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XVII. Wissenschaftliche Erklärung der Flugmaschine in Mittenwalde

»Ach so!« – hatte Onkel Karl gesagt, »ja, det hätte ick ooch janz jerne noch vor mein'm Ende aledijt!«

Und dann war eine sehr lange Unterredung gefolgt. Nach dem Mittagessen hatte Onkel Karl in höchster Gala den blauen Amtsrichter bestiegen und war nach der Breslauer Straße gefahren.

Vor der Mietskaserne, in der Grete Berg wohnte, blieb er einen Augenblick stehen und betrachtete mitleidig die blassen, kränklichen Kinder, die vor dem zugigen Haustor spielten.

»Wo wohnt'n hia Schulz?« fragte er einen der größeren Jungen, die ihn mißtrauisch anstarrten.

»Uff'n Hof vier Treppen,« schrie die ganze Gesellschaft.

»Bei die wohnt een Freilein Berj – wah?« erkundigte er sich weiter.

»Ob se Berg heeßt, weeß ick nich, aba et wohnt eene da,« sagte der älteste Junge.

»Rechten Uffjang und denn links,« schrie ihm ein Mädchen nach, als Onkel Karl nun über den Hof ging und die Treppe hinaufstieg.

»Speta wird det allst janz an'ners sind,« dachte Onkel Karl, »da braucht keena mehr so zu keichen. Da jiebt's ooch keene Treppen mehr, da hat jeda 'ne Flujmaschine, die vor't Fensta anjemacht is und da steijt er rin und raus. Is denn det noch keen Ende, bin ick denn noch nich oben, det is ja beinah in'n Himmel!«

Und dann fand er die Tür und klopfte. Eine verhungert aussehende Frau öffnete.

»Is det Freilein za Hause?«

»Wat wollen Se'n bei die?« fragte die Frau.

»Jeben Se mia mal erst Antwort, und frajen Se nich jejen,« sagte Onkel Karl streng.

»Ick muß wissen, wat Sie wollen, sonst mach ick die Tiere zu,« sagte die Frau.

»Mit Sie möcht' ick verheirat' sind, denn käm' keen Bettler bei mia. Wollen Se mia jetz jleich rinlassen?«

»Nee –« sagte die Frau – »da könnt ja jeda kommen. Freilein Berj –« schrie sie in die Wohnung hinein, »Freilein Berj – kommen Se doch mal her! Sehen Se mal den hia, der will wat von Sie!«

Das Gesicht des jungen Mädchens tauchte in der Türspalte auf, fuhr aber betroffen zurück. Dann folgte ein hastiges Flüstern und schließlich wurde die Tür weit aufgemacht. »Na – denn kommen Se man 'rin,« sagte die Frau, »jehen Se hia in ihre Stube und warten Se 'n Ojenblick, se wird jleich ascheinen, se zieht sich bloß 'n andern Rock an!«

»Wozu denn erst sonne Umstände,« sagte Onkel Karl, »se wird doch schon wat anhaben.«

Neugierig sah er sich um, während er in dem kleinen Raum stand und wartete. »Jeschick hat se,« dachte er, als er den kunstvoll mit einer bunten Decke drapierten Reisekorb betrachtete, der – mit dem kleinen Spiegel darauf – den Eindruck einer Kommode machen sollte. »Sehr praktisch,« lobte er, »det is also ihr Kleiderschrank.« Er ließ den vor eine Wandecke gespannten Kattunvorhang wieder fallen und untersuchte den Waschtisch. »Aus 'ne olle Eiakiste – allst Fantasiemöbel – aba sehr hibsch jemacht. Und wenn se umzieht, kann se ihren Murks rinpacken!«

Und dann hatte er noch Zeit, in die Mitte der Stube zurückzuweichen und sich dort so aufzustellen, als sei er bis jetzt mit dem Glätten seines Zylinders beschäftigt gewesen.

Da stand sie nun in dem Türrahmen und suchte mit jenem Blick standzuhalten, der doch, trotz seiner Festigkeit, die Unsicherheit und Angst sofort verriet.

»Die Tiere jeht woll nich zu?«

Sie wandte sich hastig um und zog sie ins Schloß.

»Ne tichtje Frau – die Frau da draußen,« sagte er mit einer Kopfschwenkung, »aba zuzuhören broocht se nich. Wat ick sajen wollte – Se sind doch höchstens achtzehn – neinzehn Jahre, wat?«

»Vorijen Monat bin ick neunzehn jeworden!«

»Wa'm haben Se mia nich injeladen? Aba det is ja vorbei – wer is denn Ihr Vormund in Mittenwalde?«

Nun starrte sie vor sich hin – antwortete aber nicht.

»Ick hab' Ihn'n doch neilich richtij vastanden – Eltern haben Se nich mehr – wat? Na ja, denn muß doch der Vormund die nötije Alaubnis jeben.«

Grete Berg ging plötzlich – schwankend und unsicher nach ihrem Bett, sank dort in die Kniee und verbarg das Gesicht in der Decke.

»Wann jeht denn der nächste Zuj – wissen Se det?«

Keine Antwort.

»Wat knautschen Se denn immafort die Bettdecke –« sagte Onkel Karl – »is doch unjehörij, wenn man Besuch kriejt. Ick möchte womöglich heite noch riebafahren und mit den Mann sprechen. Und wie is denn mit die Papiere – jeboren sind Se doch und jetooft? Det jlobt Ihn'n aba keena uff't Standesamt, wenn't Se't nich schriftlich haben – also det muß ooch aledijt werden – na nehmen Se sich mal jetz 'n bißken zusammen.«

Aber sie hörte nicht – weinte, daß ihr ganzer Körper erschüttert wurde.

»Sie werden noch asticken,« sagte Onkel Karl, »Se kriechen ja imma tiefa und imma tiefa in't Bette!«

Und dann ging er plötzlich entschlossen auf sie zu, faßte sie bei der Schulter und sagte halblaut: »Meechen, nimm dia doch zusammen, is doch nischt so zu heulen, sehst doch, et kommt allst in't Lot!«

Er hatte sie hochgezogen, nun griff er in die Rocktasche, holte sein großes, rotes Taschentuch vor und wischte ihr die Augen ab. »Det will nu Mutta werden und is selba noch so nuttig – lächerlich!«

Er ging, um sie ein bißchen ruhiger werden zu lassen, in der Stube auf und ab, befühlte, am Fenster stehenbleibend, die Erde in den Blumentöpfen dort und sagte mißbilligend: »Nich so ville jießen, du scheinst sehr for Feichtijkeit zu sind! Wie sajteste – wie heeßt deen Vormund?«

Sie hatte es zwar noch nicht gesagt, nun nannte sie aber den Namen.

»Buchstabier' mal,« sagte Onkel Karl, seine dicke Brieftasche herausziehend, »ick will mia det lieberst 'n bisken uffschreiben. Krantzholz – wat is denn det forn Name – der is woll Totenjräber? Vornamen hat er woll nich? Otto? Scheen, also Otto Krantzholz – und wat is er – Bäcker? Denn werd' ick ihn schon finden. Papiere haste nich – nee, wieso denn und warum denn ooch! Ihr broocht bloß imma Papier, wenn ihr wohinjehen mißt. Seh' ma' hia – ick! Ick traje allet schriftlich bei mir rum, mia kann nischt passieren.«

Er begann wieder in der Stube auf und abzugehen und da ihm selbst der Gedanke kam, daß seine festen Tritte den Leuten im unteren Stockwerk nicht sehr angenehm sein würden, suchte er sich bei seiner Wanderung auf einen Teppich zu beschränken, der aus unzähligen kleinen bunten Flickflecken zusammengesetzt war.

»Den heb' dia man zum Andenken uff,« sagte Onkel Karl, »sowat is speta 'ne scheene Arinnerung. Ja – und wat wär' denn nu noch zu besprechen? Richtij – also. Frau Lemke läßt dia scheen jrießen und wejen die Aussteia sollste dia keene jrauen Haare wachsen lassen. Und wenn nachher der Mußjeh Edwin kommt, denn benimm' dia 'n bisken schlau. Nich wieda heulen – vastehste? Det wär 'ne jroße Dummheit, denn hat er kinftig die Obahand. So – und nu werde ick mal bei Otto Krantzholzen in Mittenwalde fahren – wie der Zuj seht, afahr' ick ja uff'n Bahnhof. Adje meen Töchterkin, wasch dia 'n bisken det Jesichte mit kalt Wassa, denn du sehst oojenblicklich 'n bißken vaschwollen aus!«

Am Spätabend kam Onkel Karl nach Berlin zurück – nicht mehr ganz fest auf den Beinen und in etwas melancholisch-froher Stimmung. Als ihm Herr Krantzholz die Papiere seines Mündels übergeben, hatte er eine Äußerung getan, daß er von Anfang an geahnt, Grete Berg werde in Berlin ihr Glück machen.

»Ohne m'ia aba nich –« hatte Onkel nachdrücklich betont. »Ick bin derjenjchte, welcha – vastehn Se? Ick hab' in sowat ne jlickliche Hand. Ick hab' seinerzeit meene Schwester, die sojenannte Tante Marie, unter die Haube jebracht, und da war se schon in een Alta, wo se keena mehr jeschunken haben wollte. Und denn kirzlich meene Nichte, der ha'ick 'n Inschinjeur vaschafft, mit den ick mia jetz' assoziert hab'!«

Herr Krantzholz glaubte diesen Worten entnehmen zu müssen, daß Onkel Karl auf eine kleine Feier gerechnet habe, und hatte ihn deshalb zu einem Glase Bier eingeladen. An dem großen, runden Stammtisch des Wirtshauses waren dann noch einige Freunde hinzugekommen, und Onkel hatte damit Gelegenheit gefunden, über das Flugschiff zu sprechen.

»Denken Se mal an, meene Herren, die Aleichterungen, die schon jetz' sind, seit wia die Eiserbahn haben und nich mehr wie frieha mit die Postkutsche fahren. Und nu denken Se sich den Fortschritt von die Eiserbahn zu't lenkbare Flujsschiff. Wat is damit nich allens beseitigt. Denn jibt's keen' Zujvaspetungen mehr, keen Vapassen, selbst wenn man't vaschlafen hat. Man brauch ooch nich mehr die vadammten Fahrpläne und Kursbiecha zu studieren, wo doch keen Schwein draus kluj wird. Und von die ekelhafte Seekrankheit, an die schon so mancha Mann jestorben, is ooch keene Rede nich mehr, von hia – aus Mittenwalde nach Neujork –, wo man jetz mindestens zehn Taje broocht, fliejt man in zwee Taje hin und zurück, und wenn man den Passatwind benutzt, jeht's noch schneller.«

Da es ihm vorkam, als wenn die Mittenwalder Herren ein wenig skeptisch waren, hatte er ihnen klarzumachen versucht, daß solch eine Amerikareise für ihn selbst nur eine Kleinigkeit sei und seinem Hirn sich schon ganz andere Perspektiven eröffnet hätten.

»Wat sajen Se aba nu, wenn ick Ihnen fraje, ob et vielleicht ooch möjlich is, mit det Flujsschiff außahalb von die Erdkujel zu sehen? Da lachen Se! Neesajen is leichter als Jasajen! Et kommt aba bloß druff an, eenen Stützpunkt for die Flujmaschine zu kriejen. Solange wie se in die Luftschichten is, macht s'et wie son Vojel, der mit seene ausjespannten Fliejel, ooch wenn er sie janz stille hält, Luft runtadrickt und sich dadurch hochschleidert. Wenn man nu also in Rejonen kommt, wo't keene Luft mehr jiebt, denn muß man sich eben welche mitnehmen, wie die Seefahrer süßet Wassa – is doch janz klar. Na nu denken Se mal, wenn wia da uff'n Mond anlejten und ausstiejen und uns, wie jetzt von 'ne Landpartie Maikeber, 'n kleenet Mondkalb mitbrächten?«

Onkel Karl hätte lieber nichts von Mondkälbern sagen sollen, denn die Herren wurden plötzlich mißtrauisch gegen ihn, und einer von ihnen erlaubte sich die Frage, was denn die Reisenden anfingen, wenn sie in den luftleeren Regionen nicht mehr atmen könnten.

Die Folge war, daß Onkel Karl zu der Anrede »Mensch« überging. »Haben Se mal wat von jehört, det die Erde um die Sonne fliejt? Also – fliejt die Erde nich ooch in een luftleeren Raum 'rum, wie 'ne riesije Flujmaschine? Na – und atmen können Se doch! Warum – weil uff die Erde Ihre Lebensbedingungen sind. Wenn Se sich nu sonne kleene Flujmaschine mit Nahrungsmittel und Wärme und Luft ausristen, denn merken Se nischt, det Se in'n luftleeren Raum rumfliejen, höchstens wenn Se't Fenster uffmachen und 'rauskieken. Wenn Se denn statt uff'n Mond nach den Planeten Mars jehen, können Se sich for die Retuhrfahrt vaproviantieren – denn da is allens so wie uff unse Erde, sojar menschliche Geschöpfe jiebt's!«

Nach dieser glänzenden Beweisführung hielt es Herr Krantzholz für angebracht, im Namen der andern Onkel Karl eine Art Ehrenerklärung abzugeben, die Onkel Karl seinerseits wieder veranlaßte, für die ganze Gesellschaft eine Lage kommen zu lassen. Und dann hatte er ihnen erzählt, daß er sich erst in der letzten Zeit der Astronomie zugewandt habe und hatte die Herren schließlich feierlich eingeladen, seinem Aufstiege beizuwohnen. In melancholisch-froher Stimmung war er nach Berlin zurückgefahren, um Frau Lemke von seiner Expedition zu berichten.


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