Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXX.

Als der Bau des Schwanensteins im wesentlichen vollendet war, wurde die vom Bischof Stadion genehmigte Wohnung auf dem Schloß zu Füssen verlassen. Schon brach manche kleine Reibung mit dem Abt von Sankt Mang aus, der ebenfalls Besitzungen hatte, oder mit der herzoglich bayerischen Kammer, mit Österreich sogar. An allem, was nicht Politik oder Religion betraf, war Ottheinrich Stauff der unentbehrliche Teilnehmer und Berater des Rates. Niemand hatte ihn so hoch gehalten wie Johannes, zu dessen Lebzeiten auch der Geist des Friedens über dem neuen Erwerb des Vaters ruhte.

Unausgesprochene, gebundene, versteckte Verhältnisse hatte Johannes überhaupt nicht mehr um sich geduldet. Er verachtete die Heuchelei. Manchem schüchternen Bekenntnis löste er die Zunge, manchem Tatbestand, den die Rücksicht mit Verhüllungen umgibt, verhalf er zu offenem Durchbruch. Die frische Natürlichkeit seiner ihm durch einen schmerzlichen Kampf gewaltsam aufgedrungenen Gattin erleichterte ihm seine Fehde gegen Lüge und Verstellung. Nach dem Aufsehen, das damals die vor Königin Maria vorgefallene Szene im Augsburger Tanzhause gemacht hatte, mochte er nicht länger in Augsburg wohnen. Beschämt für seinen Bruder, dessen Streich, den er in Padua Vittoria gespielt hatte, damals zum Vorschein kam, ging er noch vor dem Vater nach Hohenschwangau, bezog, scheinbar als Verweser der Rechte des Freiherrn Haller von Hallerstein, die alte verfallene Burg und fügte sich in die Anordnungen, welche der Vater in einem wohlbedachten Familienstatut dahin niedergelegt hatte, daß Antoni und auch er auf die Rechte der Erbfolge in dem neuen Besitz verzichten sollten. Die ganze Kraft des Hauses sollte in den jüngeren Brüdern gesucht werden, entgegengesetzt den Bestimmungen der Majorate, die nur die Familienkraft in der Erstgeburt suchen. Johannes liebte seine jüngeren Brüder und nahm es mit der Erziehung für ihren künftigen Stand ernst.

Länger noch als sechs Jahre hatte Anna von Stadion durch treue Pflege das im Erlöschen begriffene Lebenslicht ihres edlen Gatten wach erhalten. Sie hatte ihn und den Verwandtenkreis durch ihre sich jederzeit gleichbleibende Natürlichkeit erheitert. Der Bau des Schwanensteins, der lange Verkehr mit den fremden Arbeitern brachte genug Ärger und Verdruß, der wieder gut zu machen war. Sie wußte jede Störung auszugleichen. Die Ausflüge, die Johannes ab und zu noch machen durfte, gingen sogar über den Brennerpaß hinaus in die milderen Täler von Bozen und Trient. Einen oder den andern Winter lebte man auch ganz in Innsbruck. Hier war es, wo sich der heranreifenden Kunigunde die Werbung eines der Söhne des Landeshauptmanns von Völs darbot, der seinerseits selbst die Würde seines Vaters überkam. Nach einigem träumerisch launenhaften Zögern, das zuletzt der Vater etwas unsanft anließ, gab sie bereitwillig ihre Hand dem hochgestellten, reichen, altadligen Halbitaliener, schon einem Ritter des Goldenen Vließes. Es war ein würdevoller, nicht mehr junger Herr. Innsbruck war damals ein sinnebetörender Aufenthalt, die allzeit bereitstehende Residenz des Kaisers und des Königs, seines Bruders, zugleich ein Hauptwaffen-, Werbe- und Musterplatz. Die Fugger, die Welser, die Hörmann zu Guttenberg hielten in Innsbruck Kontore und hatten Häuser wie zu Augsburg. Auch der kaiserliche Rat hatte anfangs noch sein Geschäft in Augsburg nicht ganz geschlossen. Die Bergwerke und Salinen in Tirol behielt er ohnehin bei.

Wenn Argula sonst zu ihrem jungen Freunde gesagt hatte: »Nach acht Tagen schon hat euch die Tochter des reichen Kaufherrn vergessen!« – so hatte sie die Erfahrung des Lebens und der Sitte für sich. Die zornige Strafrede, die ihr damals, als Gundula gewagt hatte, an Ottheinrich Stauff einen Brief, sogar mit Ratschlägen zum Widerstand, zu schreiben, der Vater gehalten hatte, machte aus dem Bilde, das sonst von dem anziehenden Jüngling in ihrem Herzen gelebt hatte, bald eine leere Stelle. Schon die glänzend gefeierte Hochzeit ihres Bruders Johannes gab Gelegenheit, ihrer Eitelkeit und Gefallsucht neue Phantasien vorzuführen. Als sie dann Ottheinrich ein Jahr nach dem Regensburger Reichstag von 154l wiedersah, war die junge Freifrau von Völs schon so an den ersten Reiz der Ehe gewöhnt, daß sie die Gundula ihrer Mädchenzeit wieder geworden schien, sich bereits nach Zerstreuungen umsah und sich in Gedanken vor dem Begriff der Untreue nicht mehr allzusehr entsetzte.

Ein Zufall war es, daß sie Ottheinrich Stauff nicht früher wiedersah als beim Begräbnis ihres Bruders. Im Herbst 1542 kam sie auf die Trauerkunde herbei. Sie schien ein Widerspruch mit sich selbst. An sich das Leben und die Sehnsucht nach Glück und Freude und jetzt kam sie in Schwarz gekleidet und mit fließenden Tränen. Sie stutzte über den Anblick des mit größter Spannung begrüßten Mannes, dem sie einst so viel Teilnahme geschenkt hatte. Welche edle, anziehende Erscheinung traf sie an –! Sie hatte sich auf der Reise von Innsbruck nach Füssen noch einmal auf die alte Zeit besinnen wollen, auf die Dinge, wie sie einst gewesen, ja auf die Torheiten, deren sich zu schämen sie von ihrem Vater und der inzwischen heimgegangenen Großmutter angeleitet worden war. Aus Briefen kannte sie die Regensburger Wiedereroberung des Stauffers, seine Stellung im Kreise der Familie, die Hoffnungen, die man auf seine Treue zu setzen berechtigt war. Sie grüßte den Günstling ihres kindlichen Herzens hocherrötend. Die Trauer, die sie aufrichtig erfüllte, erlaubte nicht, daß ihre Worte kalt erklingen konnten, freilich auch nicht, wie sie es in der Tat waren, beherrscht von der Neugier des Vergleiches von sonst und jetzt. Wesen von Gundulas Natur können nur eine Empfindung auf einmal hegen. Auf des Bruders Abscheiden war man vorbereitet. Als der Sarg in die Gruft von Waltenhofen versenkt worden war, da trat mit um so mächtigerem Reiz wieder die Erscheinung Ottheinrichs an sie heran. Unter den Leidtragenden, die sich eingefunden hatten, fesselte sie niemand wie er.

In den schon bewohnten Teilen der neuen Burg war es, wo sich der Vater, Anna von Stadion, David, Johann Georg, mancher der aus Augsburg gekommenen Verwandten, sogar einige der in Innsbruck gerade hausenden jüngeren Fugger nach der Bestattung zusammengefunden hatten. Man weihte gleichsam auf diese traurige Art die neuen Räume ein. Die Mehrzahl der Gäste hatte sich bereits entfernt. Denn das eigentliche Sterbehaus, das alte Vorderschwangau, war eng und unwohnlich und die neue Burg noch nicht zur Ausübung der geziemenden Gastfreundschaft geeignet.

Vittoria Ferrabosco und Ottheinrich Stauff gehörten zum Familienkreise, wie Sigmund Rothut, der seine alte Kriegsneigung jetzt von einigen Söhnen, die er hatte, im Türken- und afrikanischen Kriege austummeln ließ und in Schwangau Pfleger geblieben war. Antoni lebte verbannt in Venedig. Den Schwiegersohn des Hauses, den Landeshauptmann, Gundulas Gemahl, hatte Herrendienst ferngehalten.

Die Zusicherungen unveränderlicher Liebe, die Gelöbnisse der Treue und des Zusammenhaltens brachten Tränen und Umarmungen. Selbst jene beiden Fremden schienen darüber wie Blutsverwandte geworden. Anna, die Witwe, nahm die Umarmung Ottheinrichs wie die ihres Schwiegervaters und ihrer Schwäger entgegen. Nicht minder wurde Vittoria von den andern so behandelt, als sei sie in der Tat des Mannes Weib geworden, der sie einst in Padua durch eine so schnöde List getäuscht hatte. Auf alle hatte sie beglückend gewirkt. Wenn Gundula ein der Eifersucht und dem Neide zugängliches Herz besaß, so bot ihr die Italienerin durch ihr Äußeres keine Veranlassung dazu. Vittoria hatte nur noch die Schönheit der Würde und Hoheit, deren allerdings zuweilen noch bestrickende Macht sich nur im Feuer angeregter Empfindung offenbart. Auch Gundula umarmte mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit alle Anwesenden nacheinander. Auf Vittoria, das fühlte sie schon, konnte sie die ganze Sorge werfen, die eigentlich ihr Vater jetzt von ihr erwarten durfte. Da riß sie auch diese wie eine Schwester an ihr Herz.

Bei Ottheinrich hielt sie inne. Sie hatte sich auch ihm in dem Sturm des Schmerzes und der zu gebenden Versicherungen genähert. Jedermann, dessen Blicke ihr folgten, durfte annehmen, daß sie ihm zum mindesten treuherzig die Hand schütteln würde. Nein, die Trauerszene, die blasse Gestalt des Bruders, der in seinem Sarge nicht wie die lustige »Kirchweih in der Schachtel«, sondern verklärt wie ein Apostel gelegen hatte, die Tränen, die sie selbst so reichlich vergoß, alles schien bei ihr wie im Nu vergessen. Ihr Stutzen, ihr Erröten, ihr Unterbrechen der seitherigen Unbefangenheit, ihr Blinzeln mit den erst wie geblendet zufallenden, dann sich leise wieder öffnenden und gleichsam von unten heraufblickenden Augen – alles das war entweder ein Übermaß von Gefallsucht oder der Ausbruch einer Teilnahme, bei der sie kaum noch wußte, was sie tat.

Anna natürliches Urteil verstand diese Haltung der Schwägerin sofort. Trotz ihres Schmerzes konnte sie die Worte nicht unterdrücken:

»Hab ihm nur auch Dank –! Er hat's um den Johannes schon verdient–!«

Da rannte Gundula zum Zimmer hinaus.

»Was ist ihr – ?« dachten alle und einige, die sich die Frage nicht selbst beantworten konnten, sprachen sie auch aus.

Ottheinrich hörte auf nichts. Sein Auge sah nur jenen einen Blick des sich schließenden und wieder öffnenden Auges der jungen Frau. Hatte doch dieser geredet, wie alle Beredsamkeit der Erde nicht hätte reden können.

Als über die marmornen, spiegelblanken, neugeschaffenen Korridore alles zu einem Familienmahl schritt und die Halle endlich still war und nur noch ganz zuletzt hinter allen Ottheinrich allein und wie bewußtlos daherkam, öffnete sich plötzlich eine kleine gewölbte Eichentür, zeigte ihm Gundula, wie sie verlegen stand, dann sich umsah und bittend die Hände aufhob. Mit einem: »O vergebt mir für vorhin –!« riß sie ihn an sich und küßte ihn nun wie die andern.

Vom Baum der Erkenntnis fiel der Apfel von selbst. Er brauchte nicht erst abgeschmeichelt, nicht von der Schlange aufgeredet zu werden. Was ist der Mensch –? Ein Trieb im Wachstum der Natur. Die Blüte, die ihre Hülle sprengt, hat keinen Willen. Die Frucht, die in die Stunde der Reife getreten, hat ihn ebensowenig. Im Plan der Gottheit lag das verlorene, nicht das gewonnene Paradies – wenn die Schöpfung bestimmt war, Gottes Ebenbild fortzupflanzen.

»Sündigt, daß euch die Gnade werde –!« Das klang Ottheinrich aus Voglers Bericht über Luther unablässig im Ohr –

Jede Liebe, deren Flamme nur die Sinne schüren, vermag sieben Jahre zu dauern. Dann verwandelt sie sich entweder in Haß oder sie wird sich zur Freundschaft, zur geistigen Liebe verklären.

Im neunten Jahre nach dem »Fall« war es, als die Freifrau von Völs noch einmal jenen alten Zauber ihrer Person erprobte und durch ihr schmeichelnd Wort im Abenddunkel des einsamen Turmzimmers ihres Vaters die aufgeregten Geister ihres in seinem Glück so unglücklichen Freundes beruhigte.

Er hatte den Auftrag des Rates an Georg Frölich ausgerichtet und diesen doppelt bereit gefunden, sofort aufzubrechen und in Füssen zu übernachten. Vom Fackelschein waren die Straßen bis zur Lechbrücke taghell erleuchtet. Auf dem Schlosse zu Hohenschwangau hatte das Bankett begonnen. Von den schon halbtrunkenen beiden Prinzen war Don Philipp auch der Schwager Maximilians. Seine Schwester war des jungen erzherzoglichen Vetters Gattin. Beide wetteiferten um Erfolg und Beifall. Don Maximilian, der »die Sprache der Pferde«, wie die Spanier sagten, die deutsche, vollkommen sprach, strich dabei Don Philipp aus. Der künftige Tyrann des Eskurial zeigte schon jetzt unter gleißender Außenseite seine unheimliche Natur. Rings um ihn geschart saßen Spanier und Italiener; um Maximilian Deutsche, Böhmen, Ungarn. Da beugten sich fast die Tische unter der Last der köstlichen Speisen, der schweren goldenen und silbernen Schüsseln, der Becher und Kannen. Anmutig waren die Frauen verteilt an die erlauchten Herren. Don Philipp hatte Kunigunde zur Seite, Prinz Maximilian die Gattin Johann Georgs. Philippine Weiser wurde in die Obhut eines Geistlichen gegeben. Sie saß neben Fürstabt Wolfgang von Kempten, der zu gleicher Zeit das Amt eines Gubernators von Tirol bekleidete. Ein wackerer Mann hatte er im Leben öfters die Hand nach dem Schwert als nach einem geweihten Reich ausgestreckt. Jakobina Jung saß scheu und träumerisch-abwesend und fast fieberisch-fröstelnd bei dem geheimen Verlobten ihrer Freundin, dem nicht minder zerstreuten, nur an Philippine denkenden jüngeren Bruder Don Maximilians.

Was hatte sich einst aus jenem kurzen verstohlenen Moment nach Johannes' Bestattung entwickelt –! Es war gegangen, wie mit der Trauer selbst. Auf die schwarze Kleidung war bald eine graue gefolgt, noch schneller eine violette, dann die blaue, dann wieder die rote. Die erste Rose, die sich schon am Tage nach dem Begräbnistage auf die schwarzen Trauergewänder Kunigundes aus dem Ziergarten des Schwanenstein wagte, mitten auf ihre in wonnigen Gefühlen klopfende Brust – es war des Herbstes letzte – sie wurde das Symbol einer Zeit, die den Namen einer paradiesischen verdient hätte, wäre sie ohne Reue gewesen.

Die Mahnungen der Reue – das sind zuletzt die Furien. Die Furien verbotenen Liebesglücks sind an sich schon Mißtrauen und Eifersucht. Auch hier wuchsen sie bis zu Ungetümen, die in Verzweiflung und fast in den Tod hetzten. Dies Elend währte jedoch nur eine Weile. Als der Verdacht, der in Ottheinrichs Seele schlich, noch klein war, da konnte er ihn schon nach Innsbruck jagen, ja bis an den üppigen Hof des zum Kardinal erhobenen Bischofs von Trient, nur um sich zu überzeugen, an wessen Arm er dort das schöne Weib wieder antreffen, um dessentwillen er sich der Hölle ergeben hätte und in der Tat jahrelang kein Bedürfnis nach den Segnungen der Kirche in sich aufkommen ließ. Und als es sich mit der Zeit ergab, daß die verbotene Liebe an das Herz des geduldeten und nur empfangenden Teils Zumutungen stellte, die eine unerschöpfliche Fülle von Glauben und vertrauen voraussetzten, da kam ihm allmählich wieder die Kraft der angeborenen Tugend und sein männlicher Stolz zu Hilfe. Bald schon liebte er an Gundula nichts mehr als ihre bestrickende Gegenwart, ihren Freimut, der bei mancher Störung des Familienfriedens den beruhigenden Ausschlag gab, ihre kluge Auskunft, die sie für jede schwierige Lage zu geben wußte, den Übermut, den sie in eigentümlicher Weise mit behutsamer Vorsicht zu verbinden wußte. Nicht einmal mit ihrem Gatten stand sie etwa in einem Bruch, obschon sie ihn nicht liebte und ihn nur auf Wunsch ihres Vaters genommen hatte.

Die feierliche Begleitung der Prinzen bis zur Ehrenberger Klause, wo die Behörden Tirols, von Trient der Kardinal Madruzzi, von Brixen der vornehmste dortige Domherr, ein ungeweihter, von kurzem noch verheiratet gewesener Priester, Christoph Fuchs von Fuchsberg, sie empfingen, machte Gundula mit; die Prinzen wünschten am wenigsten die holde muntere Frau zu entbehren. Nach jener kurzen Begrüßung im Turmzimmer des Vaters hatte sich kein Moment wieder finden wollen, wo die Bankettfreuden, dann eine Fahrt mit Fackelschein auf dem See, ein während derselben auf dem Schloß abgebranntes Feuerwerk, Gelegenheit boten, dem Freunde auch nur im Vorüberhuschen noch einmal die Hand zu drücken. Nur am Morgen, als alles (zunächst wieder auf Füssen zu) aufbrach, da hatte sie, von Rittern und Kavalieren umringt und im Begriff, eben an ihr Roß zu schreiten, ihm nur noch rasch die Worte flüstern können:

»Lebt für heute nun wohl! Auf baldig Wiedersehen –! Tut aber alles, was euch Vittoria in meinem Auftrag sagen wird –! Und sorgt auch, daß Jakobina sicher wieder zum Kardinal gelangt –!«

Auch der Rat und die Söhne ritten bis zur Ehrenberger Klause mit. Sie hatten ihren Verwalter seit der gestrigen Szene nicht wieder mit Augen angesehen, geschweige mit ihm reden mögen. Wie soll das werden, dachte Ottheinrich, wir werden uns ja alle niemals wiederfinden–! Daß es so kommen mußte, stand ihm fest. Nur fehlte noch die klare Vorstellung, in welcher Form es geschehen sollte und um welchen nächsten Anlaß. Ein heiliges Zittern befiel ihn, wenn er der Worte Georg Frölichs gedachte, als vom Landgrafen von Hessen gesprochen wurde: »O daß sich ein Engel in Menschengestalt verkleiden wollte, ihn zu befreien –!«

»Nun tummelt euch nur!« sprach endlich Vittoria zu Ottheinrich, als es im Schlosse still geworden war und es ringsum wüst genug aussah. »Es wird euch wohler tun, diese zerrissenen Kränze, diese zertretenen Schleifen und beschmutzten Teppiche nicht länger zu betrachten, bis alles wieder in Ordnung ist. Ein Wäglein steht schon bereit. Baltzer Trotz und zwei Knechte geben uns das Geleit. Ich setze mich mit in den Wagen bis zur Lechbrücke und kehre dann zu Fuß wieder heim. Die frische Luft und das Gespräch mit euch sollen mir wohltun –!«

Ottheinrich erfuhr, daß die von Kunigunde zurückgelassene Form, wie der Vater, nach dem gestern Vorgefallenen am besten zu beschwichtigen sein sollte, im Einverständnis mit den Brüdern, die dem Freunde nur scheinbar zürnten, darin bestand, daß der schwere Beleidiger der Ehre des Hauses auf einige Zeit verreisen und eines der vielen Geschäfte persönlich ausrichten sollte, woran in dem Betrieb des so umfassenden Haushaltes nie Mangel war. Zu den mancherlei Spekulationen, in die sich seine Prinzipale immer noch einließen, hatte auch der Ankauf einer Münzgerechtigkeit in der Residenz des Fürstabts von Kempten gehört. Zurzeit hatte es dem kaiserlichen Rat noch nicht gelingen wollen, wie die Fugger, vom Kaiser selbst ein Münzregal zu erhalten. Auf Hohenschwangau haftete kein solches. Aber einstweilen kaufte er der Stadt Kempten ihr Münzregal ab und beschloß, dort, an einer altberühmten Münzstätte, Geld schlagen zu lassen. Das Kemptener Münzgebäude wurde zu dem Ende von den Paumgartnern käuflich erworben. Die Werkstatt sollte großartig eingerichtet und Arbeitern übergeben werden, für welche Augsburgs berühmter Münzmeister, Kaspar Seeler, Gewähr leisten wollte.

Ihn sollte Ottheinrich in Kempten begrüßen, die Münzeinrichtung mit ihm des Genaueren verabreden und sich hierauf nach Augsburg begeben, wo es in dem dortigen Wohnhause der Familie, das ihr noch immer in der Sankt-Annengasse gehörte, ebenfalls an Aufgaben keinen Mangel hatte. Dort sollte er, so lautete die Bitte der Brüder und Kunigundes, so lange verweilen, bis sich der Vater beruhigt hätte. Auf jeden Fall möchte er vermeiden, im Schloß zu sein, wenn Vater und Söhne vom Ausritt nach der Ehrenberger Klause zurückkämen. Der Vater könnte wohl schon am selben Abend wieder heim sein.

Wenn jetzt Ottheinrich diese Reise nach Kempten in einem einzigen Tage zurücklegen wollte, so war es geraten, daß er sofort die Reiter ihre Rosse satteln ließ und aufbrach. Es war ihm aufgefallen, daß man ihm, der doch sonst nicht für verweichlicht gelten konnte, zugemutet hatte, sich eines Wagens zu bedienen. Es war geschehen in der Voraussetzung, daß sich ihm Jakobina Jung anschloß. Dann scherzte Vittoria und sagte, daß sie eigentlich auch nach Kempten hätte mit wollen und zwar um deshalb, weil sie auf diese Art Kaufbeuren wiederzusehen bekommen hätte, wo sie sich durch die Begrüßung ihrer Landsmännin, deren Namen Olympia Fulvia Morata sie von Georg Frölich erfahren hatte, aufrichten und von Italien erzählen lassen wollte. Inzwischen hätte sie ihren Plan wieder ändern müssen aus Mitleid um den alten Rat, der sie mit so großer Güte seine Tochter zu nennen pflegte und dessen körperlicher Zustand sie ja alle je länger je mehr betrüben und ängstigen durfte. »Findet er mich am Abend nicht,« sagte sie, »so fällt ihm der Kummer über eure gestrigen Worte noch mehr aufs Herz. Und im Herzen ist er doch gerade ebenso krank, wie an seinem Körper, wenn nicht da noch mehr –!«

Ottheinrich ließ sich durch diese Äußerung, deren Wahrheit er nicht leugnen konnte (seine Kinder machten dem Rat Kummer) nicht rühren. In dem Vorschlag, einen Wagen zu nehmen, sah er allmählich einen Wink des Geschicks, der ihm sagen wollte: »Nimm deine beste Habe mit – deine Bücher und deine Kleider! Wer weiß, ob du Hohenschwangau jemals wiedersiehst –!«

Vittoria staunte nicht wenig über die Menge von Gepäck, die ihr Freund auf den unförmlichen Karren aufladen ließ. Als sie dann neben ihm saß und die drei Begleiter, ermüdet von dem gestrigen Festtag, der sie alle bis tief in die Nacht in Anspruch genommen hatte, etwas lässig auf ihren Gäulen zurückblieben, brach sie in Tränen aus, drückte die Hand ihres stumm und ernst neben ihr sitzenden Begleiters und sprach auf italienisch:

»Ich beschwöre euch aber! Sinnet und grübelt nur nichts Feindseliges gegen Menschen, die euch alle so lieben und verehren –! Was sollte schon allein aus mir werden, wenn ich euch nicht mehr zur Seite hätte, euch, der mich auf dem so rauhen und schwindelnden Wege, den ich hier wandeln muß, wie über die Felsen hinweg geführt hat! Verlasset ihr uns, dann kann ich nur enden, wie dort oben jene Frau, die einst ein dunkler Schicksalsspruch, ein Fluch unheimlicher Mächte, in eine so nahe Verbindung mit mir brachte! – Das straft sich selten an derselben Stelle, wo wir gesündigt. Die unergründliche Weisheit des Himmels läßt uns scheinbar die Folgen unserer Fehler und Verbrechen zu fröhlichem Gewinn gedeihen, während der vernichtende Wetterstrahl des Geschicks in die Saat unserer Tugenden fällt –! O, ich glaube sogar, daß wir die Schuld anderer mit zu büßen haben, während diese völlig leer, unbelastet und von aller Strafe frei ausgehen –!« Diese düstere Anschauung stand mit der damals so vielfach die Geister aufregenden Frage über die Berufenen und Auserwählten in nächster Verbindung. Ottheinrich konnte Zustimmungen oder Ablehnungen auf diese, aus tiefschmerzlicher Stimmung hervorgegangene Klage nicht schuldig bleiben. Er nannte sich selbst einen Mitträger jenes unheimlichen Fluches. Die Andenken, die Vittoria zur Entsühnung hatte verwenden sollen, waren ja teilweise an ihn übergegangen, und von Moritz Hausner hatte er vernommen, daß er unangefochten in Grumbachs Diensten verharrte und sogar mit dem vom Kaiser damals aufs höchste geehrten Ritter 1547 auf dem Reichstag zu Augsburg gewesen war, er, der den Klinkerturm angezündet hatte –!

Ottheinrich schied von Vittoria in Füssen mit der Vertröstung, daß seine Reise nur den Zweck hätte, wie sie ja selbst wünschte, für einige Zeit dem Zorn des Rates aus dem Wege zu gehen.

Dennoch weinte Vittoria und sagte, sie sähe das Ende seines Verhältnisses zum Rat voraus. Wie lange würde er noch leben! Dann würde auch ihre Aufgabe, die sie bis dahin an diese Gegend gefesselt hätte, erfüllt sein. Man hätte sie aufgenommen und behandelt wie eine Schwester, wenigstens, wie ja Ottheinrich selbst gesehen, in früherer Zeit. Kunigunde und Anna hätten ihr Liebes erwiesen und sie fast wie des unseligen Antoni wirkliches Weib behandelt. Aber die jungen Frauen Davids und Johann Georgs waren herrschsüchtig, hoffärtig –! Sie ließen sie, also wehklagte sie, schon oft empfinden, daß sie auf Hohenschwangau nur wie ein zugeflogener Vogel hauste, dessen Schwingen nicht mehr ausgereicht hätten, ihn dorthin zu tragen, wo seine Heimat wäre. »Sie mißgönnen mir das Futter,« fuhr sie fort, »das sie mir reichen müssen! Ihr Kopf ist nur von Hochmut erfüllt –! Kaiser und Könige sind allein ihr Begehr –! In mir sehen sie nichts als eines armen Steinmetzen Tochter, der sie aus Gnade einen Unterschlupf für ihr Alter gegeben haben, sie sollen aber wahrlich meine Runzeln nicht alle zu zählen bekommen –! Und auch ich werde nicht die ihrigen alle zählen. Die Stunde schlägt bald, wo ich über die Berge nach Padua zurückkehre und mir bei meinen Freunden und Angehörigen die Ruhe gewinne, die ich in diesem Leben noch nicht finden konnte.«

Die Unduldsamkeit dieser jungen Frauen und die Herrschaft, die sie über ihre Männer ausübten, bezeugte auch die Art, wie sie sich sogar zu ihrer Schwägerin Kunigunde von Völs verhielten. Es konnte nicht bestritten werden, daß die schöne Jakobina Jung, die auch gestern wieder beide kaiserliche Prinzen gefesselt hatte, die Künste der Gefallsucht im Übermaß getrieben und seit ihrem Verkehr mit Moritz von Sachsen und Albrecht von Brandenburg die übelste Nachrede gefunden hatte. Aber die Schwiegertöchter des Rates griffen sogar Philippine Welser an und machten auch diese zum Stichblatt ihrer Schmähsucht. Man hatte letztere absichtlich bei Tisch an die Seite des Abts von Kempten gesetzt. Sie sollte dem Geistlichen einen guten Eindruck machen und Gundula tat alles, um ihre Freundinnen in liebenswürdigstem Licht erscheinen zu lassen. Den Schwägerinnen freilich alles nur zum höchsten Ärgernis.

Füssen glich einem Feldlager. Das Geschrei der Maultiere, auf denen die Habseligkeiten der Prinzen nachgeführt wurden, das Gewieher der Rosse war ohrenzerreißend. Spanier, Italiener, Mohren sogar liefen durcheinander.

Wenn auch anfangs die italienischen Laute, die an Vittorias Ohr drangen, sie fesselten und sie in Gespräche mit Landsleuten verwickelten, so wurde doch der Lärm der Soldaten, Troßknechte, Mönche und der frechen Weiber, die in der Regel zu einem solchen Gefolge gehörten, zuletzt so wüst, daß sie ihren scheidenden Freund an einen Laden in der Reichenstraße zog, wo ein altehrwürdiger Zweig Füssener Erwerbstätigkeit, die Verfertigung musikalischer Instrumente, ausgestellt war. Seit den ältesten Zeiten baut man in Füssen Geigen, Violen, Lauten, Zithern. Ottheinrich hatte in Winterabendstunden von Vittoria Anleitung erhalten, die fünfsaitige, mit einem Plektrum zu schlagende Mandoline zu spielen. Sie selbst berührte seit Johannes Tode nur noch in seltenen Fällen, meist nur auf Bitten anderer das ihr so geläufige Instrument, zu dem sie mit leiser, hauchend nur andeutender Stimme ihre Lieder sang.

»Lasset uns mit Wohllaut scheiden,« sprach sie, als sie eine Mandoline geprüft und gekauft hatte, indem sie ihn mit Tränen im Auge betrachtete und wieder ihre Ahnung von einem Nimmerwiedersehen zu erkennen gab. »Nehmt dies Andenken! Übt euch oft darauf! Sehet, es ist gebaut ordentlich wie ein Nachen! Ja, ja, möget ihr eine Fahrt durchs Leben haben, wie Arion auf dem Delphin –! Die bezauberten Geister des Meeres umgeben euch mit entzücktem Ohr und wehren zum Dank den tückischen Winden und Wellen, daß sie nicht eure Heimkehr stören – ach, in welchem Hafen des Friedens und des verdienten Glückes wohl –! Und wenn ihr diese edle Dame, meine Landsmännin Olympia Fulvia Morata, in unserm alten Kaufbeuren sehet –« so suchte sie zu scherzen – »so vergeßt mich nicht ganz um ihretwillen –! Ich habe schon gehört, daß sie eine Dichterin ist und mit Homer wetteifert. Redet ihr Gutes von mir –! Vielleicht, daß sie euch Briefe gibt zu meiner Empfehlung in die Heimat, an die Herzogin von Este oder die Töchter dieser Fürstin. Ich besorge, daß mich unsere süße Mutter Italia nur wie ein ungetreues verirrtes Rind wieder aufnimmt–!«

»Wo ihr auch erscheint, da werden sich euch alle Herzen und Arme auftun!« entgegnete Ottheinrich und betrachtete voll Dankbarkeit das überraschende Geschenk. Er versprach, ganz wie Vittoria gewünscht, mit seines Schülers jungem Weibe von ihrer Landsmännin zu sprechen.

Nachdem noch Ottheinrichs Reisebegleiter Sorge getragen hatten, daß Vittoria nach Hohenschwangau unter zuverlässigem Schutz zurückkehren und über die wilde Bewegung auf der Landstraße, die sich glücklicherweise rechtsab nach den Pässen Tirols zu wälzte, ohne Sorge zu sein brauchte, trennte er sich von ihr mit jener scheinbaren Heiterkeit und Zusicherung frohster Hoffnungen und Erwartungen, die in solchen Fällen nur der Deckmantel eines bis in die innerste Seele begründeten Schmerzes ist. In ihm rief es unaufhörlich: Kaufe dich in den Frieden mit Gott wieder zurück durch eine heldenmütige Tat und brächte sie dir auch für diese Erde den bittersten Tod – !«


 << zurück weiter >>