Otto von Greyerz
Sprachpillen
Otto von Greyerz

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Das Gremium

«Der Rat beschloß, die Frage dem Gremium vorzulegen.» «Aus dem Gremium erhob sich eine Stimme zugunsten des Antrags.» «Das Gremium der Versammlung ist allein zuständig, in dieser Sache einen Beschluß zu fassen.»...

Wenn ich als Knabe oder grüner Jüngling solche Sätze in der Zeitung las, fühlte ich mich tief unwissend und beunruhigt. Vergeblich suchte ich in meinem lückenhaften Wortvorrat nach einer Anknüpfung für dieses geheimnisvolle «Gremium». An «Crême» ließ es sich schlechterdings nicht anreihen; auch hätte es ja Cremium heißen müssen. An «Granium» auch nicht. Beides klang viel zu alltäglich, harmlos und eindeutig, um ein Licht auf jenes mysteriöse Wort zu werfen. Dieses «Gremium», das als letzte Instanz alle Fragen zu entscheiden, alle Rätsel zu lösen vermochte, schien mir eine allwissende Macht, ein unheimlich geisterhaftes Wesen, eine Art delphische Pythia, die bekanntlich, obgleich sie ein Weib war, nur selten redete und immer kurz, weise und endgültig. Immerhin war sie ein Mensch, und zwar weiblichen Geschlechts. Wogegen dieses Gremium neutral war, geschlechtlos, wie etwa das Publikum oder eins der Elemente: Calcium, Magnesium oder ein Tierwesen wie das Amphibium, von Schriftungelehrten auch «Amviehbium» geschrieben (was aber zwei zornige rote Striche eintrug). Mit seiner Geschlechtlosigkeit gemahnte es eher an das urweltliche Megatherium, an das spukhafte Toggeli oder das Hauri in unsern Alpensagen.

Bis ich eines Tages beim Cäsar-präparieren im lateinischen Wörterbuch blätterte und zufällig auf das Wort «gremium» stieß. Ha, da war es! Atemlos vor Spannung, wie der Jüngling zu 100 Sais, als er den Schleier von der Wahrheitsstatue riß, starrte ich auf die Erklärung. «Gremium, ii, neutr. Schoß, Mutterschoß» — fertig.

Der Vorhang des Allerheiligften war aufgetan — die Offenbarung war nicht überwältigend. «Der Schoß der Versammlung, der Schoß des Rates» — das war also des Pudels Kern! Warum soll die Versammlung keinen Schoß haben, wenn doch die Gemeinde ein Haupt, die Polizei lange Arme, das Gesetz ein Auge, die Kirche einen guten Magen und die Natur einen Busen hat, an dem sich ruhen läßt? Aber warum, wenn es nichts weiter ist als der Schoß, warum dann ums Himmels willen «Gremium»? Darum: weil der Schoß ein Bild ist, das jeder versteht, der Deutsch kann, und Gremium — zwar auch ein Bild, aber eines, das niemand versteht. Und das ist eben das Feine. Nur ganz feine Leute brauchen Wörter, die weder sie noch andere verstehen!


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