichnung«, sagte Frau Lemke.

»Ick werd' mia da nich jroß drieba uffrejen, obschon ick keenen jeraten haben möchte, mia so anzureden.«

»Wo is denn heute Vata?« fragte Lieschen.

»Sehste, wennste dia nich den janzen Taj wo an'ners rumtreiben möchtest, denn wirdste wissen, det er heite mit Onkel Karreln uff die Seehundsjagd jejangen is. Wat ick dia aba frajen möchte: Wo is deen Bruda Edwin und wo steckt ihr beede denn imma die janze Zeit?«

»Wir sind da hinten an'n Strand!«

»Wer is det ›wia‹?«

»Na wir – Edwin und ick und unsere Bekannten!«

»Wat sind det for Bekannte – von dia hör' ick ja det erste Mal ibahaupt,« sagte Frau Lemke streng.

Fräulein Lieschen wurde verlegen: »Bloß eine Schulfreundin von mia und ein Bekannter von Edwin!«

»Is denn da Ha Fiedla bei?«

»Manchmal« – – – sagte Lieschen.

»Die Jeschichte kommt mia höchst vadächtig vor,« sagte Frau Lemke, »wa'm treibt ihr eich denn da hinten 'rum und kommt nich nach die Burj, wo ihr't doch so scheen habt?«

»Wir gehen lieber an'n Strand spazieren.«

»So? Und wie heeßt denn deine Schulfreundin?«

»Carla Peterson!«

»Aha – det is ja die sojenannte Braut von Edwin, nu wird mia ja vieles klar,« sagte Frau Lemke, »und wie heeßt der Bekannte?«

»Kiehnast!«

»Und mit'n Vornamen?«

»Hans!«

»Det is woll deen Bräutjam?«

Lieschen begann zu weinen: »Hätt' ick dir's man lieber nich jesajt von dein'n Spitznamen, nu willste dein'n Ärger an mir auslassen,« schluchzte sie.

»Nimm dia in acht, det ick nich janz beese werde,« drohte Frau Lemke. »Bloß jut, det ick noch rechtzeitij hinta diese Jeschichte jekommen bin. Ick werde aba den Ha'n Fiedla zu Rede stellen, det er eich nich bessa beuffsichtigt!«

»Der pussiert ja auch,« sagte Lieschen.

Frau Lemke sah ihr Töchterchen sprachlos an. Und dann – in ganz sanftem, freundlichen Ton – fragte sie: »Mit wen pussiert denn Ha Fiedla?«

»Na mit die Jouvernante von meener Freundin!«

»Imhim,« machte Frau Lemke.

»Wenn die beede von dir sprechen, sajen sie immer: ›Das falsche Gebiß‹!«

»So!«

»Ja – ick hab' mich auch schon immer drüber geärgert,« sagte Lieschen, in der Hoffnung, sich bei der Mutter wieder einschmeicheln zu können.

»Aba frieha a's heite hastet nich for nötig befunden, ooch nua een'n Ton zu sajen!«

»Ick hab's dir doch erzählt ...«

»Und Ha Fiedla nennt mia ooch so?« Als Lieschen nickte, sagte Frau Lemke: »Is jut – nu broochste nich weita drieba zu reden, det an'nere wird sich schon finden. Und wennste jetz bei deene Freindin jehen wi'st, hab' ick nischt jejen, denn loof man!«

»Adje – Mama ...!«

»Adje, meene Tochta!«

Nachdenklich sah Frau Lemke dem Mädchen nach; zum erstenmal kam es ihr zum Bewußtsein, daß Lieschen in den letzten Jahren ein hochgeschossenes, überraschend hübsches Ding geworden war.

»In bisken majer und 'n bisken keesig in't Jesichte – aba sonst ...! Die is janz aus die Art jeschlajen – von mia hat se bloß die Haare – von Willem aba janischt – wat wirden sich jetzt die Leite det Maul zareißen und olle Jeschichten uffriehren, wenn se Vajleiche anstellen könnten! Wat hat mia Tante Liese und die andern dunnemals vadechtijt mit den Kerl, den Hahn – na, und denn muß et so kommen! Onkel Karrel denkt, wenn er sich Schweijejelder bezahlen läßt, denn kommt nischt raus – hä – kommt alles 'raus!«

Sie faßte in die Rocktasche und zog einen etwas zerknitterten Brief hervor, glättete ihn und las nochmals, was ihr Tante Marie von Berlin, vom Großvater und der Verwandtschaft berichtete. Neulich war – schrieb Tante Marie – ihr Mann zu Besuch gekommen. »Denke dir man, Anna, was sich da bei Onkel August alles rausgestellt hat. Krause hat alles ermittelt. Tante Liese hatte sich mit den Hahn eingelassen, und das Kleine, was sie nun haben, ist eigentlich ein junger Hahn, aber August nimmt es for eigen an.«

Frau Lemke faltete den Brief zusammen, steckte ihn sorgfältig in die Tasche und überlegte. Ihre scharfen Augen durchforschten das bunte Gewimmel am Strande, die Blicke glitten hinauf zu den Dünenketten, zum stahlblauen Himmel mit den großen, leuchtenden Sommerwolken – dann wieder hinaus aufs Meer, wo sich die weißen Wellenkämme überstürzten – und sie kam zu dem Ergebnis, daß das ja alles wunderschön, auf die Dauer aber doch recht langweilig sei.

Der Brief Tante Maries hatte plötzlich die Sehnsucht nach Berlin geweckt. »Man is ejentlich recht dumm – za Hause hat man seene Bequemlichkeit und ibahaupt allens, wat man broocht. Und baden kann man ooch, wenn man nua will, und vor allen Dingen, die Leite za Hause wissen, wer man is und behandeln eenen, wie sich's jehört. Hab' ick's denn nötij, mir hia Spitznamen anhängen zu lassen – janz jewiß nich! Aba watte man!«

Sie erhob sich, klopfte den Sand aus dem weißen Piquérock und besah sich ärgerlich den Saum: »'n Trauarand hat'r doch schon wieda – und da heeßt's imma, der Sand dreckt nich!«

Den Schirm, zum Schutz gegen die grelle Sonne aufgespannt, zugleich aber auch als Deckung gegen die allzu neugierige Beobachtung, ging sie langsam den Strand hinunter. Sie hörte wohl, wie man aus den Strandkörben hinter ihr herlachte und tuschelte – wenn sie sich dann aber jäh umwandte, verstummten die Witzbolde. Sich im Ernst mit ihr einzulassen, hatte doch niemand Lust.

»Det kribbelt und wibbelt wie in eenen Ameesenhoofen,« dachte sie, »weeß Jott, wat det forn Vajnijen is, hia den janzen Taj zu buddeln und uff eenanda zu hocken.«

Sie spähte den Strand hinunter – da hinten war es ganz einsam, kein menschliches Wesen mehr zu sehen. »Wer weeß, wo die sich vakrochen haben!« Als sie schon umkehren wollte, leuchtete oben auf den Dünen plötzlich das grelle Rot eines Sonnenschirmes aus.

»Den Schirm sollt ick doch kennen« – dachte sie – »wenn ick nu bloß wüßte, wie ick die steile Anlaje ruffkomme, ohne det se mia bemerken!«

Es ging besser als sie gedacht, wenn sie auch zuerst bis über die Knöchel in dem lockeren Sande versank und zum Schluß sogar, um nicht wieder abzurutschen, auf allen Vieren kriechen mußte.

»Aba – wat tut eene Mutta nich allet for ihre Kinna«, tröstete sie sich.

Als sie dann oben war und den Kopf über den Dünenrand erheben konnte, zog sie ihn blitzschnell wieder zurück. Der heftige Wind, der da herüberpfiff, hätte ihr, wie sie erschrocken dachte, »beenahe det janze Jenicke umjedreht. Und denn hätte ick mia ja nich ibazeijen können, wat sich da eejentlich tut, und davon muß ick mia doch unta alle Umstände ibazeijen, denn det scheint ja dolle zu sind!«

So verschnaufte sie sich einen Augenblick, dann wiederholte sie den Versuch und hob, wie eine Mauerschwalbe an der Düne klebend, den Kopf. Da saß – in der Bodensenkung – Lieschen, den grellroten Sonnenschirm aufgespannt, und hörte verliebt zu, was ein junges Bürschchen, das der Miniaturausgabe eines Gentlemans ähnelte, erzählte.

Nicht weit davon, in einer kleinen Mulde, saß – mit Carla Peterson – Herr Edwin Lemke und rauchte Zigaretten. Und in einer dritten kleinen Mulde lag – lang ausgestreckt wie ein Pascha – Herr Anton Fiedler, die Augen vor dem scharfen Sonnenlicht fest geschlossen und ließ sich von einer jungen, etwas mageren Dame mit einem Strandhaferbüschel unter der Nase kitzeln.

Eine Möwe flog mit langgezogenem, klagendem Aufschrei vorüber. – Da, als die junge, magere Dame aufblickte, um den Flug des Vogels zu verfolgen, sah sie – als läge er abgehackt auf der Dünenkette – Frau Lemkes Kopf.

Da schrie die junge, magere Dame gellend auf: »Das falsche Gebiß!«

Es war, als hätten alle auf Spiralfedern gesessen und wären nun – auf einen einzigen Abdruck hin – irgendwo ins blaue Nichts geschnellt worden.

Nur Herr Fiedler hatte offenbar keine Spiralfeder unter sich gehabt – er war der einzige von der Gruppe, der das Feld noch behauptete. Er stand da, ganz verwirrt und geblendet vom Sonnenlicht, rieb sich die Augen und suchte dann die Bügel seiner goldenen Brille hinter den Ohren zu befestigen.

Und als er nun sein Sehvermögen wieder hatte, sah er, wie sich der Kopf da langsam hob, wie ein Hals daran entstand, eine Brustpartie – als säße jemand auf einem Klavierdrehsessel und schraube sich langsam höher.

Und dieser Anblick war ihm so schauerlich, daß Herr Anton Fiedler gar nicht mehr glauben konnte, es mit Frau Lemke, sondern daß er es mit Lemkes seliger Witwe zu tun habe.

Eine Sekunde lang durchzuckte es ihn, seinen Hut zu ergreifen und sich von der Düne hinabzustürzen, aber dazu war es nun schon zu spät.

»Also – so eena sind Sie,« sagte Frau Lemke – »und ick hätte uff Ihre Unschuld Jift jenommen!«


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