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Das Wohnhaus des großen Handelsherrn, Doktors der Rechte und kaiserlichen Rats Johannes Paumgartner wird in unsern Tagen von einer Denktafel bezeichnet, die besagt, daß Augsburgs tapferer Feldhauptmann Sebastian Schertlin 1577 dort hochbetagt gestorben sei.
Nebenan, ein wenig entfernter vom gegenüberliegenden Mettlochgäßchen, das den Markt, wo sich eines der Welserhäuser befindet, mit der Sankt-Annengasse verbindet, lag ein Haus, das dem nicht minder an zeitlichen Gütern gesegneten, gefeierten weiland Ratschreiber der Stadt Augsburg, Doktor Konrad Peutinger, gehörte.
Vor dreihundert Jahren bestand das Paumgartnersche Haus aus zwei Teilen, die ursprünglich jeder für sich eine eigene Behausung gebildet haben mochten. Beide Häuser waren in eins verbunden. Sie bestanden aus drei Stockwerken und einem mächtigen Giebelvorbau des Daches, das in einer Linie beiden Häusern angehörte und aus kürzlich erst neugedeckten, lasierten Ziegeln bestand, gekrönt von einer Wetterfahne. Über dem zweistöckigen Erker, der sich oberhalb einer nicht eben großen, gotisch gewölbten Tür erhob, streckte ein gewaltiger Lindwurm aus getriebenem Kupfer den weitgeöffneten Rachen aus, um gelegentlich statt Gift und Flammen Regenwasser auf die Gasse zu speien. Zierlich waren die Ausschmückungen des Erkers. Über der Eingangspforte, unter dem behaglich winkenden Erkerfenster des ersten Stocks, thronte in lichten Farben die Königin des Himmels, in ihren Armen das Jesuskind haltend. Oberhalb des Erkerfensters sah man ebenfalls den Heiland, nun schon selbst die Kindlein segnend; ein Gegenstand, der in passendem Zusammenhang mit dem Familienleben der Bewohner des Hauses und dem ringsum erblühenden neuen Augsburger Schulwesen stand.
Der Erker des kleinen der beiden in eins verbundenen Häuser war nur einstöckig, auch waren dort die Fenster des ersten Stockwerks nur klein und vergittert. Dagegen zeigten sich die Fenster des oberen Stockwerks, der Erkerbau und sämtliche Fenster des Haupthauses desto ansehnlicher und trugen ebensolche Verzierungen, wie sich auf dem Weinmarkt die Wohnhäuser der Fugger mit Stukkaturen, buntem Glase an den Fenstern, schweren Damastvorhängen schmückten. Der Hof bot einen besonders hellen und freundlichen Anblick. In seiner Mitte plätscherte ein Springbrunnen aus ehernem Tritonenmund, den Augsburger Meisterhand gegossen. Ein Gewächshaus begrenzte den Hof. Unter seinem schützenden Dach hinweg gelangte man in einen kleinen Hausgarten, der in einer so zierlichen Regelmäßigkeit angelegt war, als hätten an ihm die Söhne des Rats Mathematik studieren sollen, was in der Tat geschehen war; denn diesen Garten bewohnte Magister Rupilius oder Rüpel, der Hauslehrer. Er verzehrte dort sein Gnadenbrot, nachdem er sämtliche vier Söhne des Rats für ihren Abgang zur Universität, auch ihre einzige Schwester, Kunigunde, unterrichtet hatte. Der Alte war ein Humorist. Nach seinen Angaben waren die Dreiecke, Vierecke, Kreise und Halbkreise der Blumenbeete angelegt, vom mit wilden Wein überrankten Fensterchen seines Studierzimmers aus konnte er die Elemente des Euklid durch Linien anschaulich machen, die von einem Rosenstock zum andern gezogen, von Nelkenbeeten zu Beeten mit Levkojen oder, wie sie damals hießen, Matthiolen – nach dem berühmten Arzt Matthioli zu Siena, der später nach Augsburg zog. Auf diese anmutige Weise hatte der Alte ebenso die Eigenschaften der Schenkel, Durchmesser, Sekanten und Tangenten gelehrt, wie er seinen Scholaren die erste Kenntnis der Buchstaben durch Abbildung aus Augsburger Lebzeltlen beigebracht.
In diesem Garten, nebenan in Peutingers Familienhause und in der neuen Annenschule, die erst seit einem Jahr unter dem Scholarchat der trefflichsten Männer aufgeblüht war, waltete recht das volle Wehen des Geistes der neuen Zeit. Er sprach sich hier noch in anderen Offenbarungen aus als nur im Widerstand gegen die alte Ordnung der Kirche. Neben des Magisters Rupilius veredelten Fruchtbäumen, seinen buntgesprenkelten Blümlein und wohlriechenden Würzkräutern befand sich eine Niederlage jener römischen Ausgrabungen, die Peutingers klassische Gelehrsamkeit leitete.
Johannes Paumgartner war diesem berühmten »Humanisten« befreundet. Auch er war hochgebildet, der Sohn eines Kaufmanns, der ebenso wie sein Sohn ein Doktor der Rechte, ein Rat dreier Kaiser gewesen, des dritten Friedrich, des ersten Maximilian und des fünften Karl. Nicht minder erschien der gegenwärtige Träger des aus dem alten Paumgartnerhause in der Deilingsgasse zu Nürnberg ausgegangenen Namens ganz der Mann, diese Strömung des Zeitgeistes in ihren erfrischenden Wirkungen nachzuempfinden und ihren Lauf zu fördern. In seinem Hause waltete neben dem Luxus der Fugger der Geist der Berührung mit der örtlichen und zeitlichen Ferne. Überall wurde die neue Bildung ersichtlich, die in Büchern, Naturalien, Modellen, Landkarten, fremden Waffen ihren Ausdruck fand. Auf den Stiegen und in den Korridoren befand sich eine Reihe von Wappen, Inschriften und Trophäen mit den Namen der hohen Fürsten, die dies Haus durch ihren Besuch schon geehrt hatten, vor allem Kaiser Maximilians I., der mit Peutinger, Lukas Meidinger und Hans Paumgartner, dem Alten, in dauernd vertraulichem Verkehr stand. In des Rates zierlich getäfeltem und mit dem kunstvollsten Gerät versehenen, nach dem stillen Hof hinaus gelegenen Arbeitsgemach im zweiten Stock des Hauses fielen sorglich ausgebreitete Landkarten und vor allem die mächtigen Bücherschränke auf. Hier waltete der Kaufmann und der Jurist zu gleicher Zeit. Auf jeder Karte zeigten eingesteckte Heftchen von Draht die Städte und Gegenden an, die im Augenblick den Geschäftsmann oder Politiker fesselten. In den Bücherschränken standen vom unhandlichsten Folioformat an bis zum zierlichsten Duodez die Gesetzbücher des Justinian, ihre zahlreichen, scharfsinnigen Ausleger, die Schriften des Bartolus und Johannes von Imola, die Bullarien der Päpste, die Bücher des Kanonischen Rechts, die Ausgaben der alten Klassiker, vor allem die geschmackvollen neuen Aldinen aus Venedig. Aber auch Werke über Lebensweisheit, politische Schriften, Satiren in lateinischer, französischer, italienischer Sprache. Auch hing hier die vollständige Rüstung eines Panzerreiters, Sturmhaube, Krebs, Koller, Arm- und Beinschienen, die gestickte Binde eines kriegerischen Führers, ein Feuerrohr mit schön geschnitztem Kolben aus fremdländischem Holz, ein Geschenk des guten Nachbars Bartholomäus Welser. Daneben die vielen Symbole des Friedens und der Welt des grünen Tisches –! Das ganze Dasein eines ehrgeizigen, unruhig strebenden, nur Großartiges im Geist umwälzenden Mannes sah sich hier aus einzelnen bedeutungsvollen Wahrzeichen zusammengedrängt.
Hans Paumgartners äußere Gestalt hat uns des berühmten Hans Burgkmayr Ütznadel in flüchtiger Radierung hinterlassen. Ottheinrichs Prinzipal war mittlerer Größe und von behäbigen Formen. Auf wohlgenährtem Halse saß ein Kopf, der dem Physiognomiker lehrreich sein durfte. Nichts entsprach darin dem Bilde eines Kriegers oder auch nur eines Mannes, dem einigermaßen diese Harnische gesessen hätten. Kleine, verquollen blinzelnde Äuglein mit dunkeln Brauen, eine kurze Stumpfnase, ein breiter Mund, das Kinn doppelt, völlig versteckt in der Fettlage des Halses – alles, wie auf einen vornehmen Prälaten deutend, jedenfalls das vollkommene Gegenteil von einem Mann, den man sich als Führer von zweiunddreißig »Kürissern« in dem Türkenkriege vorstellt. Die zarten und wohlgepflegten Hände, deren sämtliche Finger nach damaliger Sitte, und sogar am Daumen, beringt sind, die hofmännische Haltung der Arme, das über und über rasierte Antlitz lassen annehmen, daß sich hier ein Gemisch von mephistophelischer, selbst zynischer Weltverachtung mit Grazie und ersichtlichem Wohlwollen so verbinden konnte, um der ganzen Erscheinung einen unter Umständen besonders einnehmenden Eindruck zu sichern. Das Lächeln brauchte nur gemildert und überhaupt anwesend zu sein, um dem Rat Herzen zu erschließen, Freunde zu erwerben, Bittende sich ihm sowohl mit Ehrfurcht wie mit Vertrauen nahen zu lassen.
Vor einer Stunde freilich würde der kaiserliche Rat, nach dem Ausdruck, den seine Mienen angenommen hatten, zu schließen, für jeden, der sich ihm genaht hätte, ein Bild erstarrenden Schreckens gewesen sein. Da stand das lange, lockige, schon graue Haar, das für gewöhnlich weit über seine Schultern glitt, an der Stirn wild aufgebäumt, die dunkeln, mächtigen Augenbrauen krümmten sich wie Skorpionenstacheln über der Nasenwurzel, ein bitteres, wie stehengebliebenes Hohnlachen zog die mächtig breiten Lippen in die Höhe und ließ den Mund mit schadhaften Zähnen erblicken, durch deren Lücken es zischelte:
»Einfältige Tröpfe ihr! Ich will mit euch zu Rande kommen, ein für allemal –!«
Auf einen dicht am Fenster stehenden Tisch schleuderte er Papiere und machte im Zimmer einen Gang der Aufregung und des Nachdenkens nach dem andern. Endlich blieb er stehen, suchte einen reinen Bogen Papier hervor, setzte sich, tauchte die Feder in ein mächtiges, schön aus Bronze gearbeitetes Tintenfaß und schrieb das Ergebnis seiner Aufregung nach dem fortgeschleuderten Konzept, das er in die linke Hand nahm, mit den laut vor sich hingesprochenen Worten nieder:
»Was soll ich mich mit solchem Volk noch länger quälen –! Sie sollen mir nicht nehmen, glücklich und heiter zu sein –!«
Er schrieb das Niedergeschriebene selbst noch einmal ab.
Als er sich auf seinem Pult nach Streusand umgesehen und auf das Abgeschriebene die Büchse ausgeschüttet hatte, ergriff er eine auf seinem Tisch stehende Glocke und läutete.
Statt seines Leibdieners, Hans Schneehuhn oder seines geheimen Schreibers Laux Beichling kamen zwei liebliche Kinder gesprungen. Ihnen folgte ein drittes, ein schon heranreifendes, etwa fünfzehn Jahre alt, das sich aber doch noch mit den beiden Kleineren wie auf gleicher Altersstufe hielt. Offenbar hatte Kunigunde, oder wie sie genannt wurde, Gundula, die Tochter des Rats, im vorderen zur Straße hinausgehenden Zimmer mit den Kindern gespielt.
Beide waren in der Tat wie aus einer Puppenstube genommen. Das eine schüchterner, ein liebliches Bild, goldblond die Locken und von wahrer Lilienfarbe der Haut. Es war die damals sechsjährige Philippine Welser, in künftigen Tagen – märchenhaft genug – die Gattin eines Erzherzogs von Österreich, eines der Söhne des kaiserlichen Bruders Ferdinand. Die andere hieß Jakobina und war die Tochter des gefeierten Arztes Ambrosius Jung. Sie war schwarzäugig und schwarzlockig, scheinbar zurückhaltend, doch nur aus Scheu vor dem kaiserlichen Rat, der sich ein übermäßiges Rumoren und Lärmen der um die Abreise des David Paumgartner und seines Gefährten, den sie »Häsi« nannten, aufgeregten Mädchen für eine halbe Stunde verbeten hatte; sonst blieb Jakobine Jung an Wildheit hinter Gundula, der Tochter des Rats, nicht zurück.
Letztere, die gerade nicht schön, aber mit ihrer brünetten Hautfarbe und ihren schwarzen Augen anziehend war, wurde täglich gemahnt, ihr Alter zu bedenken und ihre schon erfolgte Firmung, vor allem sollte sie nicht mehr mit den kleinen Kindern spielen. Letzteres konnte sie mit diesen beiden nicht lassen oder – richtiger gesagt – die kleine Welserin und Jungin nicht von ihr. Vor- und nachmittags mußten sie zu Gundula oder Gundula zu ihnen.
Die halbe Stunde war vorüber, wild durchbrachen die Mädchen den Bann, den ihnen heute sogar für den ganzen Tag die Großmutter, Frau Felicitas, auferlegt hatte. Denn im Erdgeschoß war alles mit dem Reisegepäck der beiden Universitätsabiturienten, des David und des »Häsi«, beschäftigt. Eben auch durch diese Vorbereitungen wurden der alte Schneehuhn und der Schreiber Beichling verhindert, sofort auf den Ruf der Glocke zu erscheinen.
Was der Rat durch sein Schellen begehrt hatte, wurde für Gundula sogleich ersichtlich. Der Vater bemühte sich, über einem silbernen Zunderkästchen mit Stahl, Stein und Schwefelfaden Feuer zu machen. Damals eine umständliche Prozedur! Auch die Kleinen ersahen sein Verlangen und halfen dermaßen am Zunder blasen, als ließe Äolus alle seine Schläuche los. Von dem endlich anbrennenden Schwefel bekamen sie tüchtig den Husten.
»Ei, Herr Rat,« sagte jetzt der inzwischen gekommene Hans Schneehuhn, er trug die Paumgartnersche Livree, »Beichling ist auf dem Kontor, und wir stecken die Köpf' in alle Truhen und Kisten, die mit Fuhrgelegenheit nachgehen sollen, und scheiden die Zwehlen und Fazineitle und Krausen aus, die etwan noch in die Mantelsäck' gehen!«
Während dieser Worte brachte Schneehuhn das Feuerzeug und die Kerze in Ordnung, und nunmehr konnten Philippine Welser und Jakobine Jung erleben, was sich Gundula alles bei ihrem Vater herausnehmen durfte. Sie erweichte das Siegelwachs am Licht und strich die flüssige Masse auf die Stelle eines Schreibens, auf die der Vater lächelnd gedeutet hatte, dicht bei seines Namens Unterschrift; ja sie drückte auch noch das mächtige Metallpetschaft darauf. Wäre der Brief an fürstliche Personen gerichtet gewesen oder eine dem ehrbaren Rat von Augsburg, an den er in der Tat abgehen sollte, minder erfreuliche Erklärung, der Rat würde für eine zierlichere Petschierung durch seinen Schreiber Sorge getragen haben. So aber ließ er es ruhig geschehen, daß im Siegel sein Sittich ohne den stolzen Kamm, seine Lilie ohne die volle Blätterzahl zur Ausprägung kam, wie sich in geschäftlichen Angelegenheiten doch gebührte.
Als die Kinder wieder das Zimmer verlassen hatten, hatte der Rat die Urschrift noch einmal vor sich genommen und halblaut gelesen:
»Einem festen, fürsichtigen und ehrbaren Rathe zeige ich hiermit submissest an, daß ich vermeine und des Glaubens zu meinem Erlöser ersterbe, den verlangten Eid unter keinerlei Bedingniß leisten zu können und zwar des Grundes, weil ein Kaufmann zu keiner Stunde sagen kann, was ihm Wind und Wetter beschieden haben und was er besitzt. Um aber meine willige Liebe zum gemeinsamen Wesen meiner Vaterstadt zu bezeugen, gedenke ich, da man mich besteuern will, keines mindern zu thun, denn vor Gott und meinem, jedoch vorbehaltenen, Eid meine Schuldigkeit sein dürfte. Weßmaßen ich mich hiermit erboten haben will, zwar nicht zu schwören, wie reich oder wie arm ich sei, aber aus eignem Trieb zu zahlen des Jahres in die Steuer gemeiner Hanthierung so viel als Antonius Fugger nach letzter Schatzung. Das sind: Achthundert Goldgulden. Der ich ersterbe als eines festen, fürsichtigen und ehrbaren Rathes untertänigster Hans Baumgartner der Alt.«
Diese Erklärung wurde vom Rath noch im Ton des bittersten Unmuts, ja des Trotzes vorgetragen.
Dann sprach er vor sich hin: »Es ist das Letzte, denke ich, was ich mit ihnen noch zu schaffen habe! Sie wollen uns veranschlagen und ihre Macht fühlen lassen vorm Toresschluß! Die Haut abziehen und dann doch wieder schmeicheln! Für die ausgestorbene Geschlechterstube sollen wir Ersatz bieten? Welche Ehre, die Lasten doppelt zu tragen, die sie uns aufbürden durch ihre rasende, dem Kaiser und Reich aufbietende Politik! Wir, wir sollen den Kopf für sie in die Schlinge stecken und die Rasereien quitt machen, die sie in ihren Zech-, Schreib-, nein in ihren Schreistuben ins Werk richten!«
Dann sah der Rat auf die Landkarte. Er mußte sich beruhigen, allmählich zerstreuen. Und doch heftete er an die Stäbchen der Landkarte nur die Erläuterung der eben gemurmelten Worte. Er schüttelte den Kopf, als er Sachsen und Hessen überschaute. Dort schloß der Kurfürst, hier der Landgraf gegen den Kaiser den Bund von Schmalkalden. Seine Augen streiften über Onolzbach und Kulmbach hin, wo jetzt alles auf die Haltung des Markgrafen Georg von Brandenburg, der gleichsam den Wagebalken zwischen den schmalkaldischen und den Kaiserlichen vorstellte, gespannt war. Über München und Landshut glitten seine Augen, wo die Bayernherzoge Ludwig und Wilhelm zwar streng, ja grausam gegen die Bekenner des neuen Glaubens walteten und doch dem Kaiser in manchen Dingen die Widerpart hielten, da sie gern, wie vor einigen Jahren zur böhmischen Krone, so jetzt zur deutschen Königskrone in beiden Fällen statt des kaiserlichen Bruders Ferdinand, gelangt wären. Über Brüssel fuhren seine Augen hin, wo Ferdinands und Karls Schwester, Maria, die verwitwete Königin von Ungarn, als Statthalterin männlich regierte und sogar den Lutheranern manche Gunstbezeigung erwies, falls diese nicht in die soeben in Münster niedergeworfene Wiedertäuferei ausarteten. Über Südfrankreich, wo eben der Kaiser wieder gegen Frankreich und diesmal gar unglücklich im Felde lag. – Über Wien, wo Ferdinand die ihm durch den Tod seines Schwagers Ludwig in der Schlacht von Mohacz zugefallenen schwanken Kronen von Ungarn und Böhmen immer fester mit den Interessen der habsburgischen Sondermacht zu vereinigen suchte. Zuletzt blickte er mit einem tiefen Seufzer auf Venedig, das ihn heute nur allein hätte beschäftigen sollen – – Dann aber auch auf das benachbarte Padua. Da verklärte sich sein Blick. In Padua hatte er selbst studiert. Nun schickte er schon seinen jüngsten Sohn dahin! Der Zweitjüngste, Johann Georg, studierte eben noch in Bourges, der alten Akademie des Landes Berry in Frankreich. Lange betrachtete er das Stiftchen an dem großen blauen Fleck, der die Adria unterhalb der langen Raupen, welche die Alpenzüge bedeuten sollten, kennzeichnete. Immer mehr glättete sich jetzt seine Stirn; Erinnerung und schönere Hoffnungen für die Zukunft versetzten ihn in eine andere Welt.
Es klingelte aufs Neue.
Ein anderer Diener erschien, gleichfalls in grün, weiß, rot und schwarzer Livree.
»Ich will mich ankleiden!« lautete der Befehl.
Der Diener öffnete Nebentüren und Wandschränke. Wahre Schätze an Verkleidungsmaterial wurden hier sichtbar –! Rasch wurde gewählt und das mit einem kurzen Nicken des Kopfes Bezeichnete herbeigetragen. Über dem feinsten Linnenzeug, dessen obere Ränder mit Gold, Silber und Seide gesäumt waren und sich mit unzähligen zierlichen Falten um Nacken, Achsel und Brust legten, breitete sich bald ein Wams vom feinsten schwarzen Samt aus. Über die hohe Lehne eines Sessels legte der Diener zum Ausgehen eine silbergraue Schaube bereit mit mächtigen, geschlitzten, durch rote Passamente zusammengehaltenen Ärmeln purpurroten Futters. Silbergrau waren auch die entsprechenden Beinkleider, die der Rat schon anhatte; purpurrote Strümpfe wurden hinzugefügt mit schwarzen, ledernen, vorn mit wollenen Puffen verzierten Schuhen. Um den kurzen gedrungenen Hals gehörte die bereits auf dem Tisch liegende kaiserliche Ratskette. Ein viereckiges Barett, dem Doktorhut, den ohnehin der gelehrte Kaufmann tragen durfte, nicht unähnlich, mit vierfach gebrochenem Rand, wurde ebenfalls mit den zierlich gesteppten Handschuhen zum Ausgehen in Bereitschaft gelegt.
Der Rat sagte zu dem Diener, der wieder gehen wollte:
»Ottheinrich Stauff wird kommen! Erinnert ihn, daß er bei uns speisen sollte und erst nach Tisch und vor seinem Abritt die bewußten Aufträge empfangen werde. Ihr wisset aber auch, daß wir heute unser Mittagsmahl auf die dritte Stunde verlegt haben!«
Der Beauftragte ging und begegnete einem andern Diener, der einen Besuch meldete, der schon unmittelbar dem Meldenden auf dem Fuße folgte. Falls der Rat zu Hause war, stand des Gemeldeten Willkommensein seit länger als dreißig Jahren in diesem Hause fest. Es war ein noch wohlgenährterer Herr als der Rat, doch schon im Silberhaar. Im leichten, wollenen Hauswams, in zierlich ausgezackten, grauen Filzschuhen mit hochgehenden roten Strümpfen und schwarzen Agraffen an den Knieen, einen Ledergurt mit Täschchen und Schlüsseln um den mächtigen Leib – es war der Nachbar Konrad Peutinger selbst, der in dieser leichten Haustracht, wenn er nebenan in den alten Räumen seines Geburtshauses unter seinen Steinen und Bronzen kramte, einmal herüberkam, um mit dem jüngeren Freund und Gevatter, wenn auch nicht gleiche, doch verwandte Gesinnungen auszutauschen. Peutinger war schon siebzig Jahre alt. Er hatte die glänzendsten Stellungen, die ihm nacheinander drei Kaiser geboten, ausgeschlagen, immer mit seinem einfachen Posten als Ratsschreiber von Augsburg sich begnügt, in welcher Eigenschaft er freilich bei allen Händeln der Welt mit Wache stand. Er kannte die meisten tonangebenden Männer seiner Zeit persönlich, war auf allen Reichstagen von Worms, Speyer, Nürnberg und Regensburg, hatte Brüssel, Wien, Venedig gesehen. Seine Ratschläge griffen in Krieg und Frieden ein. Seit zwei Jahren jedoch hatte ihn die Stadt in einen ehrenvollen Ruhestand versetzt.
In Peutingers Zügen, so sehr sie durch die Fülle des Fleisches verquollen waren, sprachen sich reichsstädtische Behäbigkeit, Ernst und Milde zugleich aus. Dem Mund war sogar die Zierlichkeit der ersten Jugend geblieben. Daß die Stirn niedrig sein sollte, war nur anscheinend, da langes weißes Haar sie bedeckte. Scharf trat das Kinn hervor. Der ganze Eindruck war der einer vornehmen Bedeutsamkeit, die sich durch Redseligkeit vielleicht ein wenig abminderte.
Beide Männer hörten zwar nie auf, eifrig von Politik und Religion zu sprechen, waren jedoch die Eindrücke für ihre Richtung zu unerquicklich, so sprachen sie von Reisen, Büchern, neuen Entdeckungen.
Peutinger brachte den jungen Reisenden Briefe für Venedig und Padua mit. Für Venedig an den berühmten Dichter und Humanisten Pietro Bembo, den gelehrten Buchdrucker Manuzzi und einige Staatsmänner der Signoria, die ihm seit seiner Anteilnahme am Friedensschluß von Cambrai ein treues Andenken bewahrt hatten. Für Padua brachte er Briefe an den gefeierten Andrea Alciati, wie an andere Gelehrte, denen er sich selbst und die Überbringer, die jungen Studenten David Paumgartner und Johann Ulrich Zasius, aufs wärmste empfahl – denn Zäsi, nicht Häsi, wie Gundula mit Philippine Welser und Jakobine Jung den aus Freiburg im Breisgau gebürtigen Genossen des Bruders zu nennen beliebten, hieß der zwar schüchterne, aber sehr unterrichtete Knabe, dessen Vater, der hochberühmte Rechtsgelehrte Ulrich Zasius zu Freiburg im Breisgau, kürzlich gestorben war. Seines Vaters engverbundener Freund, Hans Paumgartner, hatte der bedrängten Mutter das eine ihrer mehreren Kinder abgenommen und versprochen, ihn wie seinen eigenen Sohn erziehen zu lassen.
Als sich der Rat schnell darein gefunden, daß nunmehr sein Ausgang noch aufgeschoben werden mußte und Peutinger mit hoch emporgehaltenen Armen die Aufregung und den Wirrwarr, den die Reisevorbereitung im Hause verursachte, angedeutet hatte, fragte dieser:
»Wer reitet denn heute auf Venedig?«
»Hans Pfister!« berichtete der Rat.
»Ein fürsorglicher Bote! Der beste des Baptista Taxis! War in alten Tagen auch ein wackerer Kriegsknecht, der seine Klinge weidlich führt! Der Bischof stellt dem Führer – wie viel Reiter heute zum Geleit?«
»Deren mehr als der Brauch! Vier!«
»Das ist brav vom Schwangauer! Ihr seht, wie ihr geachtet seid!«
Der Rat lächelte, Peutinger kannte die Späne, die sein Freund mit dem Rat der Stadt über die Besteuerung hatte und wie sehr ihn etwaige Beweise von Nichtachtung verdrießen konnten. Der Schwangauer war Heinrich von Schwangau, Marschall des Bischofs, der in der Pfalz am Dom wohnte und über die Reisigen des Stifts die Obhut hielt.
»Und von Füssen aus? Durch das böse, von Landsknechten, Zigeunern und allerlei Wildlingen, die immer noch – sollte man's glauben! – aus dem Bauernkriege stammen, geplagte Tirol?« fragte Peutinger fürsorglich.
»Für Tirol bekommen sie Empfehlungsschreiben an den Herrn von Salamanca!«
»Grafen von Ortenburg! Von Ortenburg!« fiel Peutinger berichtigend ein. »Wißt ihr noch nicht, wie sich der spanische Herr, der Statthalter in Innsbruck, seit einigen Wochen schreiben darf?«
Der Rat erfuhr da sogleich etwas Neues.
Peutinger berichtete ein Erlebnis, das sein Freund und Gevatter noch nicht kannte. Offenbar durch die Erhebung des Salamanca zum Grafen von Ortenburg, durch die Erwähnung des kürzlich erfolgten Abscheidens des Erasmus und die vor ihm liegenden Empfehlungsbriefe zerstreut, ließ er Peutinger seine gewohnte Redseligkeit ununterbrochen hingehen.
»Seit langen Jahren,« erzählte dieser, »hatte ich von den erlauchten Grafen von Werdenberg die Aufforderung erhalten, ihre Schlösser zu besuchen und ihre alten Bücherschätze durchzusehen. Peutinger, Peutinger, warum kommt ihr nicht endlich einmal nach dem Geyerstein, meinem Schloß in Tirol! hieß es beim seligen Grafen, wenn er mir einen alten Turm schilderte, wo in einer Kammer uralte Schriften aufgehäuft liegen sollten seit Menschengedenken, Pergamente, entnommen aus den ältesten Burgen, so der Werdenberger Vorvordern im Prättigau, Engadin und Veltlin zerstört haben, aus Klöstern in Welschland, wo die Landsknechte manches wertvolle Skriptum zu Gelde machten. Wohl zwanzig Jahre hindurch hatte mich noch der alte Herr, Gott hab' ihn selig, zum Besuch aufgefordert. Und so machte ich mich denn endlich vor zwei Jahren, als ich Freiheit von meinem leidigen Zipperlein und die größere von meinem Amt bei der Stadt gewann, auf den Weg. Komme voll Hoffnung nach Füßen – sauces Alpium. Dort stärke ich mich recht im Anblick der alten Vierburg Hohenschwangau, die unter den Welfen und Hohenstaufen so glorreiche Zeiten gesehen hat, reite bald diesseits, bald jenseits des strudelreichen, an seinen Ufern von den Fußstapfen des heiligen Mang geweihten Lech, komme an die Ehrenberger Klause, deren Pflegamt euer Vater selig so viele Jahre hindurch als Kaiser Maxens Ehrenamt neben seinem großen Kaufhause und so vielen Stadtämtern herrlich verwaltete, und denke nun: Das gottgesegnete Land Tirol und die Feste Geyerstein machen deine glücklichsten Träume wahr! Da, als ich schon beim Kloster Stams bin, schon mit meinen Reisegesellen, die ich mitgebracht, einem Schreiber aus dem Sankt-Ulrich, zween Benediktinern, die mir der Abt von Sankt Mang in Füßen, der gute Hans Genzinger, mitgegeben, vortrefflichen Briefmalern, die im Entziffern der ältesten Handschriften wahre Hieroglyphendeuter waren, einigen Mannen von der Ehrenberger Klause, die erwarteten Schätze im Geiste vor mir sehe, reitet ja ein gewaffneter Knecht, in Staub gehüllt, spornstreichs die Landstraße daher! Die Reisigen erkannten schon von weitem die Farben des Reiters als die gräflich Werdenbergischen. Der Reiter berichtet uns atemlos, schloß Geyerstein sei in dieser Nacht ein Raub der Flammen geworden. Wie? rief ich entsetzt, der Geyerstein –? Ja, hieß es, der ist vom obersten Turmrand bis zum untersten Gewölbe niedergebrannt –! Sprengt der Knecht davon und läßt sich nicht weiter halten. Ihr könnt euch denken, Gevatter, wie ich erbebte und im Schoße Gottes ordentlich da die ganze Welt begraben sah! Vor den Augen schwindelte mir's wie stockfinstere Nacht – die ewige Nacht, Freund, aus der wir nur noch durch die Posaune des Gerichts geweckt werden! Wohl! Wohl! Da werden einst alle verlorenen Bücher wieder aus den Gräbern erstehen! Nie hab' ich des Menschen gemessene Weisheit, all unsers Witzes jähes Ende so erkannt wie dazumal, als ich ruhig umkehren mußte und dem Knechte nachschaute, der hinterwärts Hohenschwangaus zu seinem Herrn auf München zu ritt, wo er sich gerade befand!«
Der Rat bezeugte seinen Anteil an einem Vorfall, der den Erzähler noch jetzt erschütterte. Seine Aufmerksamkeit war aber wiederum nur an einem Einzelmoment, jetzt mit noch gesteigert gewecktem Nachdenken, haften geblieben, als vorhin bei den kaiserlichen Rangerhöhungen und dem Tod des Erasmus. Hätte Peutinger schärfer beobachtet, so hätte er bemerken können, daß der Rat bei Erwähnung der alten Vierburg Hohenschwangau die ohnehin schon kleinen und zusammengedrückten Äuglein ganz schloß und sie erst allmählich wieder blinzeln, ja lauernd, öffnete.
Peutinger hielt diese forschende Miene harmlos aus.
Nun legte der Rat die Briefe in die für Ottheinrich schon bereit liegende lederne Tasche und ließ dabei wie völlig sorglos die Frage fallen:
»Ihr wart im vorigen Jahr auf Hohenschwangau?«
»Nur ein Stündlein,« antwortete Peutinger. »Ich brachte Grüße an den Ritter Jörg von seinem Bruder, dem Marschall, unserm Nachbar, und vom Bischof die Mahnung um sein Amt in Zusmarshausen, das er durch einen Verweser führt. – Die Äbtissin von Schönenfeld, die sich noch immer nicht vom Bauernkrieg erholen kann, vermißt da eine starke Hand. Freilich haben ihm die Lust am Vogtieren Gicht und Alter vertrieben.«
Wieder forschten Paumgartners Augen, ob etwa sein Besuch bei diesen Worten irgend etwas Besonderes in den Mienen verriet. Diese blieben harmlos. Und Peutinger war sonst nicht der Mann, der ein Interesse, das seines Wissens der Rat an Hohenschwangau hätte nehmen sollen, ungesprochen gelassen hätte.
Von dem abwechselnd erfreulichen, in manchem peinlichen Eindruck der Unterhaltung wurde der kaiserliche Rat durch das Eintreten einer hageren, ehrwürdigen Matrone befreit.
Es war Frau Felicitas, seine Mutter. Auch sie stand seit Jahren Peutinger schwesterlich nahe. Er wie Peutingers gelehrte Gattin, eine Welser, hatte Felicitas Rehlinger nie empfinden lassen, daß sie nicht Latein sprach und schrieb wie die Gevatterin, keine Tochter hatte, die mit vier Jahren schon den Kaiser mit einem lateinischen Gedicht begrüßen konnte, keine, die von Konstantin Peutinger, vor dem versammelten Reichstage den nunmehr auch schon dahingegangenen Ulrich von Hutten in lateinischer Sprache anreden und mit dem Dichterlorbeer krönen konnte – Frau Peutinger und ihr Gatte schätzten an Rätin Paumgartner ihren angeborenen Geist, ihre Klugheit, Welterfahrung, vor allem ihre weise Wirtschaftlichkeit und den guten Willen, den sie für die Erziehung ihrer Enkel bewies.
Geschäftig trat die Matrone ins Zimmer und schien erst jetzt des Gevatters Anwesenheit zu bemerken. Ihr Sohn erkannte sogleich, daß die kluge Mutter nur gekommen war, um ihn von einem Besuch zu befreien, der ihn für den heutigen Tag allzu lange aufhielt.
»Nachbar, Nachbar,« sagte die würdige Frau, die in ihres Sohnes Statur nicht das eigene Abbild, sondern das seines Vaters wiederholt sah, ihn aber eben um deshalb mit so wärmerer Liebe umschloß, »Nachbar, ihr verzeiht – wir haben heute seit Jahren den unruhigsten Samstag –! Alter,« wandte sie sich zum Sohn, »du vergibst schon, daß ich unten tue, als wenn ich das ganze Haus umkehren wollte, jedes Ding anfasse und mich frage, ob's die Jungen vielleicht für Italien brauchen könnten ... Es haben sich drüber mehrere Besuche von der Stiege wieder umgewandt. so die brandenburgischen Gesandten aus Onolzbach ... Auch der neue Stadtschreiber, Herr Georg Frölich, war da. Ei, das ist ein lustiger Mann, euer Nachfolger, Gevatter! Gar nicht so leidig, so kirchhöfisch, wie ihr jetzt geworden seid mit allen euern Särgen und Aschenurnen! Sie machen ihre Besuche ein andersmal.«
»Zu dem brandenburgischen Gesandten wollte ich eben selbst gehen!« sagte ihr Sohn.
Da merkte Peutinger, daß er unbequem war. Er hatte mit einigem Verdruß den Namen seines Nachfolgers nennen hören und konnte sich nicht versagen, ein Homo novissimus! vor sich hinzumurmeln.
Jetzt griff er nach seiner Kappe und schickte sich an zu gehen.
Peutinger würde nun, noch einmal auf die mitgebrachten Briefe zeigend und mit den Worten: »Die Jungen sind unten? Ich gebe ihnen noch einen Kuß und meinen Segen!« gegangen sein, wenn nicht plötzlich Philippine Welser und Jakobine Jung durch die vorderen Zimmer dahergerannt wären und ausgerufen hätten:
»Schaut, schaut doch! Auf der Gassen – da kommen die Leut'! Sie bringen wieder Pfaffen!«
Der Rat, seine Mutter, Peutinger wurden dadurch veranlaßt, sich nach vorn zu begeben und einem lauten Stimmengemurmel zu lauschen.
Gundula, die sich weit über die Brüstung des geöffneten Fensters lehnte, rief:
»Und Ottheinrich Stauff führt ja die Pfaffen! Ei, seht doch! seht! Sie gehen nebenan ins Kolleg!«
Und kaum hatten sich die Kleinen vom wirklichen Einbiegen des Volkshaufens in die zum benachbarten Sankt-Annenkolleg führende schmale Gasse überzeugt, als sie auch schon davonrannten, um von einem bequemeren Standpunkt aus diese interessante Begebenheit mit anzusehen.
Zögernd stand Gundula.
»Was ist das nur?« sagte die Großmutter mit zurückkehrendem Ernst. Sie bemerkte mit Unmut, wie ihre Enkelin bald weiß, bald rot und plötzlich still wurde, auch den Kindern nicht folgen mochte, obgleich die Großmutter gesagt hatte:
»Schau nach ihnen –!«
Durch die von den Kindern offen gelassene Tür trat wieder des kaiserlichen Rats Leibdiener Hans Schneehuhn ein und meldete, was sich begeben. Sowohl den Aufstand bei Sankt-Ulrich wie die Entweichung zweier Benediktiner, ihre Begleitung in die für solche Fälle offen stehende Herberge zu Sankt Anna. Alles das hatte er auf seinem Heimgang vom Rathaus bereits in Erfahrung gebracht.
»Geht es nun auch bei den Benediktinern an?« sagte Peutinger kopfschüttelnd, lehnte sich zum Fenster hinaus und übersah die Menschenmasse, die sich durch die enge Gasse in den Hof des Kollegs drängen wollte. Wer wäre denn da des wahrhaft kaiserlichen Himmelreichlebens überdrüssig geworden?«
»Pater Udalrich und der Koch!« schnarrte eine heisere Stimme eines neuen Ankömmlings, der bereits im Nebenzimmer ausführliche Erläuterungen über den Lärm zu geben angefangen hatte.
Es war der vertraute Sekretär des Rats, Laux Beichling. Er berichtete, scheinbar unterwürfig und demütig, doch zugleich boshaft lachend, was er über Stauffs Verhalten zu dieser Einbringung der beiden Benediktiner in Erfahrung gebracht. Er gab die Erzählung von der Anrede, die Ottheinrich Stauff im Augsburger Pyr an die Mönche gehalten hatte. In den künstlichen Stockungen seines Vortrags lag die eigene Zurückweisung eines ungeziemenden Benehmens eines Paumgartnerschen Dieners. Herr Laux Beichling war ohne Zweifel noch ein ziemlich junger Mann; doch hatte er schon das Ansehen eines Vierzigers. Sein Wuchs war schlank, doch trug er den Rücken so gekrümmt, daß er nur mittel aussah, jedenfalls schien er den Wuchs seines Prinzipals wie aus Höflichkeit nicht überragen zu wollen. Seine Haare waren gelockt und rötlich, seine Gesichtsformen starkknochig, die Haut äußerst glatt rasiert.
Peutinger nahm den Vorfall, wie er eben war, und begnügte sich, einen neuen Beitrag zur Kunde seines so sehr veränderten Augsburgs erhalten zu haben. Mit einem einfachen: »Ich kenne doch die Konventsherren alle und weiß, daß die genannten gerade am längsten widerstanden haben wollten – ich will mich erkundigen!« – empfahl er sich, die sonst gemessene Beweglichkeit seines umfangreichen Körpers ein wenig beschleunigend.
Rat Paumgartner, der heute Ursache hatte, sich alles das zu vergegenwärtigen, was ihm an Ottheinrich Stauff lieb, wert, vertrauenswürdig geworden war, brach in den heftigsten Unwillen aus.
Dennoch hielt er, nach einigen scharfen Auslassungen über die Zuchtlosigkeit des weltlichen Regiments und die Anmaßung junger, unreifer Menschen, die sich berufen glaubten, in den Gang der Begebenheiten einzugreifen, mit seines Ärgers voller Kundgebung inne; denn er hatte zu sehr das Bedürfnis, den jungen Mann, dem er so viel Vertrauen schenkte, hoch zu halten. Sein heftiges Temperament hatte er in solchen Fällen zu beherrschen gelernt. Nur, wer ihn verstand, wie Laux Beichling (auch dieser war seines Zeichens nur ein Handlungsbeflissener und nur infolge mancher Kenntnisse und seiner guten Handschrift wegen vom Kontor in die nähere Vertraulichkeit des Prinzipals gezogen), erkannte sofort, was nun noch alles mit dem unruhigen Hin- und Hergehen des Rats, mit dem stillen Horchen nach der Seite des Hofes zu, mit dem Öffnen des in den Hof führenden Fensters, mit dem nach unten hinausgerufenen heftigen: »Ist denn auch das Haustor geschlossen?« gesagt sein sollte.
Gundula hatte sich allmählich langsam und still entfernt.
Die Mutter des Rats kam zurück und zeigte sich sogleich als die kluge Frau, die sie Zeitlebens gewesen. Wohl wissend, wie ihr Sohn diesen Vorfall von seiten eines Untergebenen und noch dazu an diesem heutigen, für den jungen Mann so ehrenvollen Tage aufnahm, warf sie dem lauernd auf den ferneren Erguß des herrschaftlichen Unwillens harrenden Beichling einen Blick zu, der über seine alleinige Deutung durch ein »Packe dich!« keinen Zweifel lassen konnte, und sagte, als der hämische Angeber das Zimmer verlassen hatte, zunächst sogleich auf anderes übergehend:
»Es war dir doch nicht unrecht, daß ich den alten Umstandskrämer fortgeschafft?«
»Peutinger?« fragte der Sohn, aus seinen unmutigen Gedanken zerstreut erwachend.
»Du hast den Kopf voll!« antwortete die Mutter und schüttelte lächelnd den ihrigen. »Ich hörte an der Tür, daß ihr wieder in den Kellern saßet und Scherben ausgrubt! Wo ist heute dazu Zeit! Ich kam, um ihn auf gute Art fortzubringen. Willst du noch ausgehen? Wir speisen zur bestimmten Stunde, wie du der armen Jungen wegen gewollt hast. Schneehuhn war auf dem Rathaus. Hast du den Schwur angesagt?«
»Den Schwur? Wie würde ich!« beruhigte er die Mutter, die ihre letzte Frage mit einiger Befangenheit ausgesprochen hatte; denn einen Schwur über dunkle und schwer zu bestimmende Dinge zu leisten, war zu allen Zeiten, aber damals mehr als je, bedenklich.
»Ich gebe in die Steuer, was die Fugger zahlen, achthundert Goldgulden!« erklärte der Sohn und trommelte dabei auf die farbigen Fensterscheiben, die in zierlicher Mannigfaltigkeit der Formen, mit silberhell poliertem Blei gefaßt, goldene und bunte Lichter ins Zimmer warfen.
Ein Bedenken, ob diese hohe Summe auch den wirklichen Vermögensverhältnissen ihres Sohnes entsprach, befiel die Mutter nicht. Sie erkannte mit Wohlgefallen die freiwillige Gleichstellung mit den Fuggern, erkannte vor allem, wie ihren Sohn derlei Entschlossenheit froh und behaglich stimmte.
Der alte Schneehuhn berichtete inzwischen, daß die Menschen sich zu verlaufen begonnen und die Mönche im Kolleg ihre Unterkunft gefunden hätten. Die Öffnung einer Seitentür des Gartens, durch die man in den Hof des Sankt-Annenkonvents gelangen konnte, würde, auf Anordnung »des jungen Fräuleins« (Gundula war gemeint), dem jungen Ottheinrich Stauff erleichtern, sich der Neugier des Volks zu entziehen.
Auch Laux Beichling kam zurück und bestätigte, was schon zuvor von ihm als Vermutung ausgesprochen war, daß der eine der beim Rektor Untergebrachten der Koch des Klosters, der andere der Herborist, Pater Udalrich, wäre.
»Ja,« fügte er mit hämischem Lächeln hinzu, »von einem der Fuggerschen hörte ich, daß unser Diener Stauff am Pyr auf offener Straße eine Predigt gehalten hat, welche die Ordensleute, die, wie der Fuggersche sagt, schier Lust bezeugten, in ihr Kloster wieder umzukehren, mit gar beweglichen Worten zum Ausharren beim einmal Begonnenen zu bestärken, zu befestigen und zu ermuntern suchte.«
»Schon in den Handel die Fugger eingemischt!« rief der Rat mit Wiederkehr des alten Unwillens aus.
Auf einen Wink der Großmutter mußten sich Schneehuhn und Beichling entfernen und sich wieder an die Zurüstungen der heutigen Abreise begeben.
»Wie sie ja immer tun!« fiel sie dann ein. »Sie werden den Diener abgeschickt haben mit dem Auftrag, er sollte sich an die Mönche machen und die armen Tröpfe mit Geld und Versprechungen wieder in ihren Käfig zurücklocken. Der Stauff ist ein gutes, ehrliches Blut! Es ist ihm schon gesagt, daß du ihn lieber erst nach Tisch zu sprechen verlangst. Seine Anwesenheit beim Mahl kann man auch ganz – wenn du es vorziehst –«
»Nein! Nein! Er komme nur –!« sagte der Rat und brach ab.
Konnte sie etwas anderes wünschen, als Frieden und Aussöhnung mit dem jungen Mann, dem sie ihren geliebten jüngsten Enkel, die Hoffnung des Hauses, anvertraute –! Um so mehr, nachdem schon der älteste, Johannes, der zweitälteste, Antoni, der dritte Johann Georg, auf Bahnen wandelten, denen ihr doppelt mütterlich empfindendes Herz nicht mehr mit voller Befriedigung folgen konnte –!
»Wo Beichling nur kann, sucht er dem Bamberger zu schaden!« sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Die erste Regel eines weisen Regenten,« erwiderte der Rat, indem er endlich, zu ihrer Freude, wieder lachte, »lautet: »Dulde unter denen, die dich bedienen, keine Freundschaften! Trachte vielmehr danach, daß sie sich einander befehden! Oder zieh wenigstens deinen Nutzen davon!« Diese Weisheit ist leidig, aber der Welt Lauf und der Menschen Art haben sie mit sich gebracht. Deshalb laß den Beichling auf seinem Platz und den Stauff – in Gottes Namen denn – auch auf seinem –! Je mehr sie sich befehden, desto fester sitze ich zwischen beiden im Sattel! Doch jetzt genug! Ich habe mit den Brandenburger Herren zu sprechen, die vorhin bei uns einkehren wollten. Sie werden Augsburg bald verlassen. Dann zu Tisch! Für die Jungen gehen heute Mittag- und Abendimbiß in eins hin! Der Postreiter hat es so gewollt. Dann mag um fünf Uhr die Abschiedsstunde geschlagen haben!«
Als die Großmutter ihren Sohn in stattlichstem Aufzug durch den Wirrwarr des Hauses, wo heute Kisten und Kasten durcheinanderstanden, begleitete, war sie froh, daß sich sein Blick nicht rückwärts in den Hof wandte, über den soeben Ottheinrich Stauff, begleitet von Gundula, von den Kindern, vom jungen David und seinem Freunde, dem »Häsi«, auch vom alten Hauslehrer Rupilius, mehr vor Erschöpfung und Aufregung von ihnen getragen, als auf eigenen Füßen daherkam.
Sie begleitete ihren Sohn, um jede Begegnung mit Ottheinrich für jetzt unmöglich zu machen, bis dicht ans Haustor und schloß dies selbst hinter ihm zu.