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Als ich das Wort zum erstenmal hörte — es war vor sieben oder acht Jahren im Simmental — schüttelte ich ungläubig und gedankenleer mein Haupt. Aber meine Hauswirtin duldete keinen Zweifel. «Jä wohl, das ischt esoa, Turach. U dür e Turach dürhi giit der Turachnagel. Wier säge mu oppan uuch der Buuchstäcke ol der Spinanagel. Gluubit’s numma, Her Profässer!»
Da hatte ich nun genug Werg an der Kunkel zum Spinnen und Spintisieren auf meinen einsamen Spaziergängen. Es handelte sich also um jene sinnreiche Einrichtung im «Wöschbocki» oder auch im «Surchabisstandli»: eine hölzerne Rinne oder Röhre, durch die mittelst eines Steckens, des «Stämpfels», wie wir sonst sagen, der Wasserablauf reguliert wird. Die Röhre war also der «Turach», und der Stecken, der hineinpaßte, der «Turachnagel», «Buuchstäcke» oder «Spinanagel». Die zwei letzten Ausdrücke waren nicht schwer zu deuten: der Buuchstäcke war der zum «Buuche», d.h. Waschen in Lauge benötigte Stab, und der Spinanagel erklärte sich als ein Doppelwort: Spina (franz. épine) und Nagel.
Aber der Turach — der Sadrach! Kein Mundartwörterbuch, geschweige ein anderes, wollte etwas von ihm wissen.
Mit einemmal fiel mir der Daumen in die Hand: wenn man sich das Wort mit D geschrieben dachte (wie etwa Drucke neben Trucke, Dili neben Tili, dampe neben tampe), dann war es ja eine der vielen Nebenformen von althochdeutschem «durch»: durach, duruch, duroch, durich; auch im Englischen hat dasselbe Wort noch heute eine zweisilbige Form (thorough) neben der einsilbigen (through). Und zu demselben Stamm gehörte ohne Zweifel das 144 althochdeutsche Eigenschaftswort durchil = durchlöchert, eine Ableitung mit -il wie manche andere, z.B. luzzil (lützel), michil (mittelhochdeutsch michel = groß), mittil (mittel, mittler), auch ubil (übel); ja, dieses «durchil» (mittelhochdeutsch dürchel, dürkel, wozu ein Tätigkeitswort «dürchelen, dürkeln» = durchlöchern) ließ sich sogar noch im englischen nostrils (Nasenlöcher) als Dingwort erkennen; denn die Einzahl nostril lautet mittelenglisch nose-thirl, altenglisch nos-thyrel und enthält als zweiten Bestandteil ein sonst verlorenes thyrel = Öffnung, Mündung, Loch. Kommt noch hinzu, daß das Gotische neben dem Eigenschaftswort «thairk» (sprich thärk, mit engl. th) auch ein Hauptwort «thairkô» aufweist, das an den beiden Stellen, wo es in der gotischen Bibel vorkommt (Matth. 10, 25 und Luk. 18, 25) Nadelöhr oder -loch bedeutet.
Also: Durach = Loch.
Einen Augenblick machte ein italienisches Wort mich stutzig, das ein Nichtbewunderer meiner Etymologie mir entgegenhielt: toracciolo (mit dem Ton auf a): Stöpsel, Pfropfen. Das Simmentalische hat bekanntlich eine beträchtliche Anzahl Fremdwörter aus romanischen Sprachen entlehnt, wie z.B. das schon erwähnte Spina. Könnte das nicht auch mit einer Grundform von toracciolo geschehen sein? Die beglaubigte Herkunft dieses Wortes (von ital. tura: Damm, zu atturare: verstopfen, lat. obturare) schlug jedoch diese Vermutung in den Wind.