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VIII. Rendezvous im Botanischen

Der Türhüter, der wie immer vor seinem Häuschen saß und mit Argusaugen aufpaßte, daß sich kein Kind ohne Begleitung Erwachsener in den Botanischen Garten schmuggelte, griff bei Fräulein Lemkes Erscheinen an die Mütze und grüßte freundlich. Er hatte Lieschen schon gekannt, als sie, noch ganz klein, mit dem Großvater, »dem ollen reichen Lemke aus Schöneberj«, hierher gekommen war und dann später, als Backfischchen, mit ihren Schulfreundinnen hier »poussiert« hatte. Jetzt, wie sie an ihm vorbeiging, musterte er sie kritisch und dachte: »Die rote Nelke hat wat zu bedeiten.«

In den letzten Jahren war Lieschen selten hierher gekommen, aber sie fand alles unverändert. Die Bänke in den lauschigen, verschlungenen Wegen waren alle besetzt, denn »der Botanische« bildete um diese Tagesstunde das Ziel sämtlicher Liebespaare der Gegend. Besser als Palmen, Schlinggewächse, Medizinkräuter und Kakteen gedieh hier die Liebe. Die meisten Besucher – Studenten, Gymnasiasten, junge, bleichsüchtige Lehrerinnen – hatten sich zwar eine Art wissenschaftlichen Anstrichs gegeben und schleppten sich mit Geographie- und Pflanzenbüchern, ließen aber, wenn sie sich nicht mehr beobachtet glaubten, die Maske fallen und sonderten sich in einzelne Reviere ab. Die – deren Gefühle sich erst nur durch irres Stammeln Luft machen konnten, liebten die einsamen Bänke, wo die Nachtigallen sangen. Jene, die sich noch mit Blicken alles zu sagen vermochten, produzierten sich in der Höhenluft der Palmenhausterrassen, die aber, die schon Tagebücher führten, rosafarbene Briefbogen verschrieben, Haarlöckchen – durch blaue Bänder haltbar gemacht – gegen Liebesgedichte austauschten, strebten eilfertig der dämmerigen Chamissolaube zu.

Und nun übten sich alle in der Kunst der Liebe. Wieviel Manschetten wurden beschmiert, auf die mit Bleistift notiert war, was das Herz zu sagen begehrte, der Mund aber nicht sprechen konnte, wenn es die Augen nicht von der Manschette ablasen! Wie erblaßte oder errötete man, wenn der »heimliche Bräutigam« mit durchgedrückten Knien und banger Seele an der Bank vorbeistolperte, scheinbar ohne die zu sehen, die dort saß und seiner harrte. Wieviel zerdrückte, unförmliche Taschentücher gab es da, mißmutig zertretene symbolische Sandzeichnungen, Papierschnipselchen, die man fallen ließ und die dann, verstohlen aufgehoben, in der Bluse oder unter dem Vorhemd geborgen wurden!

Ja, es war noch genau alles so, wie es Lieschen Lemke kannte und selbst ausprobiert hatte, wenn sie, an schönen Sommernachmittagen, hierher gekommen war. Nun steuerte sie dem kleinen Hügel zu, auf dem das Glashaus der Viktoria regia stand, staubte mit ihrem Taschentuch eine der Bänke ab, breitete das Tuch auf dem Sitzbrett aus und ließ sich beklommen nieder.

Und dann hielt sie es für geraten, die rote Nelke abzumachen und in die Tasche zu stecken, denn wenn »Er« ihr nicht gefiel, brauchte sie sich ja nicht zu erkennen zu geben. Es konnte ja auch sein, daß er sie »versetzte« und nicht kam, dann ging es ihr am Ende so, wie den andern dort, die sich schon ganz verzweifelt gebärdeten. Da ging eine, der man ansah, wie sie sich geputzt und fein gemacht, gleich einem Raubtier im Käfig, zornig um das Glashaus herum und gab, obwohl die verabredete Zeit längst vorüber sein mußte, offenbar immer wieder eine Viertelstunde zu. Eine andere, etwas ältliche Dame, die vorhin schon einmal dagewesen, kehrte voll Reue, daß sie auf dem verlorenen Posten nicht ausgehalten, wieder zurück, in der Hoffnung, daß der Erwartete inzwischen doch noch eingetroffen sei. Ein junger Mann, der sich schon alle Fingernägel abgebissen, bekam dagegen das Warten plötzlich satt, nahm – unbekümmert ob ihn die andern bespöttelten oder nicht – die hinter dem Schirm verborgene Rose aus dem Seidenpapier und steckte sie sich, während er abging, selbst ins Knopfloch.

Einige machten auch den Versuch, den Säumigen, den sie brieflich kennen gelernt und über dessen Aussehen sie sich ja täuschen konnten, durch das »Erkennungszeichen« anzulocken. Sie taten, als wollten sie sich nur fächeln, ließen das Tuch jedoch dabei wie eine Flagge im Winde wehen, schwenkten das Zeitungsblatt mit dem Heiratsinserat oder flüsterten, heiser vor Erregung, den Entgegenkommenden das Stichwort zu: »Glücklich zu zweien!« Wie oft geschah es da, daß sie an dem Erwarteten vorübergingen, ohne daß er sich verriet, weil die Musterung ihn enttäuschte.

Lieschen zog die kleine goldene Uhr, die sie vorn am Hals in die Bluse gesteckt, hervor und sah nach: Voll – irgendwo hörte sie auch jetzt eine Uhr – vier langsame Schläge, die matt und schläfrig in die Sommerstille des Gartens klangen.

Ein paar Sperlinge, die gerade den Versuch machen wollten, sich im Sande zu baden, flogen erschreckt davon, denn ein wenig hastig, kam da plötzlich ein junger Mann die Anhöhe herauf und musterte, im Vorbeigehen, die auf den Bänken sitzenden Personen.

Vor Lieschen blieb er stehen, lüftete den Hut, indem er den Daumen an die Schläfe drückte und den schwarzen Filz nur soweit hob, wie sich die andern Finger nun noch strecken ließen und sagte: »Joldelse – hab ich die Ehre?«

Ja – das war das von Onkel Karl angegebene Stichwort, ein Zweifel konnte also nicht sein, zumal der junge Mann auch eine rote Nelke im Knopfloch trug. Aber Lieschen versagten noch die Beine und wie hypnotisiert starrte sie in die merkwürdig blauen Augen. Onkel Karl hatte mal eine Elster gehabt, deren weißblaue Augen genau so ausgesehen.

»Im übrigen kennen wir uns ja wohl noch von früher – Hans Zillmann«, sagte der junge Mann sich vorstellend.

Sie hatte ihn auch sofort erkannt, es war ja der »freche Bengel«, der ihr – wie sie noch als kleines Mädchen auf der Bülowpromenade gespielt – die Murmeln abgenommen und sie am Zopf gerissen hatte. »Zillmann kommt,« war ein Alarmruf gewesen, auf den – wenn er ausgestoßen – alle Mädchen blindlings auseinanderstoben und sich in die Häuser retteten.

Eines Nachmittags, an einem noch kalten und windigen Märztage, als aber die Jungen schon wieder Murmel und die Mädchen »Himmel und Hölle« im Freien gespielt, hatte Lieschen, in den klammen Fingern den Murmelsack, auf Edwin gewartet, der nachkommen sollte. Genau so wie heute – jetzt, hier – hatte da plötzlich Hans Zillmann vor ihr gestanden, nur daß er statt des Spazierstocks eine furchtbare Latte in der Hand gehabt.

»Du hast ja rote Hosen an,« hatte er Lieschen angeherrscht und sie hatte plötzlich die Empfindung gehabt, daß das Tragen roter Flanellhosen, selbst wenn sie von Tante Marie zu Weihnachten geschenkt waren, ein Verbrechen und etwas Schimpfliches für kleine Mädchen seien.

»Dein Bruder heißt Edwin – das ist der Feigling, der immer auskneift und das sind wohl seine Murmeln?«

Wie er danach gegriffen, hatte sie schreien wollen, aber keinen Ton herausgebracht. In diesem Augenblick war glücklicherweise Onkel Karl aufgetaucht. Als sie auf ihren Retter zustürzen wollte, hatte Hans Zillmann sie an ihrem dünnen Zopf hinten gepackt und wie an einem Klingelzug gezogen, wobei die blaue Schleife abgegangen war.

Wie ein Berserker war Onkel Karl damals auf den »frechen Bengel« losgestürzt. Der aber rannte – während Lieschen ihre Stimme wiederbekommen und ein furchtbares Gebrüll ausgestoßen – in Zickzacklinien, als wenn er sich gar nicht ängstige, vor Onkel Karl auf dem Straßendamm her, so daß es beinahe ausgesehen, als wenn sie vergnügt zusammen Zeck gespielt. Ab und zu hatte sich Hans Zillmann wohl auch gebückt, einen Stein oder eine von Pferden stammende Substanz ergriffen und nach Onkel Karls Kopf geworfen.

Bis in die Steinmetzstraße hatte ihn Onkel Karl verfolgt, dort war Hans Zillmann in einem Eckhaus verschwunden und auf der andern Seite wieder herausgekommen, während Onkel Karl noch das Haus absuchte und bis zum Boden hinaufgelaufen war.

Auch späterhin hatte der »freche Bengel« von sich reden gemacht, als er mit Gips, den er offenbar von einem Bauplatz gestohlen, allerlei unanständige Sachen an den Zaun des Omnibusdepots in der Frobenstraße geschrieben. Und dann – nachdem er lange Jahre verschwunden gewesen und das Gerücht von ihm besagte, er wäre in eine strenge Pension gegeben worden – war er plötzlich wieder aufgetaucht.

Damals hatte sich dann, namentlich in Backfischkreisen, ein völliger Meinungsumschwung zu seinen Gunsten vollzogen. Er war »Schwarm« geworden, denn man hatte ihn Zigaretten rauchen und in der Konditorei an der Apostelkirche wie einen erwachsenen Herrn sitzen sehen. Zwar hieß es auch jetzt noch, er sei »furchtbar unanständig«, aber Lieschens Freundinnen sagten es mit einer Betonung, daß es ihn interessant machte.

Manchmal, wenn sie aus der Pastorstunde nach Hause gingen, hatten sie ihn in der Potsdamerstraße getroffen. Dann waren sie allesamt blaß und rot geworden und hatten sich gegenseitig eine ganze Weile nachher noch nicht anzusehen gewagt. Er jedoch hatte kaum einen flüchtigen Blick für diese jungen Dinger gehabt, die sich mit ihren dicken Bibeln und Schultaschen schleppten und die er – wie eine von ihnen aus sicherer Quelle wußte – »Embryos« nannte.

Dagegen schien ihm die Gesellschaft der sogenannten »schönen Erna« zu behagen – eines Mädchens, das früher barfuß gelaufen war und auf den Höfen »Fliejenstöcka« ausgeschrien. Nun aber sah man sie mit farbenprächtigen Hüten und Lackschuhen – es hieß, sie gehe in eine »Soubrettenschule« und diese Ansicht wurde verstärkt, da sie stets eine Notenrolle trug. Auch er schien eine vom Glück besonders begünstigte Karriere vor sich zu haben, denn trotzdem er es nicht einmal bis zum »Einjährigen« gebracht, machte er sich um seine Zukunft offenbar nicht die geringste Sorge. Wie hätte er sonst so viel freie Zeit haben können, während seine ehemaligen Mitschüler sich in den Anfängen der verschiedensten Berufe abquälten.

Mochten ihn die »Pennäler« auch verachten, einen gewissen Neid konnten sie doch nicht unterdrücken. In den Augen der Mädchen aber hatte er sich unverkennbar einen Nimbus geschaffen, der noch größer wurde, als es eines Tages hieß, »Zillmann besucht jetzt eine Presse und macht das Fähnrichsexamen: Paßt auf, wir werden ihn nächstens in Uniform sehen!«

Seitdem hatte er auch der »schönen Erna« den Abschied gegeben – sie flanierte jetzt einsam, noch abends um halb zehn Uhr, in der Potsdamerstraße – neben Hans Zillmann aber trottete eine Tigerdogge, die selbst Onkel Karls Bewunderung erregt hatte.


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