Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

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XVI.

Cyriax Mäusle war zeitiger zurück, als man erwartete.

Er kam in stattlicher Gesellschaft. Regina, Anna von Stadion, Ritter Burkard von Kaltenthal und eine Anzahl Reisige waren Johannes und ihm auf dem halben Wege nach Füssen begegnet, sofort kehrten beide mit ihnen um. sie mußten sich eilen auf Kaufbeuren zu kommen, wo von Kempten her der Bischof erwartet wurde. Als sie in Kaufbeuren eintrafen, harrte dieser schon mit stattlichem Gefolge auf seine Nichte. Nach einem Nachtlager, das teils in der Schwäbischen Sturmfahne, teils in dem nonnenleer gewordenen Kloster Meyerhof gehalten wurde, ging es am Morgen mit Eile weiter. Gegen Abend traf der ganze, von zahlreichen Bewaffneten geleitete Troß, Johannes ausgenommen, in der bischöflichen Pfalz ein.

Johannes hatte in Buchloe behauptet, Geschäfte zu haben, und blieb dort zurück, um einen Abstecher nach dem nahe gelegenen Türkheim zu machen, einem Hauptort der bayerischen Grafschaft Schwabeck, die fünfundzwanzig Jahre lang der Stadt Augsburg und seinem eigenen elterlichen Hause, schon von seinem Großvater her, verpfändet gewesen. Jetzt gehörte seinem Vater noch das Dorf »Weiler Berg«. Allerdings gab es da manche Streitigkeit mit dem bayerischen Pfleger der Grafschaft, Herrn Wolf Dietrich von Knöringen, der auf Friedberg hauste. Johannes hatte den Bischof gebeten, ihn bei Königin Maria entschuldigt zu halten. Für die ihm widerfahrene Ehre würde er kaum anders, als schriftlich, danken können.

Im Laufe des Tages kam die Schwangauer Herrschaft an. Der Rat brachte die Nachricht schon aus dem Fuggerhause mit. Als der Rat von der Mutter Reginas Ankunft erfahren hatte, lag es in seiner Art, daß er, trotz des Ärgers, den ihm diese Nachricht verursachte, Befehl gab, am folgenden Tag ein festliches Mittagsmahl abzuhalten und nach allen Seiten hin Einladungen ergehen zu lassen. Da mochten denn die, so von Regina Honolds Eintreffen in Augsburg wie von einer Flucht sprechen wollten, im Gegenteil sehen, wie »die frohe Ankunft« der Schwiegertochter des Rats gefeiert wurde. Zunächst galt das Mahl als eine fortgesetzte Huldigung für die Begleiter der Königin. Da das Ausbleiben seines ältesten Sohnes den Rat genug verstimmte, hütete sich die Matrone wohl, ihm noch das Lächeln zu erklären, womit sie den Bescheid ihres Sohnes aufnahm, daß man zu den ersten Buchhaltern des Geschäfts, die selbstverständlich geladen waren, Dankes halber auch Ottheinrich Stauff zu Tisch entbieten könnte.

An diesen letzteren hatte Cyriax im Auftrage Reginas sofort deren glückliche Ankunft vermelden sollen.

Er suchte ihn auf. Da die Kontorstunden bereits vorüber waren, ging er »hinter den Barfüßern«. Hier, »bei den Lappendieben«, hieß es, der Stauffer wäre noch den ganzen Tag seit seinem Morgenausgang nicht wieder heimgekommen. Hierüber erstaunte Cyriax weit weniger, als über die Beobachtung, daß bei den sonst so fröhlichen Haysermannschen alle Tränenschleusen geöffnet schienen. »Ja, man meint ja, hier sei der rote Wasserturm mit seinen einundsiebzig Röhrlein leck geworden –!« sagte er. Als es dann hieß, Martina wäre entschlossen auf Reisen zu gehen – und wohin erst –! rief er: »Ich werde ohnkräftig!« und mußte sich gegen die »Allmacht«, die ihn befiel, einen Stuhl erbitten. Hofstaatszofe einer Königin! Wäsch- und Bettmeisterin am Hofe zu Brüssel! Bei alledem entging ihm die kleinlaute Aufnahme nicht, welche im Bereich der gesamten Werkstatt mit ersichtlicher Deutlichkeit diese durch die Verbindung mit dem Katharinenkloster ihm bald verständliche hohe Ehre gefunden hatte. Sie entlockte auch ihm mit der Zeit, nachdem er sich orientiert hatte, ein elegisches und vieldeutig betontes: »O je!« – eine Ausrufung, die mit dem noch nicht nach Hause gekommenen Ottheinrich in Verbindung zu bringen jedem freistand. Zum Glück konnte Cyriax seine Verlegenheit, die sich sonst »bei derlei Kalenderbescherungen« hinter Scherzen zu verbergen verstand, hier hinter eine plötzlich vor Jungfrau Martina Schenckin nie noch so verspürten »Ehrfurcht« verbergen, »wie die Katze vom Taubenschlag« machte er sich davon und atmete erst wieder auf, als er an die Zugluft der Lechgräben kam, wo ihm – diesmal in ganz willkommener Weise – der nasse Staub der Mühlräder sein heißes Angesicht »ein wenig erfrischte«.

Hierauf begab er sich zu den Italienern, deren Herberge er schon in der Annengasse in Erfahrung gebracht hatte und sprach bei ihnen noch kräftigeren Erfrischungen zu, deren er benötigt zu sein erklärte. Mehrere der heimgekehrten Jagdgenossen unteren Ranges hatten sich in der Trinkstube mit dem geringeren Teil der welschen Kunstfahrer zu schaffen gemacht; die vornehmeren waren oben auf Vittorias Zimmer, von wo herab kräftiger Gesang zur Laute erscholl. Es hieß, Oswald von Eck wäre der Spielmann. Unter solche Herren zu treten, »entwegte« sich Cyriax nicht, so sehr man ihm als dem Diener des jungen, so sehnlichst erwarteten Gönners von Kaufbeuren auch entgegenkam. »Ei, ei, der spröde Begeyne!« sagte er und dachte sich nun auch von Vittoria »sein Teil«.

Mit Hilfe seines »notdürftig fürs Kontor ausreichenden Talliänisch« und durch den Beistand einiger in der welschen Sprache beschlageneren Wirtshausgäste kam es heraus, daß sich sein von allen geschätzter Freund Ottheinrich Stauff hier noch vor einer Stunde in der nämlichen Zechstube befunden hatte, anfangs, wie es geschienen, in Mißmut und gar betrübt über Dinge, welche sich Cyriax nach dem hinter den Barfüßern Vernommenen »verdollmetschen« konnte, dann aber – so erzählte man –wäre sein Freund aufgesprungen in lebhaftester Erregung und wie von der Tarantel gestochen davongerannt. Letzteres war um eine Nachricht geschehen, die allerdings auch Cyriax erfreuen durfte. Die von der Jagd Heimkehrenden hatten berichtet, daß man heute beinahe im dichtesten Walde ein Kind erschossen hätte, das sich beim Durchbruch der Meute mit eichkatzartiger Geschwindigkeit auf einen Baum geflüchtet hätte. Nur die Drohung, man würde den auffallend und höchst seltsam gekleideten Waldbewohner vom Baum herunterschießen, hätte diesen aus den Wipfeln herabgebracht. Unter den inzwischen hinzugekommenen übrigen Genossen der Jagd hätten sich einige gefunden, die bereits von dem Knaben wußten. Es war der entlaufene Moritz, sein unter den zerrissenen Tüchern Vittorias zum Vorschein gekommenes Klosterkleid gab Veranlassung, ihn mit Strenge zu behandeln. Man hatte ihn am roten Tor der Wache übergeben, die ihn mit den Köhlern, die auf ein Trinkgeld rechnen durften, in die Sankt-Annengasse begleitete, von dort sollte er soeben zum Vogt »und in die Eisen« gebracht worden sein.

Auch Cyriax eilte nun zum Eisenmeister. Dort war Ottheinrich, der vergeblich gesucht hatte, den Knaben zu sprechen, eben gewesen. Der Einlaß zu dem Gefangenen wurde Cyriax ebenso wenig gewährt wie jenem. Die Hoffnung, Ottheinrich heute noch aufzufinden, mußte er nun wohl aufgeben. Es war ihm somit versagt, eine Seele zu finden, in welche er seine eindrucksreichen jüngsten Erlebnisse ausschütten und eine ihm durch Apollonias wiedersehen geweckte, die Wechselfälle des Leben in ernste Erwägung ziehende Stimmung versenken konnte. »Das Appele« hatte in seiner Begleitung in Kaufbeuren ihre Verwandtschaft besucht und ihn bei dieser Gelegenheit in ihre Ersparnisse Blicke tun lassen, welche die ernsten Betrachtungen, die ihn einmal schon bei einer mit ihr vor Jahren gepflogenen Nachtzwiesprache am Klinkertor auf der Blauen Kappe wie frische Luft aus Osten angeweht hatten, neu anregten und Entschlüsse zeitigten, so der Brust eines über die Dreißig hinausgerückten Junggesellen eine mächtige Spannkraft verleihen können.

Auch auf der Bischofspfalz hatten sich inzwischen die schon von Kindesbeinen an durch langjährige Freundschaft eng verbundenen Frauen in ihrem Kreise zurechtgefunden. Eines Bischofs Wohnung ist ein Kloster und schließt an sich die Aufnahme von Frauen aus. Die Führung des Haushalts und die Verwandtschaftsliebe gestatten jedoch Ausnahmen. Die Nichte des Bischofs sorgte für des Oheims Bequemlichkeit und Regina wieder war ein geduldeter Gast der Geduldeten. Der unglückliche Venediger Flüchtling mochte weder schon beim Vater noch beim Schwiegervater Einlaß begehren. Aus den Erklärungen des Schwagers Johannes war Regina des Empfangs, der ihrer beim letzteren harrte, mit Zittern und Zagen inne geworden.

Anna von Stadion konnte keinen Anspruch auf Schönheit machen. Sie gehörte zu den weiblichen Erscheinungen, bei denen man die Äußerlichkeit überhaupt vergißt. Die immer gleiche Lebendigkeit ihres Geistes, ihr munterer Witz, ihre gesunde Lebensauffassung umgaben sie mit einer Anmut, die in den Formen, womit die Natur sie ausgestattet hatte, zunächst nicht lag. Sie war mittelgroß, behend und leicht gebaut. In der Regel waren ihre Wangen gerötet, wie Äpfel im Herbst. Geriet sie in Aufregung, so wurden ihre Wangen weiß. In dieser seltsamen Verfärbung hatte sie vor acht Tagen die Stadt verlassen, mit denselben weißen Rosen ritt sie in Augsburg wieder ein.

Der Bischof wußte, daß sich Regina Paumgartner vom Glauben ihres Vaters getrennt hatte. Nach dem Geist seiner Güte und Milde ermahnte er sie, sich mit dem Vater zu versöhnen. Aber ebenso unterstützte er auch die Auffassung ihres ihm innig befreundeten Schwiegervaters. Auch er riet ihr die Wiederanknüpfung ihres Ehebundes an. Anna, seine Nichte, tat es ohnehin. Bei ihr entschied der Glaube, es könnte eben nichts, was den Namen Paumgartner trüge, der Liebe unwert sein.

»Ehrgefühl,« hatte der Bischof schon in Kaufbeuren zu Regina gesagt, »ist bei den Paumgartnern die erste ihrer Leidenschaften! Vor zwei so großen Städten wie Augsburg und Venedig sich beschämt zu sehen, wird auch bei Antoni gute Früchte tragen.«

Regina dachte an ein Wort des jungen Mannes, der ihr so viel Treue und Güte auf der Reise bewiesen hatte: »Was für uns vor Gott zeugen soll, muß aus dem Glauben, aus der Liebe und der Furcht Gottes geboren sein!« Nun war sie in Augsburg –! wie oft hatte sie dem jungen Begleiter ihre Sehnsucht, dort zu sein, ausgesprochen –! Jetzt, wo ihr einfiel, wie sie oft nachts in Venedig beim Läuten der Kirchenglocken schlaflos zu sich gesagt hatte: Lägst du wenigstens in Augsburg und könntest unterscheiden: Das ist die Glocke vom Sankt-Ulrich, das die vom Dom –! jetzt dachte sie dennoch: wenn sie lieber alle schwiegen –!

Vom alten Paumgartnerschen Diener Hans Schneehuhn, der mit dem Auftrag kam, die Schwiegertochter des Hauses zu begrüßen, erfolgte eine Einladung zum Mittagsmahl beim Rat, die zugleich an den Bischof erging, an Anna, an die Schwangauer und mehrere Domherren. Regina ersah das gewaltsame Aussöhnenwollen, das Verbinden feindlicher Herzen bei köstlichen Gelagen, das Anstoßen überschäumender Pokale auf Gesundheiten, die im Begriff waren zu versiegen. Ihrerseits zögerte sie zuzusagen. Doch es erschien der Bischof und verlangte, daß sie zuvor ihren Vater, dann den Schwiegervater besuchte und die Einladung zum Mahl annahm.

Regina versprach zu gehorchen.

Als sie dem Bischof, seinen Akoluthen und Meßnern mit Anna in den Dom zu folgen im Begriff war, kam mit einem förmlichen Aufzug noch Cyriax Mäusle daher. Vier Träger brachten unter seiner Obhut zwei mächtige Körbe voll Wäsche für die Schwiegertochter, eine Aufmerksamkeit seitens der Großmutter. Frau Felicitas wollte ihre Enkelin mit den Bequemlichkeiten versehen, die sie wohl noch nicht mitgebracht hatte.

Noch immer hatte Cyriax die Meldung an Ottheinrich Stauff nicht ausrichten können. Schon am frühen Morgen hatte man den Berichterstatter in die Annengasse berufen. Auch er war zu dem köstlichen Mahl entboten worden, als Mitaufseher der Bedienung. Handlungsprinzipalen dienten ihre Kontorkräfte damals in manchen Dingen noch wie Leibeigene.

Deutlich ersah man, daß allen diesen Anordnungen ein gemessener Befehl Hans Paumgartners zu Grunde lag, wie das Erscheinen seiner Schwiegertochter in Augsburg wenigstens von seiten der Familie aufgefaßt sein sollte.

Wie im herbstlichen Walde der Ton eines einzigen Vogels, der versäumt hat, sich dem Wanderzug seiner Genossen anzuschließen, ebenso einsam, trauernd und verlassen erscholl der Gesang der wenigen Chorknaben, die noch in Augsburg zur Verwendung bei der Messe aufgetrieben werden konnten, in dem mächtigen Raume, der sich eine Chronik der Jahrhunderte nennen durfte – denn von der Römer Zeiten an, wo hier auf dieser Stätte eine Basilika gestanden hatte und von Marmorstühlen, die noch vorhanden sind, Prokonsuln Recht sprachen, bis auf alle folgenden Zeiten finden sich in den Steinmassen und den mächtigen Wölbungen des Augsburger Doms die Spuren seines allmählichen Entstehens, Anwachsens, Umbauens, Verfallens und wieder neuen Erblühens.

Wehmutsvoll schritt Regina über den geräumigen Domplatz. Die uralten ehernen Bilder an der südlichen Pforte der Kathedrale erschienen ihr heute geheimnisvoller denn je. Sollte sie nicht in diesen Bildern die menschlichen Leidenschaften wiederfinden, die im Heidentum vergebens ihre Zähmung gesucht hatten, bis die Zähmung durch das Christentum kam? Aber auch von diesem nur mit Anknüpfungen an die Ahnungen der Erlösung, die sich schon im Heidentum vorfanden –? Das Heidnische in diesen alten Bildern sieht christlich, das Christliche heidnisch aus.

Die Frauen traten in den Dom, wo Regina so oft gekniet, so oft in kindlicher Zerstreuung an den uralten bunten Fenstern die Geschichten, die sie darstellten, herauszulesen versucht hatte. Sie begrüßte die alten Kapellen, wo noch hier und dort dieselben Lichtlein brannten, von denen sie annehmen konnte, es seien die, die in ihrer Jugend die dunkeln Heiligenbilder, die gebräunten, ja sogar schwarz wie Negerinnen gemalten Madonnen so treu bewacht hatten.

Im Rundwege um den großen, von den Domherren besetzten Chor war die Zahl der Beter gering.

Vor einer der Kapellen, wo Regina eine Madonna wiedersah, die in ihren Mädchentagen sie oft getröstet hatte, beugte sie sich.

Als sie gebetet, aber im Grunde nur in einer Reihe von Bildern die Schrecken der erzwungenen Wiedervereinigung mit dem verhaßten Gemahl an sich hatte vorübergehen lassen, erhob sie sich.

Sie war allein. Bereits waren Anna und Apollonia vorausgegangen. Sie schienen die Stufen, die nach innen in den Kreis des Hochaltars führten, betreten zu haben. Langsam folgte sie ihnen.

Als nun auch sie aus dem Rundkreis der Kapellen, die sich um den Hochaltar ziehen, abbiegen wollte, trat ihr Anna in einer seit ihrem Wiedersehen an der Freundin nicht bemerkten Erregung entgegen. Ihre Augen zeigten keine Tränen, doch schienen diese zum Hervorbrechen nahe zu sein.

»Du sahst ihn nicht?« fragte Anna mit beinahe tonloser Stimme.

»Wen?« entgegnete Regina.

Wen anders als Johannes? Aber auch das nur zu sagen, war für Anna schon zu viel. Sie schwieg. Wie gebannt stand sie und biß sich auf die Unterlippe, um Kraft und Fassung zu behalten.

Regina erkannte es wohl. Ihr Schwager Johannes, der junge Rat, war gemeint.

»So ist er zurück?« fragte sie.

Als Anna noch immer schwieg, blickte Regina in der Kirche sich um und forschte, was wohl außerdem noch die Freundin so erregen konnte. Da fiel ihr an den Stufen, die zum Hochaltar führten – der Bischof war im Zelebrieren der Messe begriffen – eine in schwarz gekleidete schöne Frauengestalt auf, hinter der ein junger Mann kniete, den sie als ihren Schwager aus seinen langen Haaren erkennen mochte. Um beide geschart kniete eine Anzahl fremdartig gekleideter Männer. Sie erinnerte sich, daß in Kaufbeuren und auf der Rückreise öfters über Italiener gesprochen wurde, die Ottheinrich und Johannes in den Weg gekommen sein sollten. Und auch dessen entsann sie sich, daß der Name Vittoria Ferrabosco, anfangs mit Scherzen, zuletzt doch zum Verdruß der in ihrer Liebe so wenig glücklichen Freundin genannt worden war.

Noch immer mit beinahe tonloser Stimme sprach sich Anna dahin aus, daß die Verschleierte, hinter deren Rücken sie Johannes Paumgartner knien sahen, sicher die Italienerin wäre.

Als sich die Messe ihren jetzt dem Zeitgeist so verfänglich gewordenen Höhepunkten, den Mysterien der Verwandlung, genähert hatte, erhob sich Johannes und entfernte sich.

Die Italienerin, falls es diese war und ohne Zweifel dann von ihren Landsleuten umgeben, hörte die Messe bis zu Ende.

Auch Regina, Anna und Apollonia blieben noch in einiger Entfernung auf den Knien.

Hierauf ging die schlank gewachsene Fremde an ihnen vorüber. Tief war sie verhüllt. Ihre Kleider glänzten in einem schwarzen, faltenwerfenden Stoff. Auf ihrem rotblonden Haar lag ein schwarzer Schleier. Schon in Kaufbeuren war Anna bekannt geworden, daß Vittorias Haar jene bei Italienerinnen sonst seltene Farbe trug. Die Fremde warf ihren Schleier zurück. Die Fülle von Licht, die von den hochgelegenen bunten Fenstern fiel, bestrahlte ihre Züge, die sich in diesem Augenblick von der vorteilhaftesten Seite zeigten. Der magische Lichteffekt der Kirche und die innere Erregung, letztere vielleicht nicht durch den Gottesdienst allein, gaben ihr etwas Bezauberndes.

Eine Anzahl vornehmer Herren trat der Italienerin aus den dunkeln Schatten der Säulen entgegen. Anna erkannte den jungen Eck, den Ritter Welden, einige Patriziersöhne. Die Frauen sahen, daß sie den dargebotenen Arm des jungen Eck ablehnte. Sie ergriff den Arm eines Greises. Dies mochte der Baumeister Luzio die Spari sein, von dem sie gehört hatten. So schritt die Fremde dahin, unter ihren Landsleuten und den Verehrern, die sie hier gefunden, wie eine Fürstin. Johannes wurde nicht wieder gesehen.

Anna hatte sich nicht sobald, was sonst ihrer Natur gemäßer gewesen wäre, wieder fassen können. Sie hatte kein Anrecht auf Johannes; kein Verlöbnis verband sie mit ihm. Aber sowohl er wie alle Welt wußten, daß sie ihn liebte. Keine Freybergerin, Langenmantelin, Fuggerin hätte sie eifersüchtig machen können – die Südländerin, eine Künstlerin, brachte ihr Blut in Wallung. Wußte sie doch, daß Johannes zu sagen pflegte, er lebte im Geist nur in Avignon.

»Da siehst du, wie diese Paumgartner sind!« begann Regina, als sie sich aus dem Dom auf den Platz begeben hatten – über sich selbst erschreckend, denn – sie hatte vergessen, ihre Hand in die Weihwasserschale an der Pforte zu tauchen und sich, wie seit Jahren gewohnt, mit dem Kreuz zu segnen –!

Sie nahm nur am Leid ihrer Freundin teil.

»Da siehst du, was deiner harrt! Schlage dir diese Liebe aus dem Sinn! Kannst du ihn jetzt nicht fesseln, wie wirst du es künftig können! Oder es müßte denn sein, daß du an seinem Krankenbett säßest –! Er ist leidend, wie ich –«

Als Anna diese trübe Ahnung mit einer Bewegung abwehren wollte, fügte Regina hinzu:

»Ich verstehe mich auf die, die verbergen wollen, daß sie krank sind!«

Zwei Trabanten des Bischofs kamen den Frauen entgegen. Sie sollten sie zu Reginas Vater begleiten. Kurze Spieße, Schwerter, eiserne Sturmhauben, das bischöfliche Wappen auf der Brust bezeichneten sie als Leibwächter des Bischofs, die dem Volk schon seit lange ein Dorn im Auge waren. Auch schritten sie den Angehörigen der Bischofspfalz lange nicht mehr mit ihrem alten Selbstvertrauen voraus.

In den Straßen ging es wirr durcheinander. Um den Perlach, am Beckenhaus, an den Metzgerbänken standen rechts und links Buden und Karren, auf denen Lebensmittel und ländliche Erträgnisse aller Art verkauft wurden. Lastwagen, von mächtigen Rossen gezogen, verengten die Wege. Bewaffnete Reiter sprengten daher.

In Augsburg war das Regiment des Volksgeistes zwischen Webern und Metzgern geteilt. Jene, ihrem Gewerbe nach stubenhockende Kellerbewohner, unter dem Einfluß der Fugger stehend, hielten am längsten am römischen Wesen fest; diese, in freier Luft lebend, wilden, gefahrvollen Gewerbes, geschworene Gegner der Fleischabstinenzgebote, hätten am liebsten mit ihren blanken Äxten alle Altäre und Bilder sofort zerschlagen und das Zeichen zum stündlich erwarteten »Pfaffenkehraus« gegeben.

Mit Schrecken sahen die Frauen, daß die Stimmung gegen sie, je mehr sie beim Metzger- und Rathause ins Gedränge kamen, feindselig wurde. Nur die Achtung vor ihrem Geschlecht hinderte den Ausbruch des Unwillens, den die noch so offen zur Schau getragenen bischöflichen Wappen und Farben erregten. Am Perlach gab es einen Aufenthalt, der bedrohend zu werden anfing. Zufällig hatte einer der Diener die eingestemmten Arme eines Metzgergesellen berührt, sogleich faßte dieser, ein kräftiger Bursche, den Diener am Nacken und schüttelte ihn trotz seines Speers.

Jetzt kam der zweite Trabant und wollte die Ungebühr nicht dulden.

Das Zeichen eines ungleichen Kampfes war gegeben.

Metzger-, Bäckergesellen, wilderregte Marktweiber schrieen durcheinander, trotzdem, daß die Trabanten Widerstand leisteten und der Mutigere von beiden rief:

»Kennt ihr nicht die Nichte des hochwürdigsten Bischofs –?«

Doch die Erwähnung des geistlichen Oberhirten, der ohne weibliche Beziehungen leben sollte, dagegen der Anblick der schönen und prächtig gekleideten Frauen erhöhte erst recht die Erregung der immer mehr anwachsenden Menge.

»Schlagt die Pfaffendirnen tot!« hörte man aus dem entfernteren Teil des dichten Gedränges.

»Laßt sie brennen, wie die Unsrigen in München und Straubing gebrannt werden!«

So gingen die Drohungen durcheinander, nicht eben ernst gemeint gegen die Frauen, nachdrücklicher gegen die bischöflichen Diener, die mit den immer zahlreicher herbeispringenden Knechten ins Raufen geraten waren und sich kaum selbst noch schützen konnten, geschweige die Frauen.

In dieser bei alledem bedenklichen Lage, die bei dem Mut der Frauen und der Zaghaftigkeit der bischöflichen Diener kein gutes Ende verhieß, kam den Bedrängten ein entschlossener hilfreicher Beistand.

Ein junger Mann drängte sich durch die Massen, stieß rechts und links die Schreienden oder nur schadenfroh Gaffenden auseinander und gelangte zu dem angstvoll sich umschauenden Häuflein mit den im Volkston ausgerufenen Worten:

»Ei, so hört doch! Ei, soll man euch den Kitzel büßen? schaut doch – vermaledeite Hockler! Paßt auf! Ich will's euch zahlen!«

Regina und Apollonia hätten an dieser Sprechweise ihren jungen Reisebegleiter Ottheinrich Stauff am wenigsten wiedererkannt. Und dennoch war er es. Mutig den unbewehrten Arm wie zum Boxerkampf ausstreckend machte er sich Bahn zu den Frauen, die namentlich von einer Anzahl weiblicher Schreier bedroht wurden, während die Trabanten mit den Männern zu tun hatten.

»Schaut!« rief eines der wütendsten Weiber, auf die Kleider der Frauen deutend, »der Pelz und Arras ist ihrem Pfaffen gestohlen! Ihre Hemden sind zertrennte Chorröcke! Ihre Brusttücher sind Kappenzipfel, so die Pfaffen beim Besuch ihrer Stuben vergessen haben!«

Mit heller mutiger Stimme fuhr Ottheinrich unter die Lachenden:

»Ist das jetzt Brauch in Augsburg, so mit edlem Frauenzimmer zu verkehren? Wisset ihr nicht, daß die eine dieser Frauen hier, so ihr schier auf den Tod erschreckt, die Tochter eures edelsten Bürgers, des ehrenfesten Hans Honold ist; zugleich die Schwiegertochter des kaiserlichen Rats und meines Herrn, dem ich diene, Herrn Hans Paumgartner? Und ob ihr auch in diesen unschuldigen Dienern des Bischofs die Werkzeuge des Satans erblicken möget, so habt ihr doch um diese Stunde in jeder Augsburger Kirche Gelegenheit, die Worte der Schrift zu vernehmen: Freuet euch nicht des Falles eurer Feinde! Haltet mir die Hände zurück, rate ich euch, von diesen wehrhaften Männern! Wie könnt ihr ihnen verdenken, daß sie durch eure vermaledeite Hocklerei, euer bäuerisch Gedränge den schwachen Frauen den Weg bahnen wollen? Habt Bescheid! Bin ein Diener des genannten kaiserlichen Rats und setze ein paar frische Knochen dran, ihnen den Weg freizugeben, falls ihr es nicht tut –! Wo ist der Marktmeister –« unterbrach sich der mutige Sprecher, »daß uns sein Besen die Gasse kehre –!«

Der Marktmeister kam auch schon eilends und in Schrecken daher. Er kannte Anna von Stadion und gehörte zu den Dienern des Bischofs. Auch die Marktpolizei war bischöfliche Gerechtsame.

Jetzt hieb der wild gewordene Marktmeister blindlings in den Haufen hinein. Die Metzgerknechte zogen sich zurück und die Frauen gewannen Durchgang.

Der entschlossene Mut Ottheinrichs fand seine erheiternde Belohnung.

»Staufferle! Staufferle!« brach Apollonia zuerst aus dem Zustande sprachloser Erstarrung, der die Frauen befallen hatte, hervor, als sie am Rathaus waren und, vorüber »am Stüle« (dem Pranger), wieder die breite Straße gewonnen hatten. »Das sollen euch alle Engel und Schutzheiligen im Himmel lohnen!«

»Ja,« fiel Anna von Stadion ein, die sich auf den jungen Mann besann, den sie öfters schon im Paumgartnerschen Hause gesehen hatte, »gebt lieber Frau Regina den Arm! Die Leute wissen's doch schon, daß sie nur um euretwillen mit euch in die weite Welt gereist ist –!«

Ottheinrich sah, daß sein Beistand für die halb Ohnmächtige nötig war.

»Ich werde es nicht laut genug bezeugen können, was ihr mir schon alles in den Beschwerden meiner Reise gewesen seid!« bestätigte Regina zitternd die Scherze ihrer Freundin. »Nun schon wieder danke ich euch die schnelle Hilfe und den tapferen Beistand!«

Regina bedurfte Kraft und Sammlung. Von dem Erlebnis auf dem Markt noch an allen Gliedern zitternd, hielt sie sich an Ottheinrichs Arm und bat ihn, sie auf dem schweren Gang zu ihrem Vater nicht verlassen zu wollen.

Ottheinrich gedachte der Szene, die er gestern hatte in der Annengasse belauschen dürfen. Haysermann hatte ihm heute früh erzählt, daß in der Tat der alte Honold und Hörbrot den jungen Zwölfer seinetwegen auf der Zunftstube der Schneider angesprochen, sich nach ihm erkundigt und nicht unvorteilhaft von ihm geurteilt hätten nach dem, was über ihn Haysermann aussagte. Das Übrige zu seiner richtigen Beurteilung hatten die Versicherungen seines Prinzipals getan. Ermutigung, sorglos sein Haupt zu erheben, durfte ihm auch noch der auffallende Umstand gewähren, daß weder die Mutter des Rats noch Gundula dem Rat eine Mitteilung über Beichlings Verleumdungen gemacht zu haben schienen. Auch er war, trotz des gestern Vorgefallenen, der Ehre gewürdigt worden, zum heute angesetzten Mahl entboten zu werden und keineswegs, wie Cyriax, nur als Beaufsichtiger der Bedienung und deren Mitgehilfe, sondern als tischsässiger, teilnehmender Gast, der, wenn auch nur am untersten Ende der Tafel und mit den Buchhaltern des Kontors zusammen, doch seinen Fuß mit Grafen und Herren unter eine Decke strecken durfte.

Mit bangem Herzen hatte sich Regina dem Vaterhause genähert. Die Trabanten klopften mit ihren Spießen an den metallenen Ring, der an den Haustüren die Klingel vertrat.

Der alte Honold kam seinem Kinde nicht entgegen, ein Zeichen seines Unmuts über das Betragen seiner Tochter. Auch die drei Schwestern, die noch allein in Augsburg verweilten, empfingen Regina nicht mit freudigem Entgegenkommen. Die verheiratete unter ihnen war Susanna Rehlinger, die unverheirateten hießen Barbara und Philippine; letztere war unter den acht Schwestern die jüngste.

Mit klopfendem Herzen stand Regina an der Tür, die zu einem Erkerzimmer führte, wo sie in ihren Kindheitstagen unter Blumen ihren Träumen nachgehangen hatte.

Anna von Stadion war über den kalten Empfang in Zorn geraten, sie duldete nicht, daß Regina anpochte. Sie selbst riß die Tür auf und rief den in feierlicher Aufstellung im Zimmer Harrenden, dem Vater und den drei Geschwistern, zu:

»Nun, da habt ihr sie! Um eins hätte man uns soeben auf dem Markt alle totgeschlagen!«

Der Schrecken über diese Mitteilung gab eine mildere Form der ersten Anknüpfung. Der ungeheuchelte Ausdruck der Natur über das eine konnte das Eis über das andere hinwegschmelzen helfen.

Frau Rehlinger stürzte auf die mit Tränen im Auge an der Schwelle harrende Schwester zu, Philippine gleichfalls – diese, die noch nach Kinderart alles Neue, das im Leben sich ereignet, als eine Mehrung der berechtigten Ansprüche alles Menschentums nur auf Glück und Freude betrachtete. Barbara, eine verblühte, die keinen Gatten gefunden hatte, hielt sich zur Seite und begrüßte die Schwester erst dann, als sie sich vom Hals des sie schweigend anstarrenden Vaters losgerissen hatte.

Die Erzählung des auf dem Markt erlebten Unfalls und der wiederum wahrhaft wunderbar von Ottheinrich Stauff geleisteten Hilfe löste die Peinlichkeit, die durch die Anwesenheit der Nichte des Bischofs und die unten harrenden Trabanten desselben anfangs gemehrt wurde. Zum Glück kannten alle den unbefangenen Sinn Anna von Stadions.

»Du siehst krank aus!« begann der Vater. »Kein Wunder, wenn man solche Reisen unternimmt! Hoffen wir, daß der Unfall am Markt kein schlimmes Vorzeichen sei. Sirach sagt: Ein Weib, das seinen Mann verläßt, das wird man aus der Gemeinde stoßen –!«

»Sirach hat nicht glimpflicher,« fiel Anna von Stadion ein, »von schlechten Männern gesprochen, die ihre Frauen kränken –«

Honold winkte seinem Gesinde, es sollte das Zimmer verlassen.

Regina ließ sich auf einen Sessel nieder und übersah das Zimmer mit Tränen im Auge. Es war noch alles wie ehedem. Nur einige neue Bilder an den Wänden – Bildnisse der Reformatoren. Ihre Schwester Philippine hatte Regina als Kind verlassen. Sie war anmutig geworden.

»Wer acht Söhne hat,« sprach Hans Honold im Zimmer auf- und niederschreitend, »führt uns, geht's Glück gut, acht Töchter heim! Selten dann, daß es Söhne, und ob sie noch soviel eigenen Willen, noch so trotzigen und verkehrten Sinn haben, dulden werden, daß sie eitle und hoffärtige Weiber ihren Eltern abwendig machen. Acht Mädchen aber bringen uns – im besten oder soll ich sagen im schlimmsten Fall –? acht Männer heim, jeden mit seinem eigenen Trotz, mit seiner eigenen Torheit! schlimm genug, wenn dann die Frauen der Torheit ihrer Männer folgen und die Eltern Söhne und Töchter zugleich verlieren! Du hast dich uns so lange abgewendet, Regine, daß du nicht klagen darfst, wenn wir dir zeigen, wie viel wir – im voraus um dich geweint haben!«

Nun erleichterten nebensächliche Dinge, die zufällige Begegnung mit Anna von Stadion in Füssen, vor allem die auch an Honold und seine Töchter für heute ergangene Einladung zum Mahl in der Sankt-Annengasse den Druck der peinlichen Stimmung.

»Hast gutes Wetter auf der Reise gehabt?« begann der Vater mit größter Milde. »Kannst von Glück sagen, daß dir eine so treue Obacht zur Seite gestanden, wie du in dem jungen Blut, dem Stauffer, gefunden zu haben scheinst, obschon auch darüber die Leute reden sollen... Was war das also auf dem Markt soeben?« lenkte er ein.

Regina suchte die milde Stimmung des Vaters festzuhalten, indem sie von dem Abenteuer auf dem Markt erzählte zum Schrecken und zugleich zu großer Befriedigung der Ihrigen. Denn nicht nur, daß bei dieser Gelegenheit die Szene zur Sprache kommen konnte, die vor einigen Monaten am Wirtshaus »Zum Pyr« stattgefunden hatte und nach ihren näheren Umständen erst seit heute Hans Honold bekannt geworden war, auch die den bischöflichen Angehörigen gezeigte Volksgesinnung tat dem Vater in so hohem Grade wohl, daß sie sogar seinen ernsten Zügen ein mehrmaliges Lächeln abnötigte.

Barbara, die daraufhin den jungen Mann, dem die Familie so sehr verpflichtet sein mußte, unten aufgesucht hatte, kam mit dem Bescheid zurück, daß den treuen Helfer die Zurüstungen zu dem Frühmahl, die er bemerkt hatte, inzwischen bestimmt hatten, sich zu entfernen.

»Der junge Stauff,« warf Honold beiläufig ein, »gibt einen trefflichen Kaufmann. Aber ich meine fast, Gott hätte ihn noch zu anderem berufen! Für gute Dinge kommt ein Anfang nie zu spät. Man sollte ihm raten, ein Gottesmann zu werden!«

»Ja, in ein Kloster zu gehen!« fiel Anna von Stadion ein, wohl wissend, wie sie mit solcher Anwendung seines Vorschlags Honold nur reizen konnte. »Ganz recht! Ein Pfaff, ein Mönch! Ei, das kann er sogleich werden! Ich rede mit dem Bischof und mache ihn mit der Zeit zum Prälaten. Nur zu den Karthäusern darf er nicht gehen. Möchte ihn immer hören, wenn er so spricht, wie heute auf unserm Markte und damals wohl auch am Pyr –!«

Das Frühstück machte, daß die gütige Mutter Natur, die sich so oft als die Siegerin über die Vorurteile, die Leidenschaften, die mißglückten geistigen Schöpfungen der Menschen bewährt, auch hier die nächste Sorge vergessen ließ.

Der strenge Ausdruck der Züge des Vaters milderte sich. Hätte sich jetzt Regina an seine Brust geworfen und sich zu dem Glauben bekannt, der ihm seines Lebens einziger Inhalt geworden, es wäre nicht nur eine durchgreifende Aussöhnung zustande gekommen, der Vater hätte auch sofort in zärtlichster Weise für das äußere Wohl seiner Tochter Sorge getragen. So aber sagte er nur, da sie, ihr Haupt aufstützend, in Schweigen verharrte:

»Du wirst zum alten Hans, zum Rat, ziehen müssen! Das ist nicht anders! Fast flehentlich hat er mich gebeten, ihn vor Aufsehen zu bewahren! Weiß nicht, warum er in Augsburg nicht auch zu denen gehören will, die mißratene Kinder haben. Begegnen sie dir aber ungebührlich, so sei versichert, daß auch der Honoldsche Luchs wild werden kann! Kommt es zum Äußersten, so ist die Ehe für uns jetzt kein Sakrament mehr. Wo an ihr die Seele Schaden leidet, da löst sie Paulus. Wir haben in der Stadt zu den vielen guten Neuerungen jetzt ein ehelich Rügengericht, das über Zucht und Ehrbarkeit im Familienleben zu wachen hat. Die Papisten spotten drüber und nennen's das »Blau-Himmel-Amt«! Ei, die Männer, so es bilden, haben schon manche trübe Wolke verjagt und wieder blauen Himmel gemacht. Sie sollen uns nicht beschuldigen, als wollten wir, wenn wir auch die Ehe kein Sakrament mehr sein lassen und sie lösen, in Augsburg Sodom und Gomorrha haben. Wir können zeigen, daß der Harnisch Gottes, den wir tragen sollen (Epheser 6), bei uns lautern Goldes und heller als eure Wappen und gleißenden Ehrenschilde sein muß! Vielleicht, daß von diesem unsern Gericht der Entscheid auf Trennung wird, wenn ihn die Paumgartner verweigern.«

»Die Paumgartner werden Regina nicht verunehren lassen!« fiel Anna ein. »Darauf verlasset euch!«

Anna erhob sich und Regina tat ein Gleiches mit halb weinenden, halb über den Anteil des Vaters freudestrahlenden Augen.

»Geh' jetzt zu deinem Schwiegervater!« sprach Frau Rehlinger ebenfalls begütigend. »Höre, wann Antoni eintrifft und verlaß – das wäre meine Meinung Vater –! verlaß die Wohnung des Fräuleins nicht eher, als bis alles in Ordnung. Bei uns darfst du nicht wohnen! Das sähe schon wie Scheidung aus.«

Der Vater schwieg zu dem Vorschlag. Er drängte nur, daß man sich rüstete, Regina bei ihrem Eintritt in des Schwiegervaters Haus schützendes Geleit zu geben.

Die Schwestern holten ihre Mäntel, die man, bei dem herbstlichen Winde, der draußen wehte, schon mit warmer Fütterung brauchen konnte.

Regina hatte allmählich Mut gefaßt. Sie sprach freundliche Worte mit den Schwestern, deren Kleidergeschmack und Aussehen sie lobte.

Anna zögerte, ob sie die Freundin bis ans Haus ihres Schwiegervaters begleiten sollte. Wenn Johannes ihr begegnete – sie wohl gar mit einer Unwahrheit begrüßte – seine Anwesenheit im Dom, sein Knieen hinter der Bildhauerin ganz in Abrede stellte –!

Darüber unentschlossen grübelnd kam sie aber doch bis dicht ans Haustor. Hier hatte sie keinen freien Willen mehr. Die kleinen Hauspoltergeister Philippine Welser und Jakobine Jung, die ihnen schon über die Straße entgegengesprungen gekommen waren, zogen sämtliche Ankömmlinge mit Gewalt die Stiege hinauf. Hier kam ihnen Gundula als noch bestrickendere Fessel entgegen. Gundula erschien so erblüht, so gereift, daß selbst Anna, die sie seit längerer Zeit nicht gesehen hatte, darüber erstaunte, von den holden Kindern war die Welserin die schönste; die anziehendste durch glutvolle dunkle Augen die Tochter des berühmten Arztes. Kunigunde hatte den Paumgartnerschen Zug des Spottes, der Regina unheimlich war. Beklommen ließ sie sich an Gundulas Hand zu Mutter Felicitas geleiten, die ihnen auf der Stiege entgegentrat.

Die würdige Matrone war bereits im Feststaat. Gold und Edelsteine funkelten an ihren Kleidern, an ihrem Gürtel, ihrem Kopfputz.

Gundula verriet nichts von jener Erregung des Zorns und der Eifersucht, der sie gestern einen für Ottheinrich so grausamen Ausdruck gegeben hatte. Durch die Genugtuung, die sie sich persönlich verschafft hatte, schien sie befriedigt zu sein. Die Strafe, die sie Ottheinrich für seine vermeintliche, Martina dargebrachte Huldigung verhängt sehen wollte, war ohnehin eine vollständige geworden durch die bereits von ihr in Erfahrung gebrachte Tatsache, daß sich die schöne Schneidermeisterstochter anschickte, der Königin nach Brüssel zu folgen. Das übrige sollte heute noch die Nichtbeachtung tun, die sie Ottheinrich bei Tische beweisen wollte. Gerade um deswillen freute sie sich über die vom Vater auch an »den Bamberger« ergangene Einladung. Die Ahne verhinderte ein zu langes Verweilen bei dem neuen Dank, zu dem ihres Sohnes Schwiegertochter dem jungen Stauff für den Vorfall auf dem Markt verpflichtet war – eine Szene, die die Schwestern Reginas mit Lebhaftigkeit wiedererzählten.

Anna von Stadion hatte auch hier vernommen, daß Johannes keineswegs aus Türkheim und Weiler Berg schon zurück sei. Hatte sie nun demnach ein Blendwerk gesehen oder wollte Johannes nur für die Italiener anwesend sein –? Sie kämpfte mit sich, was sie denken sollte, behielt aber die Begegnung im Dom, an der sie nicht anders als festhalten konnte, für sich, entschuldigte sich um ihre Nichtteilnahme am Mahl, schützte die Sorge um ihren Oheim vor, der, wie sie erfuhr, gleichfalls hier, wie bei den Fuggern für die Tafel der Königin, hatte absagen lassen, und wollte sich eben entfernen, als der Rat eintrat.

Dieser kam mit dem ihm eigenen sardonischen Lächeln, in glänzender spanischer Hofkleidung, eine mächtige goldene Kette mit dem goldenen Bilde des Kaisers auf der Brust. Er umarmte Regina auf die ihm in solchen Fällen eigene französische Art, die Wange hinhaltend, die sie küssen mußte.

Mit seiner von Ringen starrenden Hand führte er die Schwiegertochter in die geschmückten, mit Teppichen belegten Staatsräume des Hauses. Ihre Begleitung berücksichtigte er erst, als er diesen Dienst der Galanterie verrichtet hatte. Er neckte sich mit Anna, die ihm die Hände küßte und einen seiner Ringe behalten wollte. Dann lächelte er den drei Schwestern Reginas, die er scherzend nach ihren Männern fragte, worüber diese nicht wenig erröteten.

Die Frauen wurden aufgefordert, in den Garten zu gehen, wo ihnen Magister Rupilius neue Pflanzen zeigen wollte, die bald mit Glas bedeckt werden mußten, da der Herbst hereinbrach.

Als auch Regina mit in den Garten gehen wollte, winkte ihr der Rat, sich den andern nicht anzuschließen, sondern mit ihm zu einer besonderen Zwiesprache in den oberen Stock zu gehen.

Anna warf der Freundin einen Blick zu, der ihr sagen sollte, sie möchte mutig folgen.

»Ich liebe,« sprach der Rat im Gehen, während Regina wie eine ihren Urteilsspruch Erwartende hinter ihm her schritt, »klare Rechnung, wie wir Kaufleute sagen. Das hat mein Vater so gehalten und in der Regel ist's auch meine Art. Laß uns das Nötige sofort beseitigen –!«

Mit einem Herzen, dessen Wehkrampf ihr den Atem benahm, folgte Regina dem Mann, der in der Kundgebung seines Willens eine tyrannische Kraft besaß. Daß sie nur zu allem, was der gefürchtete Mann, der überall zu siegen gewohnt war, von ihr begehren würde, Ja! würde sagen können, glaubte sie bereits für gewiß.

Dennoch, als sie in seinem stillen, nur zum Schein eine Welt der ruhigen Sammlung und des friedlichen Nachdenkens darstellenden Zimmer Platz genommen, als der Rat ihre zitternde kalte Hand ergriffen hatte mit den Worten: »Mein Kind! Meinen ersten Unwillen über deine Flucht hat dir schon Johannes ausgedrückt! Daran mag es vorläufig genug sein! Nur Toren pflegen sich bei Dingen, die nicht zu ändern, aufzuhalten –« kam dem gedrückten Herzen mit einem Atemzug, der ihr endlich wieder mit vollerer Freiheit möglich geworden war, ein Anflug der alten Kraft und Entschlossenheit. Sie rüstete sich wenigstens, scharf aufzuhorchen.

»Nur darauf kommt es an,« fuhr der Rat fort, »daß wir das Neue in den gewohnten Lauf des Alten hinüberzulenken verstehen. Dafür laß uns zunächst sorgen! Ich habe Ursache mein Haus zu bestellen. Deshalb hab' ich euch alle zu einem großen Familienrat versammeln wollen! Erleichtere mir mein Vorhaben und ich hoffe dann, auch deine Wünsche werden zur vollen Befriedigung gelangen.«

Regina suchte sich, indem sie ihre Augen niederschlug, in den dunkeln Worten des Schwiegervaters zurechtzufinden.

»Von dem leider zu früh verstorbenen Vater des Knaben, der dich mit unserm David in Venedig besuchte,« fuhr der Rat fort – »ich lasse den Sohn des Freundes in Padua studieren – hab' ich ein Familienstatut aufsetzen lassen. Um ihm seine volle Geltung zu verschaffen, bedarf es der Zustimmung aller Glieder meiner Familie, soweit diese mündig sind. Es ist nicht unmöglich, daß Antoni und selbst Johannes mit meinen Anordnungen unzufrieden sind. Indessen – ich habe alles reiflich erwogen und hoffe mit meinen Absichten durchzudringen. Dein Beistand kann mir dabei nützlich sein, meine Tochter. Jedenfalls möcht' ich nicht, daß du auf Scheidung klagtest –!«

Regina sah den Schwiegervater groß an.

»Denn in diesem Fall,« fuhr der Rat fort, »würden für dich Anwälte deines zu wahrenden Vorteils erstehen, und, wie wir Juristen eben sind, an Hemmungen und Störungen meiner Absichten würde es dann nicht fehlen –«

Nur darum? wollte Regina sprechen. Nur um dein Familienstatut –? Die Stimme versagte ihr.

»Du bist leidend, liebe Tochter!« führ der Rat, nachdem er sie nicht ohne Teilnahme längere Zeit betrachtet hatte, fort. »Doch wirst du dich erholen. Deine Schwestern, sowie die berühmten Arzte unserer Stadt werden das Ihrige dazu tun. Unser altes Paumgarten an der Donau, Erbach ihm gegenüber oder Weiler Berg bei Türkheim sind stille wohnliche Plätze, wo du, willst du nicht in Augsburg weilen, die Ruhe finden kannst, deren du zu bedürfen scheinst –«

»Wollt ihr mich aus Augsburg verbannen?« fragte Regina lächelnd.

»Kind!« entgegnete der Rat. »Du wirst bald selbst nicht mehr bleiben wollen! Bald wird hier die Kriegsfurie toben! Belagerung, Sturm, innerer Aufruhr – das werden wir erleben! Nächtlich werden schon jetzt die Wachen verdoppelt, Runden durchstreifen die Straßen, alle Verdächtigen, worunter man auch die treuen Freunde des Kaisers versteht, werden eingekerkert oder ausgewiesen. Venedig, das wäre der rechte Ort für dein Übel gewesen! Doch davon sei nun nicht mehr die Rede. In einigen Tagen wird Antonius hier sein. Er kommt über Salzburg und München –«

Wie von einem bösen Geist bedroht erhob sich Regina, blickte um sich und sagte fieberhaft schnell:

»Dann muß ich fort! Ja, ja! Ich muß Augsburg lassen! Auf immer –!«

»Erst nachdem ich hier Friede geschlossen!« fiel der Rat mit Entschiedenheit ein. »Zu einer Scheidung,« fuhr er fort, »läßt es, denk' ich, auch dein Glaube nicht kommen –«

»Welcher Glaube –?« fragte Regina.

»Den du Gott und seinen Heiligen zu erhalten so weise gewesen bist –«

»Lobt mich nicht um etwas –« sprach Regina zögernd und mit unheimlichem Blick, »das vielleicht –«

»Wie? Du könntest die Bahnen deines Vaters einschlagen wollen –? Das würde ich dir verbieten und mit aller Macht verhindern. Innerhalb meiner Familie darf der Geist der Ketzerei sich nicht um eines Fußes Breite zeigen –«

Der Rat stand vor Regina mit drohender Gebärde.

Es war ein seltsamer Geist, der Regina ergriff. Die entscheidenden Einflüsse der Menschen haben selten ihre Geburtsstunde unter den Wehen der Betrachtung und der Bedenken, wie man die Vorteile und Gefahren des zu Befolgenden abwägen solle.

Für Regina lag diese allmähliche Vorbereitung der Gesinnung, die sie plötzlich zeigte, in der Reise, die sie mit Ottheinrich gemacht hatte, im Wiedersehen des verlassenen Doms, in der Rührung über den Anblick des Vaters. Den Ausschlag gab die so selbstgenügsam und bei allem Schein der Milde tyrannisch auftretende Haltung ihres Schwiegervaters.

»Ihr irrt!« sprach sie bestimmt und fest. »Ich bin evangelisch –!«

»Wie?« fuhr der Rat entrüstet auf.

»Mich treibt das Verlangen, Miterbe am wahren Leibe und Blute Christi zu sein –! Am nächsten Sonntag werde ich in die Kirche zum heiligen Kreuz gehen und im Abendmahl zum Brot des Lebens auch den Kelch nehmen!«

Mit diesen Worten erhob sich Regina.

Die Adern auf der Stirn des Rates schwollen an. Die Augen traten aus ihren Höhlen. Sein Mund öffnete sich und schloß sich wieder. Seine Lippen vermochten keinen Laut hervorzubringen. Blitzschnell sich gestaltende Gedanken, Schlußfolgerungen, Berechnungen sogar, ob sich nicht die gegen seinen Sohn zu erhebende Anklage mildern ließe durch die Verbreitung des Scheins, als wenn die Religion ein Anlaß der Trennung zwischen beiden gewesen wäre – dann wieder die Besorgnis vor Denunziationen, die an den Kaiser gelangen und die Geneigtheit seiner Räte, ihm die Hohenschwangauer Lehen zu geben, stören konnten – alles das schoß zu gleicher Zeit durch sein Hirn. Die mächtigste unter diesen schnellen Gedankenbildungen war die: Das wieder eine Bekehrung, die dieser Stauffer hervorgebracht hat –! Darüber schlug er, in Erinnerung an die Sankt-Ulrichsmönche, ein höhnisches Lachen an.

Regina entsetzte sich vor dem Mann, sie flüchtete aus dem Zimmer, ohne weiter ein Wort zu sprechen, sie eilte unter die Zurüstungen zum Mahl, an denen sie sogar geschäftig teilnahm, nur um ihre Aufregung zu verbergen.

Die Großmutter lächelte darüber, so machte ja die Tochter die Welt an den Gerüchten irre, die sich über die Ursachen ihres überraschenden Besuchs verbreitet hatten. Wenn sie hätte ahnen können, daß Regina nur auf den Augenblick harrte, wo unter die geladenen Gäste Ottheinrich Stauff treten würde, dem sie, und wär's nur mit dem Glanz ihrer Augen gewesen, hätte zurufen mögen: Weißt du noch in dem stillen Tal – damals auf dem grünen Hügel beim Kloster Stams? Seit jener Sonntagsweihe bin ich überwunden – –!


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