Karl Gutzkow
Hohenschwangau
Karl Gutzkow

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V.

Verläßt man aber Augsburg in nördlicher Richtung, dem Tor entgegengesetzt, das auf Venedig führt, so gelangt man zuerst an die Donau, übernachtet vielleicht in Donauwörth, gelangt ins wasserreiche Ries, wo die Grafen von Öttingen, die Äbte von Ellwangen regierten, berührt zur Rechten das Bistum von Eichstädt, die Herrschaft der Grafen von Pappenheim, und gelangt zuletzt an Wassertrüdingen, dem Erbe der alten Grafen von Truhendingen... Durch Kauf, Tausch, Erbschaft und die blutige Fehde des »Städtekriegs« wurden sie der erste größere Besitz der weiland Burggrafen von Nürnberg, des alten schwäbischen Rittergeschlechts der Hohenzollern.

Über Onolzbach hinaus, der Hauptstadt des uralten Rangaues, gelangt man in die waldreichen Schluchten eines vielverästelten, von zahllosen Bächlein durchschnittenen Gebirges.

Über die kahlen schroffen der Hohen Leite und der Hohen Steig hinweg, schon der Abdachung des Landes zum freundlicheren Maingebiet zu, liegt im Angesicht des im Osten sich erhebenden Steigerwaldes am Ufer eines Flüßchen das Städtlein Windsheim, uralten Ursprungs, eine Kaiserstadt wie Augsburg, nur sich selbst und dem Reich Untertan, von freien, keinem Fürsten dienenden Bürgern bewohnt, aber nur klein an Umfang und Macht. Augsburg ein Riese unter den Freien Reichsstädten Deutschlands, Windsheim ein Zwerg.

Aber in einem lieblichen Tale, unter fruchtbaren Feldern, herdenreichen Triften, umragt von stolzen Schlössern, erhebt sich Windsheim noch jetzt mit kleinen, nadelspitzen Kirchtürmen, mit einer mächtigen, von Schießscharten durchbrochenen Mauer und mit rings um die Stadt gehenden Wachtürmen wie ein rechtes Wahrzeichen alter vergangener Tage. Die Hohenzollern, von je auf Wachstum bedacht, hatten von Nürnberg aus beinahe schon festen Fuß in Windsheim gefaßt. Denn Kaiser Ludwig der Bayer verpfändete die Stadt als Reichslehn und deutschen Königshof an seinen »getreuen Burggrafen« von Nürnberg, den Hohenzoller, der ihm Geld geliehen hatte. Aber die Stadt kaufte sich um dreitausend Pfund Heller nicht nur von dem Hohenzoller, sondern auch vom Reiche frei. Der Kaiser kam selbst nach Windsheim, übernachtete dort, bestätigte der Stadt ihre Zölle und Rechte und machte sie frei.

Gegenwärtig entspricht das Innere der Stadt einem Landstädtchen von einiger Wohlhabenheit. Der Schwedenkrieg und eine Feuersbrunst, die vor hundertundfünfzig Jahren das Mitgefühl ganz Deutschlands zu Beisteuern bewog, hat den alten Kern der noch erhaltenen kriegerischen Außenseite fast verzehrt. Im Jahre 1536 aber stand neben dem Rathaus in noch unentstellter, altgotischer Schönheit die Stadtkirche zum heiligen Kilian, dem Apostel der Franken. In der Nähe lag die lateinische Schule, vor dem Rathaus stand eine uralte mit Bänken umgebene Linde, unter deren von Sturm und Wetter zerrissenen Zweigen nach alter deutscher Sitte die Bürger zur Beratung saßen. Ringsum erhoben sich die Häuser der angesehenern Einwohner.

Eine ansehnliche Gasse Windsheims ist die Krämergasse. Sie mündet dicht am Rathaus. Diesem gegenüber, und gerade an dem Eck, wo vom »schönen Brunnen« ein anderes aufwärts gehendes Gäßlein mündet, liegt ein Haus, dessen Holzgalerien noch heute im Anbau erhalten sind.

Hier wohnte eine lange Reihe von Jahren hindurch ein Mann, der an allem, was in dieser Zeit die Menschen bewegte, den lebhaftesten Anteil nahm.

Es war ein ehemaliger Staatsmann – der frühere Kanzler des Markgrafen Georg von Brandenburg.

Schon unter dem Hauptentthroner seines Vaters, des Blutrichters der Bauern, Markgrafen Kasimir, hatte der von unten Aufgestiegene seine Laufbahn begonnen. Da einerseits die Hohenzollernprinzen nach allen Richtungen hin sich auszudehnen und zu behaupten suchten, so mußte wohl Georg Voglers Rat und Einfluß auf die damalige Zeit der umfassendste gewesen sein. Kasimir selbst war kaiserlicher Feldmarschall, der an der Spitze seiner Armee 1527 in Ungarn plötzlich starb. Er hatte in der Regel die heimischen Verhältnisse seinen Verwesern überlassen, den Hauptleuten, Oberamtmännern, vor allem dem Hofmeister oder Gesamtstatthalter seiner Lande, dem Freiherrn Johann von Schwarzenberg, einem Ritter seltenen Wertes, der aus Liebe zur Reformation seine Dienste am bambergischen Hofe, dem er zunächst angehörte, aufgegeben hatte. Schwarzenberg schenkte wiederum seinerseits sein Vertrauen Georg Vogler. Voglers Heimat war das Land ob dem Gebirg, der obere Teil des Markgrafentums. Er hatte die Schulen in Hof, im Vogtland, in Sachsen besucht, von den Kastenämtern zu Kulmbach und Wunsiedel gelangte er zur Verwaltung des südlichen Teils der brandenburgischen Lande und war zuletzt ständig in Onolzbach ansässig, freundschaftlich verbunden dem Hofmeister Schwarzenberg, der ein reichbegüterter, im Bambergischen, Würzburgischen und Brandenburgischen zugleich lehnsässiger Edelmann war. Des Schwarzenbergers Schlösser Schwarzenberg und Hohenlandsberg ragten im mittleren Maingau wie königliche Burgen auf. Drei entschlossene, hochbegabte Männer führte er in die Geschäfte ein, Vogler, der sich ganz ihm angeschlossen hatte und die Reformation mit Entschiedenheit durchführte, die ihm aber Luther, Melanchton, Osiander, Brenz zu persönlichen Freunden machte, außer ihm zwei leibliche Schwäger Voglers, jenen neuen Ratsschreiber Augsburgs, Georg Frölich, einen aus dem Vogtland gebürtigen geistvollen jungen Mann, und Johann Clauß, der, nicht minder strebsam und hochgebildet, zu Onolzbach dem Kanzler als Obersekretär zur Seite stand. Frölich hatte Voglers jüngere Schwester, Vogler eine kränkelnde Schwester Claußens zur Frau. Als Kasimir in Ofen gestorben war und sein Bruder Georg, der seit dem Untergang seines Regiments in Ungarn größtenteils in Schlesien und Polen lebte, mit seines Bruders Leiche als dessen Nachfolger und Vormund seiner unmündigen Kinder im Markgrafentum erschien, war der edle Schwarzenberg nicht mehr am Leben. Ritter Hans von Seckendorff, aus dem Geschlecht der Seckendorff-Aberdar, war dem Namen nach sein Nachfolger geworden. In Wahrheit regierte Vogler nach wie vor. Nach seiner Anleitung sorgten die Oberamtleute von Hof im Vogtlande bis nach Crailsheim in Schwaben für den Landfrieden und die Eintreibung der Steuern. Seckendorff fand sich nur mit Unlust in seine Stellung. Der Versuch, statt Voglers einen geschmeidigeren Verwalter der Kanzlei heranzubringen, einen Doktor Sebastian Heller, gelang nur teilweise; Heller wurde Vizekanzler. Anfangs zog der Landesfürst den Aufenthalt in Ungarn, Böhmen, Schlesien und Polen dem in Deutschland vor und ließ Vogler verfahren, wie er wollte. Die Erklärungen Seckendorffs, daß ihn Alter und Krankheit verhinderten, seine mühselige Oberaufsicht fortzuführen, wurden vom Markgrafen nicht angenommen. Auch die römisch gebliebenen Brüder des Markgrafen, vor allen Friedrich, der im Würzburger Domkapitel saß, richteten nichts gegen den Kanzler aus, den sie beschuldigten, Hab und Gut, das ihnen gehörte, widerrechtlich innezuhalten. Eine gefährlichere Feindin Voglers entfernte sich bald, die hinterlassene Witwe Kasimirs. Sie, eine geborene Herzogin von Bayern, Schwester der beiden reformationsfeindlichen Bayernherzoge, Schwester der ihrem Gatten, dem wilden Ulrich von Württemberg, entflohenen Sabine, sollte nach anfänglicher Bestimmung ihre Kinder selbst erziehen. Sie bezog ihr Wittum, ein Schloß, das zu Neustadt an der Aisch, unsern Windsheim liegt. Unter den düstern Waldesschatten, rings von Bergen eingeschlossen, gefiel es der herzenskalten, leidenschaftlichen Susanna, einer Nichte Kaiser Maximilians, nicht allzu lange. Bald knüpfte sie ein neues Eheband mit Otto Heinrich, dem Pfalzgrafen von Neuburg. Ohne sich um ihren Sohn Albrecht und ihre Töchter Maria und Kunigunde noch besonders zu bekümmern, vertauschte sie das kleine fränkische Jagdschloß an der Aisch mit dem stolzeren Pfalzgrafenhaus zu Neuburg an der Donau. Die Reformation war ihr so zuwider wie ihren Brüdern.

Georgs zweite Gemahlin, die der Ungarin folgte, eine halbe Böhmin, Hedwia, Prinzessin von Münsterberg (in Schlesien), war ebenfalls kinderlos. Als auch sie 1533 starb, vermählte sich der Markgraf zum dritten Male mit Herzog Heinrichs von Sachsen Tochter, einer Schwester des in späterer Zeit so berühmt gewordenen Moritz von Sachsen. Prinzessin Amelia gehörte nicht dem Kurhause, nur der in Freiberg und Dresden regierenden sächsischen Nebenlinie an. Dennoch war sie ehrgeizig und anspruchsvoll, sie erkannte bald, daß sie für die Wünsche, die sie glaubte aussprechen zu dürfen, niemand mehr zum Hindernis der Erfüllung hatte als Vogler.

Vogler hatte sechs Jahre allein regiert. Er hatte die zerrütteten Finanzen des Landes leidlich geordnet, die Kirchenverbesserung durch seine Visitationen, Rundreisen gemischter Kommissionen, von denen Stifter und Klöster teils ganz aufgehoben, teils an Aufnahme neuer Novizen gehindert wurden, tatkräftig durchgeführt. Nun beschuldigte man ihn, daß er das Land eigenmächtig regierte, dem Markgrafen, wenn dieser im Ausland weilte, unvollständig oder falsch Bericht erstattete, die erhaltenen Befehle nicht ausführte und zum Nachteil seines Herrn mit den Agnaten zu Berlin, vorzugsweise mit Albrecht von Preußen in Königsberg konspirierte. Er mußte einem Adligen, den sich der Markgraf aus Österreich mitgebracht und zuerst zum Kammermeister im oberen Gebirge ernannt hatte, weichen. Der neue Landesregent hieß Georg von Bendorf. Er hatte versprochen, der gesunkenen Ertragsfähigkeit des Landes aufzuhelfen, Wälder und Felder gründlich auszubeuten, namentlich den Bergbau zu heben, wo man dann goldene Schätze träumte. Seckendorff trat in die bescheidenere Stellung eines Oberamtmanns in Crailsheim zurück. Vogler wurde verabschiedet. Die damalige Methode der Fürsten, sich vor eines gestürzten Dieners Rache sicherzustellen, pflegte die Übergabe an das Schwert des Nachrichters zu sein. Doch erlaubten die Vergehen, deren man Vogler zeihen wollte, eine so weitgehende Strenge nicht. Man warf ihn in einen Turm, den man auf dem Wege zwischen Gunzenhausen und Onolzbach in freundlicher, waldumkränzter Gegend das kleine Dorf Altenmuhr überragen sieht – das gegenüberliegende Neuenmuhr gehörte seinem Todfeinde, Hans von Seckendorff. Diese Gefangenschaft brach die Gesundheit seiner Gattin und verbitterte das Gemüt seiner einzigen Tochter, die in der Taufe den stolzen Namen Judith oder Jutta erhalten hatte. Nach einem Jahr gab man ihn frei. Er erhielt die Weisung, die Freie Reichsstadt Windsheim zu seinem Aufenthalt zu machen. Hier war er zwar außer Landes, konnte aber bald erreicht werden, wenn sein Tun und Lassen, das man unter Aufsicht behalten wollte, Verdacht erregte. Jetzt waren es zwei Jahre, die Vogler in seinem Exil zugebracht.

Georg Vogler, lang und hager, hinkte ein wenig. Er hielt den Kopf gesenkt, blickte scheu bald rechts, bald links und war ungleichen, bald langsamen, bald beschleunigten Schritts. Sein Alter war mittel und noch in nichts zur Entsagung gestimmt. Er irrte zwischen den Türmen der kleinen Reichsstadt Windsheim wie ein Gefangener, der heute verzweifelt, morgen trotzt und Rache schwört. Mutlos setzte er den Fuß nur auf einige hundert Schritte weit über die niedergelassene Zugbrücke der Stadt, nahe am See- oder Rothenburger Tor; ängstlich lugte er aus, ob ihm etwa ein Überfall drohte, ein Ausdruck des Hasses der Seckendorffe oder des Würzburger Dompropstes, der ihn nur den »Buben« nannte, oder der regierenden neuen Markgräfin Ämilia. Von dem Verlangen gestachelt, den ihm auferlegten Bann zu durchbrechen, sein Glück bei andern Höfen zu versuchen, vor allem in Königsberg beim preußischen Herzog, der über die Lage der Dinge in den alten Erblanden von ihm regelmäßige Mitteilungen verlangte, konnte er die gewohnte Betriebsamkeit des Staatsmanns nicht unterlassen. Nach allen Richtungen hin behielt er seine ausgesponnenen alten Fäden in der Hand. Der Markgraf wußte dies wohl und fühlte sich überall beengt durch die ihm von Vogler gezogenen Netze. Wo sich eine Gelegenheit bot, dem Hof von Onolzbach oder den gegenwärtigen Räten des Markgrafen, dem Hofmeister Bendorf oder dem Doktor Heller, der nunmehr wirklicher Kanzler geworden, zu schaden, wurde sie von Vogler, der mit Undank belohnt zu sein behauptete, nicht mehr als gern ergriffen. Der Markgraf schwankte in den Maßnahmen gegen ihn. In Georgs Charakter kämpften überhaupt die wunderlichsten Gegensätze. Angeborene Leidenschaftlichkeit konnte ihn in der Hitze zu unüberlegten Handlungen fortreißen und plötzlich zügelte ihn ein Gebot der Mäßigung, das wie Weisheit aussah, aber auch ein Übermaß von Erwägungen und geradezu Furcht sein konnte. Und in solchen Stimmungen sehnte er sich wieder nach Voglers Kraft zurück. Zum Zeichen der Versöhnung hatte er ihm vor kurzem einen ehrenvollen Kredenzbrief an den Rat von Windsheim ausgestellt, nannte ihn darin seinen Freund und treuesten Rat und wollte ihn jetzt nur als seinen Gesandten nach Windsheim geschickt haben. Georg hatte keine Kinder. Noch hatte seine dritte Frau keine Hoffnung auf einen Erben gegeben. Das war der höchste Kummer seines Lebens. Für wen mühte er sich und entbehrte? Für den Sohn seines Bruders, den er nie geliebt hatte, den Sohn der Bayerin, die er haßte, für diesen wilden Albrecht, den eine spätere Zeit den Alcibiades nannte, dem einst die Hälfte des Landes, vielleicht das Ganze zu übergeben war!

Der Verbannte in Windsheim war sich dieser Gesinnung des Markgrafen gegen ihn vollkommen bewußt. Sie ermutigte ihn zu den gewagtesten Unternehmungen. Immer noch konnte er hoffen, den Markgrafen zu überleben. Waren dann die Erbberechtigten, ob Neffe, ob ein noch möglicher Sohn Georgs, minderjährig, so konnten die Agnaten, dessen glaubte er in Königsberg, Berlin und Küstrin gewiß zu sein, die Regentschaft nur ihm, dem gründlichen Kenner des Landes, übertragen. Daraufhin blieb er bedacht, mit allem, was in und außerhalb des Landes geschah, in Verbindung zu bleiben, wollten die Stände, die bisweilen zu Kreistagen berufen würden, Steuern verweigern, so holten sie sich dazu von ihm die Rechtstitel ein. Geheime Boten gingen vom Oberland zum Unterland. Das Deutschherrenordenshaus zu Rothenburg ob der Tauber, in stetem Hader und Verhandeln mit dem abtrünnig gewordenen Heermeister am Baltischen Meer, vermittelte seinen Briefwechsel mit Königsberg. Zugleich sorgte Vogler für die Sicherheit des Bodens, von wo aus er diese unermüdliche Tätigkeit entwickelte. Die vier Bürgermeister und den Rat der kleinen Stadt, die ihm Herberge gab, gewann er sich durch Promemorien, die keine rechtskundige Feder so gründlich und aktengemäß ausarbeiten konnte wie die seinige. Dieselben Abkommen, die früher zugunsten einer Oberhoheit, die sich seit Jahrhunderten die Markgrafen über die kleine reichsstädtische Enklave ihres Landes zusprachen, von ihm selbst getroffen worden waren, bekämpfte er nun. Er bewies den Bürgern von Windsheim aus ihren Archiven, daß sie in allen umliegenden Ortschaften die Gerichtsbarkeit hätten, auf den fränkischen Kreistagen Vorrechte beanspruchen dürften, vom Schwäbischen Bund, dem die Stadt ebenfalls angehörte – er war im Begriff sich aufzulösen – Rückerstattungen an geleistetem Aufwand zu fordern hätten, für welche ihnen das Kriegsmaterial des Bundes haften sollte – mit solchen und ähnlichen Darstellungen mehrte Vogler sein Ansehen in Windsheim selbst, zugleich die Mittel seines Auskommens. Die Besoldung, die ihm von Königsberg gezahlt wurde, und die Naturalverpflegung, die Georg zu liefern versprochen hatte, reichten für seine Bedürfnisse nicht aus. Die Stadt ließ ihn in einem Hause wohnen, das der Kommune gehörte, im kaiserlichen Gerichtshause. Drei Jahrhunderte lang hatten die Kaiser die »Blutrichter« von Windsheim selbst ernannt; die Geschlechter der Leonrod, der Heßberg, der Seinsheim hatten in kaiserlichem Namen sonst in Windsheim Recht gesprochen. Johann von Schwarzenberg war der letzte Stellvertreter der Windsheimer kaiserlichen Rechtsprechung gewesen; auf dem Reichstage zu Worms, wo Luther vor dem Kaiser stand, gab Schwarzenberg sein Amt in des Kaisers Hand zurück, und Windsheim durfte sich hinfort den Blutrichter aus seinen eigenen vier Bürgermeistern wählen. Jetzt war es Michael Bernbeck, in dessen Hause Vogler frei in der Miete und frei im Holz wohnte. Der uralte Schoßbachwald heizte im Winter seine Öfen. An jedem Festtag bezog er ein Wildpret. Sonst wurde ihm auch wohl ein Übriges an Wein, Getreide und ab und zu ein blanker Goldgulden verehrt.

Vor einigen Monaten hatte der Tod seine lange kränkelnde Lebensgefährtin dahingerafft, die Mutter seiner einzigen schon erwachsenen Tochter Jutta. Die Schwester des Dichters Clauß hatte die Erde verlassen, erlöst von einem langen Siechtum. Die bewegten Schicksale ihres Mannes, auch Voglers eigene Natur, ja sogar der etwas befremdlich entwickelte Charakter ihres einzigen Kindes hatten sie eine Dulderin werden lassen. Mit Voglers Sturz und Gefangenschaft in Altenmuhr brach der Rest ihrer Kraft.

Voglers Hauswesen führte schon seit lange seine Tochter. Sie war von den Tagen des Glücks her verwöhnt und litt unter dem Geschick ihres Vaters mehr noch als dieser, dessen äußeres Ebenbild sie darstellte in ihrer hohen, schlanken, magern Gestalt, ihren brennenden schwarzen Augen, in einem scharfen, sarkastischen Lächeln, das ihre Lippen umspielte. Nach dem unruhigen, unter dem äußeren Schein der Kälte doch heißblütigen Temperament Juttas hätte sich der Vater längst gegen den Willen des Markgrafen nach Nürnberg setzen sollen, mitten unter die Feinde des Markgrafen, oder irgendwo anders hin in eine bewegte Welt, die sie von Onolzbach und mehr noch von Bamberg her kannte, wo sie als Kind zu ihrer Ausbildung gelebt hatte – sogar einige Zeit daselbst im Kloster zum Heiligen Grabe, an dessen Spitze neben einer Äbtissin, einer brandenburgischen Prinzessin, die Tochter Schwarzenbergs als Priorin stand, seiner Gattin Kränklichkeit und die Erwägung, daß Onolzbach unter Kasimir, wenn dieser oder seine Brüder anwesend waren, der verwildertste Ort von der Welt war, hatten Vogler, als er noch auf dem Gebirge amtierte, des milden Klimas und der berühmten Bamberger Schulen wegen bestimmt, Mutter und Kind eine Zeitlang in jener damals noch reformationsgeneigten, von Schwarzenberg regierten Bischofsstadt wohnen zu lassen. Durch diesen Aufenthalt seiner Gattin in Bamberg, durch die Übergabe ihres Kindes an den Unterricht im Kloster zum Heiligen Grabe kam Vogler in die Bekanntschaft des hocherleuchteten Ritters von Schwarzenberg. Aber jetzt waren es gerade zwölf Jahre, daß letzterer seine Tochter, damals eine Dreißigerin, nachdem sie zwanzig Jahre im Klarissinnenkloster zugebracht, vom inzwischen zum Regiment gelangten Bischof Weigand von Redwitz zurückverlangte. Barbara ging auf die Schlösser ihres Vaters und nahm die damals zwölfjährige Jutta auf Wunsch der Eltern mit sich. Als dann ihr Vater durch Schwarzenberg so ansehnlich erhöht wurde, zu Onolzbach eine prachtvolle Wohnung erstand, allmählich brandenburgischer Alleinherrscher wurde, folgte Jutta ihrer Mutter, unterließ es aber nicht, ab und zu den Vater auf seinen Reisen zu begleiten, wo sie dann öfters wieder zur Priorin auf Schloß Schwarzenberg zurückkehrte. In einen solchen Aufenthalt Juttas, unfern den schönen, rebenumgrenzten Ufern des Main, fiel der Tod der Priorin Barbara im Jahre l530. Von diesen Reisen mit dem Vater und zumal von Schloß Schwarzenberg kam die zur stattlichen Jungfrau Erblühte zu ihren Eltern an den Hof von Onolzbach zurück. Adlige Sitte, ehrfurchtgebietende Haltung standen ihr wie angeboren, sie erntete die reichsten Huldigungen, war aber wählerisch geworden bis zum Unbedachten. Als sie dann plötzlich den Sturz ihres Vaters erlebte, erkannte sie, was sie versäumt hatte. Anfangs mußte sie mit der Mutter in den Turm von Altenmuhr, wo sie ein Jahr beim Vater vertrauerte, dann begleitete sie ihn, damals zweiundzwanzigjährig, nach Windsheim, wo sie sich seit zwei Jahren im Unmut verzehrte. Hier gab es keine Feste, keine Huldigungen, nicht einmal unter denen, die dem früheren Stand des Vaters einigermaßen ebenbürtig waren; wer sich eben aus diesem Kreise beweiben wollte, glaubte sich an eine so in ihren Ansprüchen Verwöhnte nicht wagen zu dürfen. Vollends hatte sie die Pflege ihrer sozusagen schon seit drei Jahren im Sterben liegenden Mutter zu besorgen.

Anne Mariens, der Schwester des Blutrichters Bernbeck, einer fast schon 30jährigen Jungfrau, Pflege tat ihr selbst wohler als die ihrer Tochter; auch – was sie vollkommen ersah und von Herzen billigte – ihrem Gatten, »Versprich mir, Anna Maria nach mir zum Weibe zu nehmen!« hatte sie zuweilen mit verklärtem Blick gesagt. Jutta, diese Worte hörend, konnte so bitter sein zu bemerken: »Das wird geschehen, auch ohne daß du es ihn heißest!«

Anna Maria Ortlieb hatte der Frau Kanzlerin die Augen zugedrückt, ihr das Sterbehemd angezogen, das stattliche Begräbnis geordnet. Ihr dafür im voraus empfangener Lohn waren die letzten Worte der Sterbenden: »Du versprichst mir's –!« Denn auch Anna Maria fühlte für den Kanzler jenes weibliche Mitleid, das der Liebe nahesteht. Ein Mann von so hohem Ruf und Geist, den sie von seiner Tochter gemeistert sah –! Kein Wunder, daß Vogler Anna Maria nicht mehr entbehren lernte. Er konnte weder die freundliche Ansicht seiner Frau über sie, noch die andere, oft von ihr ausgesprochene Meinung ablehnen, daß ein Umgang mit weichen, weiblichen Wesen für seine Natur unerläßlich sei. Zu den aus solchen Verhältnissen entspringenden Reibungen zwischen Vater und Tochter, zu den Verhandlungen über die Notwendigkeit, Entschlüsse für die Zukunft zu fassen, gesellte sich, um die Mitte des Monats August, ein Anlaß zu Verhandlungen, die einem Entschluß galten, den die Umstände in unverzüglicher Eile zu fassen drängten.

Es war vor acht Tagen gewesen, an einem Sonntag in der Frühe – als Jutta ein seltsames Abenteuer erlebte. Die Glocken der Kilianskirche hatten zum Gottesdienst gerufen; ihr Vater war wegen Unpäßlichkeit daheimgeblieben, sie selbst in ihren Trauerkleidern allein gegangen – wie sie gewohnt war, verspätet, während »der Pöfel«, wie man sich schon damals ausdrückte, seine Sitze bereits in der mächtigen Kirche eingenommen hatte. Jutta pflegte, nach vornehmer Leute Unart, in die Kirche zu kommen, wenn der Gesang der Gemeinde schon begonnen hatte.

Als sie, vor den in der Vorkapelle befindlichen alten Grabsteinen vorüberschreitend, die eine der in den Chor der Kirche führenden Treppen mit rauschender Schleppe am engen, ihre Gestalt vorteilhaft hervorhebenden schwarzen Trauergewand erstiegen hatte, hörte sie sich mit den Worten angerufen:

»Tugendsame Jungfrau, verzeiht doch, ich bitte euch, einen Augenblick –!«

Erschrocken wandte sie sich um.

Aus dem Dunkel der gewölbten Grotte, in der die steinernen Heiligenbilder von den bilderstürmenden Gelüsten der Reformation verschont geblieben waren, unmittelbar hinter dem Denkmal eines Hohenlohe aus dem benachbarten, hier auf manchem festen Schlosse hausenden Grafengeschlecht, trat ein Reitersmann, grüßte ehrerbietig und fuhr, da Jutta rasch übersah, daß die Halle menschenleer war, und deshalb eilends die Stiege vollends hinaufwollte, fort:

»Fürchtet euch doch nicht vor mir, tugendsame Jungfrau Voglerin! Ich habe ein ehrliches Gewerb' an euch, obschon ich mich nicht näher darin verraten kann, sagt aber euerm Vater, dem ehrsamen und wohlbelobten Herrn Kanzler, daß ein Ritter, ein Mächtiger, Angesehener vom Adel, seiner zu sprechen begehrte und solches in ernsten, hochwichtigen, euerm Herrn Vater selbst willkommenen Dingen. Noch verbietet ihm mancherlei Ursach', sich dem Herrn Kanzler schon jetzt zu erkennen zu geben, solches wird aber unfehlbar geschehen, so ihm der Herr Kanzler auch seinerseits in gutem Vertrauen entgegenkommt!«

Mit beklommenem Herzen und wie auf der Flucht, aber kurz entschlossen, sagte Jutta:

»Wo begehrt ihr die Zwiesprache?«

»Nicht hier in der Stadt,« antwortete der Reitersmann. »Ich darf nicht einmal bei euch selbst im Hause vorsprechen. Meines Wissens ist der kaiserliche Blutrichter, Michael Nernbeck, euer Hauswirt und da geht es von Schergen und Spähern bei ihm aus und ein. Nicht, daß ich etwas zu fürchten hätte,« fuhr der Reitersmann fort, um sich blickend, ob noch ein verspäteter Kirchgänger kommen mochte. »Mein Name ist ehrlich. Doch gibt es Umstände genug, die dem Ehrlichsten verbieten können, aller Welt sein Antlitz zu zeigen, wollt mir auch darin willfahren, tugendsame Jungfrau, daß es niemand erfahre, wie ich euch in dieser Sache angetreten. Euerm Vater saget's aber sofort! Jungfrau Voglerin, morgen zwischen elf und zwölf Uhr soll euer Vater auf dem Weg von Lenkersheim nach Wiebelsheim meinen Ritter treffen –«

Jutta gedachte, wie ungern der Vater die Stadt verließ. Nun hörte sie gar eine mit dichtem Wald besetzte Gegend nennen.

»Mein Vater verläßt die Stadt nicht!« sagte sie mit zunehmender Entschlossenheit. Sie hörte verspätete Kirchengänger durch die Halle ins Kirchenschiff treten. Der Reitersmann stieg, um nicht gesehen zu werden, einige Stufen höher und dichter an sie heran.

Über diese Annäherung hätte sie fast um Hilfe gerufen. Nur das Singen in der Kirche verhinderte, daß der erste Ausdruck ihres Schreckens gehört wurde.

»Habt doch kein Mißtrauen, Jungfrau Voglerin!« sprach der Reiter.

»Wer ist euer Herr?« entgegnete sie mit tonloser, doch entschlossener Stimme und die Schleppe ihres Kleides heftig an sich reißend.

»Kein Fürst und kein Bischof, aber ein hochangesehener Ritter im Lande –«

»Sein Name?«

»Euer Vater wird ihn kennen, wenn er meines Herrn ansichtig ist! Wollt ihr aber den Handel erst bedenken, nun so lasse ich euch auch dazu noch Zeit! Seid ihr nicht schon morgen bei Wege – langsam werden wir vom Galgengraben her an den Aischmühlen vorüberreiten – mein Herr geschlossenen Visiers – dann kommt erst Montag in acht Tagen, irre ich nicht, Laurenzi, Überlegt es euch, ob ihr da immer noch mißtrauen solltet. Sonntag in acht Tagen um die gleiche Stunde komme ich wieder! Nochmals! sagt es euerm Vater! Ein Freund, ein Herr vom Adel, wünscht ihn zu sprechen. Getrost soll er kommen. Zwischen elf und zwölf Uhr, wenn nicht morgen, dann in acht Tagen, wo wir freilich dann von Rudolzhofen und Ergersheim her geritten kommen und euern Vater an anderer Stelle erwarten müßten, stellt euch in acht Tagen wieder hier ein, ohne Zeugen, ehrlich und ohne Hinterhalt! Dann sagt mir, ob euer Vater am Montag – vielleicht in den Bannwald bei Ergersheim kommen will und ernste Dinge mit meinem Ritter verhandeln – in aller Güte und Freundschaft, doch, wie ich euch sagte, Jungfrau Voglerin, ohne Zeugen.«

Wieder kamen Spätlinge und eben hörte man den Kantor und Schulrektor Fabricius am Altar die Kollekte intonieren.

Jetzt huschte Jutta schnell, wie bei einem unerlaubten Stelldichein überrascht, die letzten Stufen der Stiege hinauf. Die Heiligkeit des Gottesdienstes rief sie wie gegen ihren Willen.

Auf dem Chor hatten noch einige andere hochangesehene Windsheimer Familien ihren Sitz, vor allen der kaiserliche Blutrichter Michael Bernbeck selbst, der keine Predigt des Stadtpfarrers Altenstetter versäumte. Um ihn saßen seine Familienglieder, auch die Schwägerin Anna Maria. Vor letzterer hätte sich Jutta am wenigsten gern eine Blöße gegeben. Sie nahm atemlos ihren Sessel ein, blickte starr in die Kirche hinunter, tat dann, als wenn sie betete, und vernahm weder etwas vom fortgesetzten Gesang des Kantors noch von Altenstetters Predigt. Immer nur stand ihr der Reitersmann vor Augen. Seine äußere Erscheinung und gewandte Ausdrucksweise ließen annehmen, daß sein Herr den ersten Geschlechtern der Gegend angehörte, wenn anders seine Aussage überhaupt Glauben verdiente. Konnte der angekündigte Fremde nicht auch von einem Fürstenhofe, von Bamberg oder Würzburg oder gar von Onolzbach kommen? Die Vorstellung von einem dem Vater gelegten Hinterhalt wollte in ihren Phantasien, die sich nur Wünschenswertes ausmalten, nicht die Oberhand gewinnen.

Als Jutta ihrem Vater die Begegnung erzählt, geriet dieser in eine Aufregung, die ihm sein sonntägliches Mittagsmahl verdarb.

»Wer kennt die Praktiken,« rief er, »deren diese Fürsten und Adligen fähig sind! Ich bin ein toter Mann und noch wollen sie mich wirklich erst totschlagen! Denn ihrer genug gibt es, die meine Hand auch aus dem Grab noch zu fühlen vermeinen. Es ist freilich wahr, ich hab' auch noch Freunde. Allerdings sind diese im Bezeugen ihrer Gesinnung behutsam. Aber würden sie mir nicht sofort ihre Namen nennen oder sonst ein Zeichen geben, daß nur sie es sind, die mich, ohne beobachtet sein zu wollen, zu sprechen begehren? Das ist vom Markgrafen ein Hinterhalt! von niemand anders! Mindestens von Zeckendorffs Sippe oder dem Buben, dem Bendorf... Himmel, und wenn gar mein grimmigster Feind aus Italien zurück wäre, Markgraf Fritz, der Würzburger Dompfaff! Das ist's! Heute reiten sie auf Würzburg und in acht Tagen kommen sie von dort zurück. Die Ortschaften, die genannten, sagen es ja deutlich – es ist der brandenburgische Fritz!«

Jutta verwies ihm seinen Kleinmut, folgte aber mit Teilnahme den Irrgängen seiner grübelnden Phantasie und – seines geängsteten Gewissens.

»An Zigeunern, an Ungarn und Halbtürken fehlt es niemals in Onolzbach!« fuhr der Rat fort. »Die bringen jeden um für eine Kanne Bier! Vom Gebirg braucht Bendorf nur einen Böhmen zu rufen, mich einen Ketzer zu schelten und mein Leben ist hin –! Gelt, das trifft sich gut? Hab' ich nun selbst den Windsheimern hier vor Jahren die Gerichtsbarkeit auf den Dörfern nehmen helfen und nicht bloß Malefiz und Ableibung, sondern alles, was auf die Markungen Bezug hat, sei's in Wasser, Luft, Feuer oder Erde, dem markgräflichen Landgericht zu Langenzenn zugewiesen –! Jetzt zu meinem eigenen Schaden, da Windsheim nur noch für das, was innerhalb seiner eigenen Tore geschieht, einen Galgen hat. Am Galgengraben? Ja, daß ich ein Narr wäre!«

Jutta gestand zu, daß erst jedenfalls der nächste Montag Laurenzi zu dieser seltsamen Zwiesprache und die Wiederkehr des Boten zur Fassung eines Entschlusses abgewartet werden müßte.

Vogler ging auf Erkundigungen aus. An allen Toren der Stadt, in allen Herbergen, fragte er nach einem Reiter des Aussehens, wie ihn die Tochter geschildert.

Niemand wußte Auskunft zu geben. Zu Roß war um die Kirchenstunde weder jemand aus- noch eingeritten. Ein bewaffneter Fußgänger konnte unter den vielen, die von den Dörfern zur Predigt in die Stadtkirche gekommen, allerdings unbeachtet geblieben sein. Trug doch in jener Zeit jeder, der nur eine Stunde Wegs zurückzulegen hatte, zu seinem Schutz eine Waffe und sollte es nur ein durch ein geschärftes Eisen zum Spieß verwandelter Stab sein.

Zurückgekehrt hatte der Kanzler bei seiner Tochter die Schwägerin seines Hauswirts, Anna Maria, vorgefunden, den Anlaß des zwischen ihm und Jutta immer mehr zunehmenden Zwiespalts. Anna Maria war mittlerer Größe, nicht schön, ihre Jugendfrische war verblüht. Aber ihr sanfter, weichherziger Sinn, ihre leise, nie aufgeregte und doch bestimmte Sprache tat ihm wohl. Schon im elterlichen Hause in Rothenburg war sie zurückgesetzt gewesen gegen ihre jüngere Schwester, die von Natur lebhafter und vorteilhaft gebildet war. Hatte Jutta oft mit bitterer Schärfe zum Vater gesagt: »Wenn die Mutter tot ist, will ich deinem Glück nicht im Wege stehen! Wird dir auch in anderer Art mehr Nutzen bringen –!« so konnte dies kränkende Wort auch heißen: Anna Maria wird deine zweite Frau werden, nicht, weil sie gut und sanft ist und dir schon jetzt an den Augen deine Wünsche absieht, sei's auch nur, um der armen Mutter ihre Sorgen zu erleichtern, sondern auch um deswillen, weil ihr der Schwager ein kleines Vermögen bewahrt für den Fall, daß sie eine Ehe schließt, die dem kaiserlichen Blutrichter genehm ist! Denn der Vater war nicht abgeneigt, Anna Maria zur Vertrauten der abenteuerlichen Einladung zu machen.

»Daß es ihre Schwester, der Blutrichter, die ganze Stadt erfährt?« fagte Jutta voll Zorn. »Ich, ich werde dich an den Galgengraben begleiten! Dann mögen die Onolzbacher Ungarn und Türken kommen und meine Person auf ewige Zeit in die Sklaverei führen! Mir käme das schon recht.«

Der Kanzler lachte bitter und seufzte und faltete die Hände.

Nun folgten acht Tage der größten Erwartung, bald auf Glück, bald auf Unglück. Szenen des häuslichen Zerwürfnisses fielen seltener vor. Furcht oder Hoffnung bindet die Menschen. Heute endlich, am Sonntag vor Laurenzi, sollte sich's zeigen, ob sich die geheimnisvolle Ladung wiederholen würde.

Gegen elf Uhr kam Jutta aus der Kirche zurück in einer Erregung, die sich noch gesteigert hatte.

Nunmehr stand ihr unbedingt fest, der Vater mußte es wagen, morgen der erneuerten Aufforderung zu folgen.

Dasselbe Erlebnis hatte sie gehabt wie vor acht Tagen, wieder war der Reitersmann erschienen, staubbedeckt, gebräunter noch als vor acht Tagen, erschöpft wie von einem noch längeren Ritt.

»Unfehlbar,« berichtete sie atemlos, »waren sie vor acht Tagen auf dem Ausritt. Jetzt sind sie auf der Heimkehr begriffen. Des Reiters Herr ist entweder in der Nähe oder er folgt ihm auf dem Fuße. Jetzt, wo er vielleicht an irgendeinem in diesen acht Tagen besuchten Orte gewesen – ich denke in Rothenburg oder Mergentheim, wenn nicht in Bamberg oder Würzburg – jetzt scheint sein Anliegen an euch erst recht ein dringliches. Auf mein wiederholtes Begehren nach dem Namen seines Herrn, auf meine mit offener Drohung gegebene Erklärung, ihr würdet nicht ohne Begleitung kommen, erwiderte der Bote lachend: »Ich weiß! Er kommt allein! So aber ihr, tugendsame Jungfrau, den Vater begleiten wolltet, würde das meinem Ritter baß gefallen! Er liebt die Kurzweil mit dem schönen Frauenzimmer! Sonst aber würde, dessen versichert er euch, der Hinterhalt, den aufzuspüren wir die Nase haben, ihn bewegen, seinem Roß die Sporen zu geben und mit geschlossenem Visier auf- und davonzureiten –«

Es konnte nunmehr feststehen, daß es sich um eine geheimnisvolle Begebenheit handelte, für die man des Kanzlers Teilnahme, mindestens seinen Rat begehrte. Er sah die Welt vor sich wie im Aufruhr. Jetzt war er hellsehend geworden. Er kam auf den Gedanken, es möchte sich wohl um eine Erbeinigung zwischen den so zahlreichen Brüdern des Markgrafen handeln, vielleicht traute selbst sein Herzog in Königsberg nicht mehr den Gelegenheiten, durch die sie sich seither verständigt hatten. Oder der fränkische Kreis bezweckte etwas! »Der Ritter erwartet uns im Bannwald auf dem Wege nach Lenkersheim in der Richtung auf Neustadt!« Neustadt, wo der junge Albrecht, Kasimirs jetzt vierzehnjähriger Sohn, öfters zur Jagd verweilte, brachte ihn gar auf den Gedanken: »Oder läge der Hase da im Kohl? Oft schon hat der Kaiser den Markgrafen ersucht, ihm seinen Neffen zur Erziehung zu übergeben. Der Markgraf hat des Kaisers Begehren abgeschlagen, sollte man den künftigen Erben des Markgrafentums mit Gewalt aufheben und zum Kaiser entführen wollen –?«... Der Gedanke an eine nicht unmögliche gewaltsame Entführung des von Georg, wie man sagte, gehaßten und in seiner Erziehung vernachlässigten Neffen führte ihn auf den Prinzenraub des Kunz von Kauffungen, der einst in der Nähe feiner Heimat stattgefunden hatte, zuletzt auf den verschollenen Grafen Uladislaus Jlajos, für dessen Erhaltung durch seine Hand so manche Beisteuer aus ungarischen, und fehlten diese, aus markgräflichen Mitteln geflossen war.

Bis zum Mittagsmahl beim Blutrichter blieb noch eine halbe Stunde Zeit, um eine Erkundigung im Gasthaus zum Strauß einzuziehen, der ersten, der sogenannten »Fürstenherberge« des Ortes. Auch dies Haus gehörte den reichen Mönchen von Heilsbronn. Ihr Hof, ihr Absteigequartier war's, wenn sie Windsheim besuchten, ja an eines der Zimmer knüpfte sich ein Asylrecht für Verbrecher, wie bei den Mönchen vom Augsburger Sankt-Ulrich an einen ihrer Altäre. Man erfuhr, daß soeben zu Roß, von zwei bewaffneten Knechten begleitet, eine Edelfrau angekommen war, die sofort den Herrn Kanzler zu sprechen begehrt hatte. Eben noch wäre die Dame beschäftigt, hieß es, sich vom staub der Landstraße zu reinigen.

Die Angekommene war die Freifrau Argula von Grumbach, die nach einem wunderbaren, mannigfach geprüften Leben gegenwärtig auf einem der vielen Schlösser und Höfe des mächtigen fränkischen Geschlechts der Grumbache zu Zeilitzheim am diesseitigen Ufer des Mains, an den nördlichen Abhängen des Steigerwaldes wohnte. Ihre beiden Knechte gehörten dem Vornehmsten der Träger des Grumbachschen Namens, Wilhelm von Grumbach, an und auf die Erkundigung des Knechtes im Strauß, ob sie nicht einem Reiter, dessen Aussehen er ihnen beschrieb, begegnet seien und wüßten, wem dieser dienstbar wäre, hätten sie in dem Bezeichneten ebenfalls ihren eigenen Dienstverwandten erkannt, einen Knecht Wilhelm von Grumbachs, Christoph Kretzer geheißen.

War nun wohl gar der auf morgen im Bannwald zu Erwartende Wilhelm von Grumbach, der mächtige Herr zu Rimpar und Burggrumbach bei Würzburg, so durften sich Vater und Tochter zu gleicher Zeit von frohem Erstaunen ergriffen fühlen. Die Tochter – weil in Frankens gesamter Ritterschaft so hell kein Name glänzte, kein Geschlecht den Landen vom Beginn des Spessart bis zu den Ausläufen des Fichtelgebirges so viel Marschälle, Statthalter, sogar Herzöge und Bischöfe gegeben hatte, als die Ahnen dieses Wilhelm von Grumbach, von dem bekannt war, daß ebenso seine stolzen Burgen aus den Wäldern um Würzburg ragten, wie andere von den Wellen des windungsreichen Main bespült wurden, andere von dem rauhen Föhn des Rhöngebirges bestrichen. Der Vater hinwiederum – weil alle Welt erstaunte, daß eben dieser reichbegüterte junge Ritter, der in Würzburg die rechte Hand des Stifts, im Norden seiner Besitzungen ein fast fürstlicher Nachbar gegen die Armut der Grafen von Henneberg war, vor kurzem ein Amt beim Markgrafen Georg von Brandenburg angenommen hatte. War dies deshalb geschehen, hatte oft der Kanzler gegrübelt, weil Wilhelm von Grumbach in Cadolzburg, wo er im alten, noch von den Nürnberger Burggrafen erbauten Hohenzollernschloß seit einigen Monaten seine Wohnung als markgräflicher Oberamtmann aufgeschlagen hatte, der fröhlichen und in den Welthändeln maßgebenden Reichsstadt Nürnberg näher wohnen durfte? Oder hatte ihn von Würzburg die allzu geräuschvolle Lust am Dasein vertrieben, als der seine Gattin, eine Geborene von Hutten, aufgewachsen unter den Angehörigen der geistlichen Höfe von Bamberg und Würzburg, mehr, wie man erzählte, huldigen sollte, als ihm selbst genehm war? Jedenfalls, das war klar, konnte der Statthalter von Cadolzburg, einer der ersten Verwalter des markgräflichen Ansehens, mit dem gestürzten, mißtrauisch überwachten Kanzler nur in so vertraulicher stille Zwiesprache halten, wie sein Knecht begehrt hatte, falls dieser in der Tat der Bezeichnete war.

Freilich hätte aber auch ein Erstlingsdienst, den der neue Oberamtmann von Cadolzburg dem Markgrafen gewidmet, der sein können, den unruhigen Ränkeschmied in dem nur auf einige Meilen von ihm entfernten Windsheim aufzuheben.

Gegen letztere Annahme sprach am entschiedensten die gleichzeitig gemeldete Ankunft einer Frau, die nur in Verbindung mit Großem, Edlem, die Herzen und die Geister Bewegenden gedacht werden konnte. Argula von Grumbach, ihrerseits die Nichte eines ebenfalls mit schmählichem Undank belohnten, zu Landshut in Bayern sogar öffentlich hingerichteten Staatskanzlers, eine Verbannte, eine Märtyrin des evangelischen Glaubens, eine persönliche Freundin Luthers, wie konnte sie zum Kanzler kommen und etwas anderes an ihn bringen oder ihm ankündigen als Gutes, Reines, Gerechtes?

Jutta dachte jetzt nur an den würdigen Empfang des Besuchs und eilte zum Vater, den sie in freudiger Erregung über die an ihn ergangene Meldung anzutreffen hoffte.

In der Tat war Georg Vogler durch die ihm gewordene Meldung in einen Zustand der freudigsten Spannung versetzt.

Wenige Augenblicke noch – und zu einer Stunde, wo vielleicht in weiter Ferne zu Venedig oder Padua an den Ufern der Brenta Ottheinrich Stauff über seine Reiseerlebnisse nach Deutschland an seine »geistliche Mutter«, wie er diese Freifrau von Grumbach nannte, schrieb, kam diese selbst über den Marktplatz von Windsheim langsam und gelassen dahergeschritten, vom freudestrahlenden Bernbeck begleitet. Erwartungsvoll schaute sie nach dem Eckhause, der alten kaiserlichen Gerichtspfalz, aus, wo sie bereits von dem, den sie aufzusuchen kam, und von dessen Tochter, über die Brüstung der am Flügel des Hauses entlang gehenden Galerie ehrfurchtsvoll begrüßt wurde.

Die würdige, jetzt vierundvierzig Jahre zählende Frau war vom Kopf bis zu den Füßen in schwarz gekleidet.


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