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Auf den ersten Gebirgshöhen hinter Conegliano war es, wo die junge Frau vor Erschöpfung aus dem Sattel glitt und noch glücklich von dem rasch hinzusprengenden Ottheinrich in seinen Armen aufgefangen wurde.
Eben erst hatte man auf einer der für die Ordinari eingerichteten Stationen die Rosse gewechselt, auch Apollonia hatte statt ihres wilden Maultiers einen ruhigeren Paßgänger erhalten; so gönnte man dem durch die Ohnmacht veranlaßten Aufenthalt auf offener Straße ausnahmsweise eine kurze Rast.
Als die Leidende wieder zum Bewußtsein gekommen war, widersetzte sie sich jedem Ansinnen, nach Conegliano umzukehren und die Nacht hindurch dort auszuruhen. Sie wüßte wohl, sagte sie, daß sie auf diese schnelle und ihre Kräfte übersteigende Art nicht bis nach Augsburg reisen könnte, aber sie hätte wenigstens die Absicht, soweit einen Vorsprung zu gewinnen, als sie sicher wäre, die ersten deutschen Laute zu vernehmen. So wollte sie wenigstens bis ins Pustertal.
Weiter aber, als bis zu den Felsschlünden des Serpentintals, kam sie trotz aller Anstrengungen nicht. Hier brauchte Hans Pfister eine grobe List. Ehe sie sich's versah, ritt er mit seinen Begleitern im raschesten Trab allein voraus und ließ die Frauen im Schutz des jungen Mannes zurück, der sich zuvor mit dem Plan, auf diese Art die junge Frau an das Maß ihrer Kräfte zu erinnern, einverstanden erklärt hatte. Er hatte es auf die Gefahr hin getan, nunmehr ohne den Schutz der Reisigen für sich und die Frauen, auch für die Schätze, die er bei sich trug, Räubern und Mördern zu verfallen.
Als man den Versuch machte, weiterzureisen, ging es mit unerwarteter Bequemlichkeit. Starke Schultern zuverlässiger Männer trugen die Frauen in Sänften. An anderen Stellen wurde eine zweisitzige Tragbahre zwischen einem vorangehenden und einem nachfolgenden Lastesel befestigt. Auf ähnliche Art wurde die reißende Flut des Piave durchschritten, so die auf hohen Dolomitfelsen ragende deutsche Grenzfeste Beutelstein erreicht, dann das mit grünen Triften lieblich eingerahmte Tat von Ampezzo zurückgelegt.
Bei Toblach vernahmen die Reisenden die ersten deutschen Laute. Von da an gab es die Rienz hinunter einen lieblichen Weg zwischen den karnischen und rhätischen Alpen bis zur bischöflichen Residenzstadt Brixen.
In diesen Hirtentälern kamen die Bewohner den Reisenden mit Freundlichkeit entgegen und auch jetzt erst, von Brixen aus, begann zur Linken auf Trient, zur Rechten auf Innsbruck zu die große Heerstraße der Landsknechte, Pilger, Bettler und Zigeuner.
Bis Innsbruck und zur Ehrenberger Klause konnte die Weiterreise mit Karawanen von Kaufmannsgütern stattfinden. Diesen wurden starke Geleite von Reitern des Bischofs von Brixen mitgegeben. Auch noch jetzt standen die Stadttore, Burgen, Engpässe, Klausen in Wehr und Waffen. Die Brennerstraße war die belebteste aller Kriegsstraßen Italiens. Bis jetzt kamen noch nicht die Schrecken Tirols, geschlagene Söldnerhaufen, aus Italien oder Deutschland zurück, die aus Wut und Verzweiflung selbst in Freundesland sengten und mordeten. Aber auch die gegenwärtig neu dem bedrängten Kaiser zu Hilfe kommende flügge Brut aus dem großen Landsknechtneste Deutschland mußte beaufsichtigt, mit Zwang durchs Land geleitet werden. Volkweise kamen die in den erzherzoglichen und bayerischen Landen Neugeworbenen den Reisenden entgegen.
Obgleich Ottheinrich noch immer von Frau Regina wenig andere Worte hörte, als Versicherungen über die Zuverlässigkeit ihres Befindens und die Beteuerungen ihres Dankes, so kam doch inzwischen ab und zu von jener gewaltigen Last, die ihr Innerstes drückte, einiges zum Vorschein.
Ihren sich aus tiefster Brust ringenden Seufzern folgte dann ein bedeutungsvoll auszulegendes Klagewort. So an einem Abend auf dem Niederweg von der einsamen Brennerhöhe, wo sich in einigen kleinen, teilweise schon mit Eis bedeckten Seen der stille Gottesfriede des Firmaments gespiegelt hatte. »Wie nahe waren wir den Sternen! Bald werde ich dort sein! Sähe aber doch hier auf Erden gern noch einmal den Vater und meiner Schwestern einige und meine Freundin Anna Stadion–! Wie oft bin ich mit ihr im Traum wieder in Sankt-Katharinen gewesen –!« Und nach einer weile setzte sie hinzu: »Ist es wirklich an dem, daß Anna unsern Johannes heiraten und noch meine Schwägerin werden soll –?«
Als Ottheinrich auf diese Frage den Bescheid schuldig bleiben mußte und sich auf seine zum Familienleben des kaiserlichen Rats nur entfernte Stellung bezog, kamen Ausbrüche der Freude über die Zeichen der immer näher rückenden Heimat.
Allzu große Vertraulichkeit mußte sich sogar durch die Rücksichtnahme auf Apollonias Eifersucht verbieten. Diese kam immer mehr zum Vorschein. Das Gute daran wurde ihre Mitteilungslust. Bei den Ausbrüchen ihrer Neigung für den jungen Begleiter machte Jungfrau Katzmayrin manche Mitteilung über ihre Herrin, die ihm willkommen sein konnte.
So erzählte sie, daß es sie im Grunde wundernehme, warum ihre Herrin nicht schon früher zu dem Entschluß gekommen wäre, Venedig zu entfliehen. Sie hätte doch ein Leben geführt wie eine Klosterfrau. Von allen Gastereien, allen Ergötzlichkeiten der schönen Lagunenstadt hätte sie sich ausschließen müssen. Den näheren Grund davon verriet Apollonia allmählich, Kummer um die Vernachlässigung durch ihren Gatten. Anfangs hätte Herr Antonio die Andachten vorgeschützt, die ihn ein Herzensdrang getrieben, seinem Schutzpatron, dem heiligen Antonius zu Padua, darzubringen. Von Padua wäre aber der fromme Mann wochenlang nicht wiedergekehrt. Oft hätte es auch geheißen, er wäre auf die Wasserentenjagd nach Malamocco gegangen, und nicht zwei Straßen weiter hätte man ihn in Venedig gesehen, zumal unter dem Schutze der Masken, die in Venedig selbst außer der Karnevalszeit im Gebrauch sein durften. Die in jener Zeit bis zum Unsinnigen verbreitete Leidenschaft des Spiels schien die Ursache jener Szenen gewesen zu sein, die Apollonia am Schlüsselloch und hinter den Wänden belauscht haben wollte. Oft wäre Herr Antoni erst lange nach Mitternacht nach Hause gekommen und hätte dann ruhelos das Haus durchwandert, laut geredet und seiner leidenden Gattin über Dinge Vorwürfe gemacht, die doch wohl nur in seinem eigenen erhitzten Gehirn vorhanden gewesen wären. Er wäre dann auch wohl krank geworden und hätte an seiner Frau die Geduld einer Heiligen erprobt. Sogar mit den Gauklerinnen hätte er verkehrt, die in Venedig ihre Künste in Schaubuden zeigen. Dann wieder seines ehrbaren Ursprungs eingedenk, hätte er Gastereien angesagt, wozu alle Künstler Venedigs und Paduas eingeladen wurden. Bei solchem Anlaß wäre in der Regel vorgekommen, daß während er selbst schon wie ein Pfau geschmückt den Gästen in scherzender Heiterkeit entgegengehüpft wäre, Frau Regina noch nicht die Tränenströme hätte dämmen können, die sein heftiger, liebloser Tadel über ihre Anordnungen ihren Augen entlockt, und doch hätte sie die Kraft finden müssen, sich in gefallsamster Weise zu schmücken.
Eine Begebenheit noch flüsterte Apollonia dem jungen Beschützer – es war in einer Herberge vor Brixen – ins Ohr, nicht ohne sich dabei vorsichtig umzusehen. Sie betraf einen Mordanfall, der am hellichten Tage unter den Prokuratien des San-Marco-Platzes auf ihren Herrn beabsichtigt gewesen sein sollte. Zwei junge Männer, erzählte Apollonia, hatten sich unter das Gewühl der Kaufleute begeben, die sich, an jener Stelle mittags zum Handel zu versammeln pflegen. Dort hätten sie plötzlich ausgerufen: »Da ist der Elende!« hätten mit gezückten Messern die Reihen der Menschen durchbrochen und offenbar an Antonius Paumgartner wollen, der wenigstens der einzige gewesen wäre, der sich, nach Aussage eines in der Nähe stehenden Facchino des Deutschen Hauses, wie der Blitz aus dem Gewühl der von ihrem Gewinn zerstreuten und sich erst allmählich über den Vorfall sammelnden Kaufleute geflüchtet hätte. Die wilden jungen Männer wären von den Sbirren festgenommen worden. Niemand hätte den wutschäumenden Auskunft geben können, wer die Person gewesen, auf die sie mit gezückten Messern hätten losgehen wollen. Seltsamerweise, sie selbst hatten es noch weniger sagen können, vielleicht auch nur nicht sagen wollen. Jener Facchino des Deutschen Hauses aber hatte die Entfernung des Herrn Antonius bemerkt und darüber seine Verwunderung um so mehr ausgeplaudert, als der Betreffende nach dem Vorfall aus Venedig verschwand. In einem Lande, wo Selbsthilfe mehr oder weniger erlaubt ist, blieben die jungen Steinmetzen straflos und wurden lediglich nach Padua zurückverwiesen, von wo sie gekommen.
Ottheinrich entgegnete mit maßvoller Bedächtigkeit, daß sich bei einem Gedränge, wo, wie auf der Börse von Venedig, oft mehr als tausend Menschen beisammenstünden, jene beiden Steinmetzen leicht auch ebenso wie der Facchino in der Person des Beteiligten hätten irren können, ja es wäre sogar die Flucht vor zwei wilden, mit blanken Messern anstürmenden jungen Männern an sich schon eine natürlich zu erklärende Regung bei jedermann, nicht bloß bei Herrn Antoni.
Bei alledem fiel es Ottheinrich auf, daß er in Padua von einer Gesellschaft von Steinmetzen, Bildhauern und Architekten hatte reden hören, die sich erst vor wenig Wochen auf die Wanderschaft nach Deutschland begeben hatten. Unter ihnen hätte sich, hieß es, die Schwester zweier Steinmetzen befunden, die eine geschickte Bildhauerin zu werden versprach. Sie hieß Vittoria Ferrabosco. Er hatte diese Tatsache in Erfahrung gebracht allerdings ohne irgend einen Umstand, der sich mit Herrn Antoni Paumgartner und dem Venediger Mordanfall in Verbindung bringen ließ.
Brixen selbst weckte bei Ottheinrich Gedanken, die sich an jene nach Deutschland gezogene Künstlergenossenschaft, auch an seine vom Rat erhaltenen geheimen Aufträge, anschließen durften. In Betracht der letzteren hatte er seinen alten Glauben an eine unmittelbare Führung seines Lebens durch Gottes besondere Huld neubestärkt erhalten. Denn die Dinge und Menschen fand er vollkommen so, wie er sie suchte. Es hätte nichts gefehlt, als daß er den falschen ungarischen Königssohn, den untergeschobenen Grafen Uladislaus Ilajos, wohl gar selbst noch entdeckt hätte.
Heller leuchtete nicht der erste Morgenstrahl der Sonne, der auf die Kirchen und Paläste Venedigs fällt, als sein Auge beim Anblick zweier allerdings mühsam gesuchten Gräber erglänzte, auf deren einem zu lesen stand: Beatrix Pisani, Comitessa de Ilajos, auf dem andern: Udalislaus, Comes de Ilajos.
Beide Hügel bedeckten zwei Menschen, über deren wirklich erfolgtes Abscheiden aus diesem Leben ihm endlich auch nach langem Suchen die Kirchenbücher von Maria del Carmine die volle Beruhigung gewährten.
Ferner bestätigten seine eingezogenen Erkundigungen, daß die schöne, aus altem Venetianer Adel entstammte Beatrice Pisani allerdings einst zu Ofen das Herz des jungen Ungarkönigs Ludwig vor seiner Vermählung mit Maria von Österreich gewonnen hatte, daß sie eine kurze Zeit hindurch Gräfin von Ilajos genannt wurde, dann aber die äußersten Schrecken ihres Falls und die bitterste Armut erlebt hatte, bis sie von einer Partei in Ungarn, die für den Augenblick, wo König Johann Zapolya kinderlos sterben sollte, durchaus keine Aussöhnung mit des Kaisers und Marias Bruder König Ferdinand anstrebte, sondern versuchen wollte, Ungarn einen nationalen König zu erhalten, in Venedig aus ihrer Verborgenheit hervorgezogen wurde, ansehnliche Mittel erhielt, um für eine Zeit steigender Verwirrung Ludwigs natürlichen Sohn zu erziehen, und sich daraufhin einer Stellung erfreute, die allgemein geachtet gewesen schien. In einem Jahrhundert, wo die natürlichen Söhne und Töchter der Kaiser, der Könige von Frankreich, sogar der Päpste Statthalter und Statthalterinnen, Regenten und Regentinnen wurden, konnte in Venedig der natürliche Sohn eines Ungarkönigs nur der höchsten Ehren gewärtig sein. Denn Venedig war Österreichs nimmer ruhender Gegner und vor allen Magnaten, die sich Hoffnungen machten, Zapolya zu folgen, mußte ein Sohn des vielgeliebten und vielbeweinten Enkels des Matthias Corvinus jedenfalls den Vorrang gewinnen.
Aber Mutter und Sohn starben. Das Begräbnis erfolgte nur deshalb nicht mit fürstlichen Ehren, weil gerade die Pest in Venedig herrschte und die Menschen scharenweise hinraffte. Alles das konnte Ottheinrich mit Siegeln und Pergamenten belegen. Sein Prinzipal war der höchsten Anerkennung in Brüssel und Wien gewiß. Er hatte seinem Diener einen Kredit eröffnet, so hoch er gehen wollte, um die Beweise zu liefern, mit denen er die Königin Maria beruhigen und erfreuen, die Gunst Ferdinands und durch diese die gesteigerte Gnade des Kaisers gewinnen wollte.
Ottheinrichs Forschungen waren noch von einem anderen Erfolg gekrönt. Er hatte in venetianischen Wechselstuben, bei den Armeniern und Juden erfahren, daß die an Gräfin Ilajos gesandten Geldsummen vorzugsweise aus Konstantinopel und Ungarn kamen.
In Venedig waren die Dinge, die Hans Paumgartner in seinem geheimen Kabinett nur dunkel hatte erraten können, zu Ottheinrichs Überraschung allgemein bekannt. Viele wußten dort, daß Gräfin Ilajos den Mittelpunkt der Habsburgischen Bestrebungen bildete und sogar vom Dogen gehalten wurde, obschon sich deutsche Ketzer in ihrer Nähe befanden. Letztere Verbindung kam von den Bergwerksarbeitern her. Den Fuggern bereitete der lutherische Geist der größtenteils aus dem deutschen Norden, dem Erzgebirge, dem Harz und Fichtelgebirge stammenden Hüttenleute den größten Verdruß. Die Fortschritte, die von Tag zu Tag im Bergwerkswesen gemacht wurden, bedingten ein stetes Zuströmen neuer Kräfte aus Deutschland.
Schon in Ungarn war Beatrice Pisani mit einem deutschen Bergsteiger bekannt gewesen, der eine Ungarin geheiratet hatte. Eine Tochter dieser Ehe wurde ihre Gespielin, Walpurga Neupert, eine hohe schlanke Gestalt von unheimlichem und schwer zu zähmendem Charakter. Als die schöne Italienerin das Auge jenes Knaben auf sich gezogen hatte, der sich König der Ungarn nannte, wurde Walpurga ihre treueste Dienerin, sie wurde die Retterin ihres Lebens, als mit Ludwigs Vermählung und vollends mit dem Einfall der Türken die junge Mutter ins Elend geriet. Beatrice wurde mit ihrem Vater nach Venedig verschlagen, Walpurga nach Tirol, wo Hans Neupert in den Fuggerschen Bergwerken fortarbeitete. Der Zufall wollte es, daß sie nach einigen Jahren der Trennung sich wiederfanden. Unter welchen Umständen dies geschah und in welchem Zusammenhang mit den Dingen, denen Ottheinrich auf Wunsch seines Prinzipals nachzuforschen hatte, erfuhr er in Padua, nachdem er dort die seiner Aufsicht empfohlenen Knaben dem Magister Muschler übergeben hatte und ihm noch einige Zeit geblieben war, seinen anderwärtigen Aufträgen nachzugehen.
Als er eines Abends in seiner Herberge – sie hieß zum heiligen Markus – die kühle Abendluft auf der Altane des Hauses genießen wollte, gesellte sich ihm die geschwätzige, auf seine Herkunft und seine Paduaner Geschäfte neugierige Patrona des Hauses zu und suchte ihn durch Plaudereien zu unterhalten. Vor vielen Jahren, erzählte sie, wäre in einem ihrer Zimmer ein Mord vorgekommen. Ottheinrich erfuhr, daß es gerade sein Nachbarzimmer war. »Ich war ja damals,« fuhr die Patrona fort und hob etwas gefallsüchtig ihr Haupt in die Höhe, um die zerstörende Macht von, wie sich bald herausstellte, nur acht Jahren zu widerlegen, »noch ein ganz junges Kücklein. Ich hatte mich eben mit meinem Giuseppe verheiratet, als ein Mann bei uns einkehrte, der ein Aussehen hatte, als hätte er eine Reise von hundert Meilen zu Fuß gemacht. Um seinen Leib trug er eine schwere Tasche voller Schriften, die am Gürtel befestigt war, auch ein Weidmesser mit silbernem Griff in einem Heft von Leder, überdies ein mächtig langes Schwert wie ein Kriegsmann. Über Mailand kam er aus den Bergen, dennoch kannte der Mann um Padua Weg und Steg. Und manchmal, wenn ich ihn näher betrachtete, war's mir, als müßte ich ihn schon öfter gesehen haben, dann aber in ganz anderer Tracht ja geradezu wie einen Herzog, mindestens einen vornehmen Ritter. Dennoch schüttelte er, wenn ich ihn darum befragte, lächelnd den Kopf und verließ nicht das Haus. Ganz geläufig redete er in unserer Sprache. Doch war's ein Landsmann von euch, ein Allemanno!
»Saßen da gerade in der Wirtsstube zwei spanische Landsknechte. Die sahen sich den Mann, der vom Zimmer neben euch heruntergekommen war, am Wirtstisch groß und lange an, flüsterten miteinander, taten heimlich, schlichen treppauf treppab – und siehe! am folgenden Morgen hatten sie den Fremden in meinem besten Bett ermordet. Erschreckt aber darum nicht, Signore! Ich würde nicht davon sprechen, wenn nicht die Verruchten hinterher beinahe eine Ehrenkette um den Hals bekommen hätten für ihre Tat, ich aber und mein Giuseppe beinahe die Strafe, die ihnen gebührt hätte. Ja, Signore, manchmal denk' ich doch, das Ende der Welt sei nahe. Der, dem sie den Schlaf zum ewigen gemacht hatten, sollte in Trient oder Brixen an den Galgen kommen, sagte der Podesta, tot oder lebendig – während wieder der Podesta und die Signoria von Venedig gegen uns und die Spanier eine Untersuchung anstellten, als wäre der Ermordete ein Fürst gewesen. Die Mörder waren in die Berge entkommen, wo Beutel voll Gold ihrer gewartet haben sollen.«
Dann hörte er zu seinem Erstaunen, daß jenes unglückliche Opfer der beiden Spanier niemand anders gewesen war, als der von Österreich und den Tiroler Bischöfen gleich eifrig verfolgte Anführer der Tiroler Bauern, Michael Gaismayr, über dessen Persönlichkeit er sich in Venedig mannigfach unterrichtet hatte. Eben dieses Gaismayrs Gattin war jene Walpurga Neupert, die Freundin und Dienerin der Gräfin Ilajos. Durch die Schicksale ihres Mannes war sie nach Venedig verschlagen und wieder mit ihrer Freundin vereinigt worden.
Hier in Brixen konnte sich Ottheinrich in lebhafter und wie gegenwärtiger Anschauung alles dessen wieder erinnern, was ihm in Venedig über Gaismayr und dessen Umgebung erzählt worden war. Gerade dort, hinter den vergitterten Fenstern des bischöflichen Schlosses, hatte dieser kühne Mann, eines Sterzinger Bergknappen Sohn, einst in Diensten des Bischofs Sperantius als Schreiber, zuletzt als Oberzöllner gestanden. Der für seinen Stand ausnehmend gebildete und wie alle Tiroler waffentüchtige junge Mann hatte hier unter den Akten der Gerichtsstuben und der Pfändungsämter den rechtlosen Zustand des Volkes kennen gelernt, dann den Brand des Aufruhrs, der sich aus Schwaben, Franken, Thüringen auch südwärts, erst ins Allgäu, weiterhin ins Land Salzburg und Tirol und bis Ungarn hinein wälzte, mit Entschlossenheit schüren helfen und namentlich mit der Feder, die noch gewandter von ihm geführt wurde als das Schwert, für die Neuerung in einer Weise gewirkt, die vor seinen Verstandesgaben wie vor seinem Mut Bewunderung einflößen darf. Gaismayr war es, der 1525 Brixen zum Mittelpunkt der Bewegung machte. Er ordnete die Aufstände zur Rechten im Salzburgischen, zur Linken im Gebiet der Grafen von Werdenberg bis hinüber nach Füssen und von dort ins Gebiet des Augsburger Bischofs an. Sengend und brennend, wie Krieg damals nicht anders geführt wurde, zogen die Bergleute von Hall und Schwatz in hellen Haufen nach Kufstein, an die Ehrenberger Klause, nach Hohenschwangau. In wilder Leidenschaft, verblendet durch den Sieg und eine unklare, ziellose Zukunft, die bewußt nur und mit wiedertäuferischen Vorstellungen vom tausendjährigen Reich in den schwärmerischen Köpfen einiger Anführer lebte, raste die Menge mit Mord und Brand dahin. Erschreckt durch die begangenen Greuel und unvermögend sie zu hemmen, verließ er die Aufrührer und stellte sich der Regierung in Innsbruck als freiwilliger Gefangener. Die erzherzoglichen Behörden waren nicht abgeneigt, ihm Gnade zu schenken. Die Trienter und Brixener Bischöfe verlangten jedoch vom Innsbrucker Gericht den Tod des reuigen Anführers. Gaismayr erkannte, daß seine Hoffnung auf Gnade und ein gerechtes Gericht zwischen Herrschern und Untertanen vergeblich war; er erbrach mit Hilfe der mutigen Tochter eines Bergknappen sein Gefängnis und eilte zu den noch nicht beruhigten Scharen der Bauern zurück. Peter Paßler von Tauffers, der inzwischen den Oberbefehl geführt hatte, legte diesen in Gaismayrs Hand. Die Pinzgauer brachten Zuzug, schlugen den salzburgischen Marschall Weigel von Thurn – ein Bruder unserer Urgula, Marcell von Stauff, fand damals unter dem salzburgischen Banner seinen Tod –, aber bei Brauneck und bei Trient erlag der regellose Krieg der Feldherrnkunst eines Georg von Frundsberg, des ruhmgekrönten deutschen Bayard.
Gaismayr entkam nach Venedig. Er wurde von der Signorie aufgefordert, in ihre Dienste zu treten, und verweilte im Venetianischen drei Jahre. Sein Weib und viele Flüchtlinge begleiteten ihn. In Venedig durften sie hoffen, mißvergnügte Ungarn zu finden. Sein Weib fand Beatrice Pisani. Die Zeit des neuen Glücks der Gräfin Ilajos brach an. Sie lebten zusammen bald in Venedig, bald in Padua. Der junge Uladislaus blieb in Gaismayrs Nähe. Da konnte er sich kriegerisch üben, wozu sich in Venedig wenig Gelegenheit bot.
Diese glänzende Lage, allerdings bedroht von einem Preis, den Österreich und die Bischöfe auf seinen Kopf gesetzt hatten, brach mit dem Tode der Pisani und ihres Kindes und den nun ausbleibenden Mitteln aus der Türkei, Ungarn und Deutschland zusammen. Um so eifriger arbeitete man an einer neuen Erhebung. In der Schweiz verabredete sich Gaismayr mit Herzog Ulrich, der seinen schon einmal gescheiterten Plan, Württemberg mit Hilfe der Bauern wiederzuerobern, damals wiederholt aufnehmen wollte. Er reiste mit Vorsicht. Niemand mußte ihn mehr fürchten und verfolgen als sein Nachbar, der Bischof von Trient, Bernhard Cles, ein ehrgeiziger, ganz der habsburgischen Politik ergebener Priester, der weit öfter in Innsbruck und Wien als in seinem Sprengel lebte, den er nur als Staffel zum Kardinalat und vielleicht zur dreifachen Krone benutzte. Dessen Söldner, Spanier, waren es, die sich den auf Gaismayrs Kopf gesetzten Preis verdienten, als er nach dem Tod der Pisani und des Grafen, seines Zöglings, sein Landgut und die kostbare Einrichtung hatte verkaufen müssen und eben von Zürich zurückkehrte, wohin er von französischen Agenten berufen war.
Die Patrona des San-Marco in Padua hatte noch ihrem Gespräch mit dem jungen Allemanno hinzugefügt:
»Die Kleider des Unglücklichen waren blutbefleckt und zerrissen. Soll ich euch sagen, was ich für all unser Elend an mich behalten habe? Einen Psalter in allemannischer Sprache, einen bunten Knopf mit einem Brustbild, der an seinem blutigen Hemd gesessen, und den Trauring von seinem Weib. Verkauft hab' ich davon nichts! Auch mochte mein Beichtvater nichts mehr von der Sache wissen, seitdem er gehört hatte, daß die erwarteten Schätze so geringfügig waren.«
»Warum habt ihr aber auch seiner unglücklichen Frau so teure persönliche Angedenken nicht sofort ausgehändigt?« hatte Ottheinrich darauf erwidert. »Denn selbst wenn der Ermordete in Padua, wie ihr glaubtet, früher in Glanz und Fülle lebte, so waren dies vielleicht Andenken, die jener Frau über alles gingen! Ein Psalter! Ein Brustbild! Ein Ring! Was ist aus des Unglücklichen Weibe geworden?«
»Signor!« hatte die Antwort der Wirtin gelautet, »in meinem Leben hab' ich vielerlei gesehen und manches erfahren; denn was kann nicht alles in einem Wirtshaus und in einem Lande vorkommen, dem Gott den Refosco geschenkt hat! Aber ich ließ mich nach ihr in Venedig, auch in Tirol, wohin sie hierauf gereist sein sollte, erkundigen. Aber sie wäre zur See gegangen, sagten die einen; die andern, sie lebte zwischen Trient und Brixen verborgen, um die Bischöfe zu ermorden. Mein Beichtvater damals, Fra Benigno, der sagte mir, er hätte in Venedig, wohin er zuweilen betteln geht, von dieser Frau etwas Seltsames gehört. Daß man in Padua ihren Mann ermordet, diese schreckliche Nachricht hätte sie gerade in Erfahrung gebracht, als sie in San-Spirito bei Venedig auf zwei Gräbern saß und zwei Tote beweinte, von denen sie eines für eine Fürstin ausgegeben und das andere, ein Kind, geradezu für einen geborenen König. Bruder Benigno erzählte mir, daß sie um die Nachricht über ihren Mann in Raserei verfallen wäre und sofort allen Menschen, insonders aber den Spaniern und Habsburgern, den Tod geschworen hätte. Gift und Tränke soll sie haben bereiten können und Zauberei treiben, das hatt' ich schon hier gehört. Sie machte Regen, wenn ihres Mannes Felder vertrockneten, heilte sein Vieh und ließ keinen Arzt, wenn sie krank wurden, an seine Leute. Eine Ketzerin war's, wie ihr Mann. Und ich hab's dann verspürt, Herr! Jahraus jahrein träumt' ich an jenem gewissen Tag von dem gewissen Vorfall und am Morgen hatt' ich ganz gewiß ein gewisses Unglück. Aus dem allemannischen Psalter hatte ich den Namen Michael Gaismayr herauslesen lassen; auf dem steinernen Hemdknopf stand ein Bild – es war für die Hexe seine Frau zu schön – auf dem goldenen Ring standen die Anfangsbuchstaben ihres Namens, den ich auf der Signoria erfahren hatte.«
Ottheinrich hatte bei all diesen Worten anfangs keinen andern Gedanken als – an die Bekehrung des Apostels Paulus. Wie auf dem Wege gen Damaskus dieser das Antlitz des Herrn sah und lichtgeblendet zu Boden sank, so geschah es fast ihm. Es fehlte nur, daß die Stimmen, die ihm ein deutliches und lautes: So führt dich der Herr! So gibt er dir die volle Hinsicht in das, was du suchen solltest! riefen, andern auch vernehmbar wurden ...
Die Italienerin fuhr fort:
»Nun hörte ich, daß unsere besten Künstler von Padua und unserer Nachbarstadt Vicenza der schlechten Zeiten wegen über die Berge ziehen wollten nach Deutschland. Unter ihnen befand sich eine Schwester der Brüder Ferrabosco, die mir von früher her bekannt war. Man hatte vor einiger Zeit gesagt, daß sie einen reichen Grafen aus dem Friaul heiraten würde. Ich erfuhr aber, daß sie sich ihren Brüdern anzuschließen gesonnen war. So ging ich zu dem schönen und klugen Mädchen und sagte zu ihr: »Signora, ihr ziehet über die Berge ins Land Tirol oder in die Allemagna! Solltet ihr auf dieser euerer gefahrvollen Reise vielerlei fremde Menschen und darunter etwa eine Witwe des Namens Walpurga Gaismayr antreffen – seht, ich zeigte ihr in dem Ring und dem Buch diese Namen, die Vittoria in ihrer hohen Bildung sofort zu lesen verstand – so wollte ich euch gebeten haben: Gebt ihr diese drei Dinge, das Buch, das die Psalmen Davids enthalten soll, diesen Knopf mit dem Bildnis einer schönen Frau, die sie immer selbst gewesen ist, und diesen Trauring, der auf alle Fälle der ihrige ist! Ob ihr nun die Frau findet oder nicht, ich habe mit diesem Auftrag, wisset, ein Gelübde gelöst. Und diese Vittoria dann, die voll Trauer war, weil sich ihr Bund mit dem Grafen gelöst hatte, nahm mit Kopfschütteln und Lächeln den Psalter, den Hemdknopf, den Trauring und sagte: Ich will euer Gelübde nicht stören. Finde ich in Tirol oder in der Allemagna eine Frau des genannten Namens, so verehre ich ihr diese Andenken an ihren Mann, von dessen Tod auch ich schon von Jahren habe erzählen hören.«
Schon auf der Altane zu Padua würde Ottheinrich viel darum gegeben haben, hätte es der Zufall gefügt, daß sich das Vertrauen der in ihrem Gewissen beängstigten Patrona lieber ihm zugewandt, und er es hätte sein können, der zur Abwehr eines bösen Zaubers diese Andenken an eine Frau überkommen hätte, die irgend zu entdecken ihm selbst so sehr am Herzen lag. Denn wer besser, als die vom höchsten Glück so tief Gestürzte hätte ihm darüber Auskunft geben können, wie jenes ihm vom kaiserlichen Rat bei seiner Abreise aus Augsburg so dringend zur Untersuchung empfohlene Gerücht, der junge Sohn der Pisani lebte noch, hatte entstanden sein können –? Über diese Sage hatte ihm weder in Padua noch Venedig eine sichere Kunde werden wollen. Neue Dinge verdrängten täglich die alten. In Ungarn, in Wien, in Brüssel konnte die Sage verbreitet sein; in Venedig aber widerlegte sie sich durch den Tod der Pisani und ihres Kindes schon von selbst. Die vornehme Dame, die aus Venedig zum Besuche kam, war Gräfin Ilajos; das Kind, das von Gaismayr kriegerischer, als unter den Kaufleuten Venedigs möglich, erzogen werden sollte, war Uladislaus, ihr und des Königs Ludwig von Ungarn Sohn. Beiden, auch vielen der Begleiter Gaismayrs, raubte die Pest das Leben.