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Eines der obersten Häuser an der Gerechtigkeitsgasse ist das Zunfthaus zum Distelzwang. Es fällt jedem Vorbeigehenden, der für so etwas Augen hat, durch die ungewöhnliche Eingangshalle auf mit ihren von runden Säulen getragenen Rundbogen, den ebenfalls runden Nischen im Hintergrund, in denen reichgeschmückte Urnen auf hohen Sockeln stehen, und mit den metallenen Fackeln, die rechts und links vom Treppenaufgang an der Wand befestigt sind.
Keine andere Zunftstube von Bern hat eine so feierliche Vorhalle. 118 Es ist aber auch die Zunft der alten Adelsgeschlechter, der «Gentilshommes», wie an der Außenseite des Hauses zu lesen ist.
Aber nun der Name. «Distelzwang» — wer versteht das noch? Schon in meiner frühen Jugend, wo mich der Weg zur Sonntagsschule des Herrn Blösch regelmäßig an diesem Haus vorbeiführte, gab mir der Name zu denken, und dieses Interesse ist eher noch gestiegen, seit ich mich überzeugen konnte, daß niemand, auch die Ortshistoriker nicht einmal, recht Bescheid darüber wußte.
Daß der Name etwas mit dem Distelfink zu tun hatte, schienen die vorhandenen Wappen zu bestätigen. Zwei finden sich in der Halle, in Stein gemeißelt, mit der Jahrzahl 1553: links eines mit dem Kopf eines Narren, der unter seiner roten Schellenkappe die Zunge herausstreckt, rechts eines mit einem bunt befiederten Distelfink auf grünem Zweig. Dieselben zwei Wappenbilder sieht man auch an der Außenseite der Halle angebracht, jedoch in einem Feld vereinigt: ein schräger Strich trennt den Narrenkopf oben von dem Distelfink unten. Um das zu verstehen, muß man wissen, daß bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts hinein zwei Zünfte bestanden, die sich damals (sicher vor 1454, nach Alfred Zesiger) vereinigten: die Zünfte zum Narren und zum Distelzwang. Ihren Namen hatten sie wohl vom ursprünglichen Gesellschaftshaus übernommen, wie einige andere Zünfte auch (Affen, Mohren).
Wie kommt aber die Zunft mit dem Distelfink im Wappen zum Namen Distelzwang? Im Berndeutschen lautet der Name für diesen Vogel neben Distelfink auch Disteli, Distler und Distelvogel. Bekannt ist das Liedlein:
Wen i scho kei Distelvogel bi,
Bin i doch kei Spatz.
Wen i scho keis Bärnermeitschi ha,
Han i doch e Schatz.
Woraus zu lesen ist, daß ein Bärnermeitschi über einem gewöhnlichen Meitschi so hoch steht wie der bunte Distelfink über einem Spatz. Ähnlich gebildet wie Distelvogel, doch, wie wir sehen werden, nicht ganz gleich, sind die Namen Galgevogel 119 (ursprünglich eine Krähenart, die ihr Futter am Galgen sucht) und Chabisvogel: der Kohlweißling, also der Schmetterling oder «Summervogel», der den Kohl oder Kabis heimsucht. Dementsprechend wäre der Distelvogel nach der Distel genannt, aus der er bekanntlich mit Vorliebe die Samenkörner pickt, und auch Distelzwang müßte das zum Ausdruck bringen.
Zunächst scheint aber die althochdeutsche Form distelzuî oder distelzwî für Distelfink diese Deutung zu verbieten; denn zwî ist das spätere zwîg: Zweig. Doch wie könnte man einen Vogel «Zweig» nennen? Und dennoch hat sich das Sprachgefühl damit abgefunden. Der elsässische Kanzelredner Geiler von Keisersberg (Ende des 15. Jahrhunderts) beschreibt mit Wohlgefallen das «Distelzwiglein», wie es «uf einem Zwiglein sitzt und kan so hübsch und lieblich singen», und auch der alemannische Dichter Hebel (in seiner «Sonntagsfrühe») kennt diesen Namen:
Und ’s Distelzwigli vorne dra
Het ’s Sunntigsröckli au scho a.
Nun aber ist aus dem Berner Oberland (z.B. auch in Em. Friedlis «Grindelwald») neben Distelli auch die Form Distelzwingli bezeugt, im zweiten Teil also eine Verkleinerung von Zwing. Dieses Zwing, in seiner älteren, unverschobenen Form Twing kennen wir aus Twing- oder Zwing-Uri, von dem das Weiße Buch von Sarnen zuerst berichtet, und aus dem Twingherrenstreit von 1470. Ein Twing ist in alter Sprache etwas, was zwingt, festhält, einschließt, wie heute noch die Zwinge: der eiserne Ring, der den Stift, die «Stäfzge» des Stockes umschließt, und der Zwinger: ursprünglich der Raum zwischen Mauer und Festungsgraben einer Burg, später auch Gefängnis für Menschen oder, wie in Bärenzwinger, auch für Tiere. Im Mittelhochdeutschen kommt twinc im Sinn unseres Zwang vor, z.B. «des tôdes twinc», dann in Verbindung mit Bann als formelhafte Bezeichnung der Gerichtsbarkeit (twinc unde ban), dann auf den Ort übertragen, wo die Gerichtsbarkeit gilt: «alle die in dem twinge gesessen sint». So sind die Twingherren zunächst die Inhaber von Twing und 120 Bann; im Streite zwischen der Stadt Bern und ihren Twingherren die adligen Burger, die auf der bernischen Landschaft twingherrliche Rechte besaßen. Die abgeblaßte Bedeutung von Twing, Zwing als Gerichtsbezirk zeigt sich noch in einem Liedchen, das uns J. R. Wyß aufgezeichnet hat:
Es isch es Meitschi i disem Zwing,
’s het alli Nacht drei Chilter in.
Von «Zwing» ist nur ein kleiner Schritt zu der Ablautbildung «Zwang», in älterer Form twanc. Nebenbei: die unverschobenen Wortformen mit dem Anlaut Tw haben sich besonders im Wallis gut erhalten, wo man Gotwergi für Zwerg (mhd. getwerc), Tweelen für Zwehle (unser Zwächele), vertwellen (von ahd. twelljan) im Sinne von unterhalten, Geschichten erzählen sagt und einen Ortsnamen Getwing kennt; vgl. auch «twäris» neben «zwäris» (quer) und «es Twiri» im Emmental.
Was ist aber Zwang anders als das alte Zwing? eine zwingende Macht, etwas Fesselndes, Drückendes, das die freie und natürliche Bewegung hindert; so in dem berndeutschen «Chifelzwang» für Kieferkrampf, in dem schriftdeutschen «Stuhlzwang» für Verstopfung, «Harnzwang» für medizinisches «Ischurie», im «Höllenzwang» als Name für Zauberbücher, mit deren Sprüchen man die höllischen Geister bannen konnte. Der Heiland selbst wird in einem alten geistlichen Liede so angerufen:
Herr Jesu, Zwang der Höllen!
Damit ist der Distelzwang immer noch nicht erklärt, aber wir glauben ihm auf der Spur zu sein. Ein uralter Beleg aus dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts verhilft uns dazu. Die sog. Frankfurter Glossen geben nämlich für Distelfink das Wort Distelzwang an, und das Grimmsche Wörterbuch, das diesen Beleg verzeichnet, fügt die Vermutung des Sprachforschers Weigand hinzu, «zwang» könnte eine Substantivbildung zu althochdeutschem «zwangôn» sein, das unter andern, auch kneifen bedeutet. Damit wäre Distelzwang als Name des Vogels erklärt, der den Distelsamen herauskneift, herauspickt. Solche Zusammensetzungen, die 121 im ersten Teil das Objekt der Handlung, im zweiten das handelnde Wesen durch die Stammsilbe der Nennform eines Zeitwortes bezeichnen, gibt es in der Mundart nicht wenige:
Boumbäck = Grünspecht, d.h. der mit dem Schnabel den Baum anpickende (bäcke = picken) Vogel. Bollebick = Kernbeißer, «darumb daß er der bollen von bäumen gelebt». Boumchlän, Muurchlän = Baum-, Mauerläufer (chläne: klettern). Chnüwbräch = gem. Kreuzkraut, ein Unkraut, das einem beim Ausjäten die Knie bricht. Faßbind = Küfer, der das Faß bindet, das Gebinde herstellt; Dachdeck, Schäärischlyf, Schuehputz u.a., die sich von selbst erklären, wie auch Ratgeb, das noch als Geschlechtsname lebt.
Also Distelzwing und Distelzwang, beide gleich gebildet und gleichbedeutend (wofern wir annehmen dürfen, daß «zwingen» in seiner sinnlichen Grundbedeutung auch kneifen, klemmen gemeint habe, wie engl. twinge) kennzeichnen den Distelfink als den Vogel, der Distelkörner pickt. Wie konnte aber jenes distelzwi, Distelzweig aufkommen? Wir werden mit Hoffmann-Krayer (in seinen Worterklärungen zu P. Hebel) eine volksetymologische Umdeutung annehmen müssen. Aus einem untergegangenen Distelzwing wurde, weil man den Sinn von -zwing nicht mehr richtig verstand, ein Distelzwîg gemacht, unbekümmert darum, daß damit kein besserer Sinn in das Wort hineinkam. Die Sprache verfährt ja bei solchen Umdeutungen und Angleichungen mit kindlicher Gedankenlosigkeit: aus der Eidechse wird ein Heidochs, aus einem «Convaletehaus» ein Gufelätt-hus, aus dem Kataplasma ein Charteplan, aus der Hyazinthe ein Zinggli, aus der Tuberkulose ein Tubäckler usw.