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Einleitung

Von Hause aus bietet China für das, was wir im Abendlande Philosophie nennen, keinen sonderlich günstigen Boden. Die Fragen, welche bei uns gewöhnlich den Anlaß und beständig neuen Anreiz zu philosophischer Untersuchung gegeben haben, Fragen der Metaphysik und der Ontologie, also Fragen nach dem Zusammenhang der irdischen Welt mit dem tiefsten Weltgrunde, nach Ursprung und Ziel des ganzen Daseins, nach dem Wesen der Dinge, dann aber auch die Fragen nach der Eigenart unseres Erkennens, nach seinen Mitteln und Grenzen, also das was wir Erkenntnistheorie nennen, bewegen den Chinesen, allgemein gesprochen, wenig. Ihn interessieren vielmehr zunächst und überwiegend die Fragen der praktischen Wirklichkeit des Lebens. Das tatsächlich Gegebene, der Mensch dieser Welt, ist vor allem der Punkt, um den sich das Nachdenken dreht. Man prüft die Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft, die Pflichten und Rechte der Menschen, die Normen des menschlichen Gesellschaftslebens, die Probleme des Staatswesens u. dgl., und man versucht hier neue Einsichten zu gewinnen, Regeln und Gesetze aufzufinden. Gegenstände, wie sie bei uns in Ethik und Soziallehren den Abschluß philosophischer Systeme bilden, stehen für den Chinesen am Anfang und im Vordergrunde, das Irdisch-Unmittelbare ist das eigentlich Fesselnde.

Damit soll indes nicht gesagt sein, daß metaphysische Bedürfnisse und Fragen daneben vollständig gefehlt hätten. Sie sind ohne Zweifel vorhanden, und wenn die große Masse ihr metaphysisches Verlangen auch einfach in dem naiven Leben der Religion befriedigt, so greift doch vereinzelt das bewußte Denken bedeutender Geister weit darüber hinaus. Auch Versuche auf dem Felde der Erkenntnistheorie fehlen nicht. Dennoch bleibt all dergleichen rudimentär, in den Anfängen, wie ein Nebentrieb. Es ist bezeichnend für die Sachlage, daß dasjenige Buch, in welchem metaphysische Spekulation wohl am stärksten hervortritt, das Tao tê tching des Lao tse, von einigen abendländischen Gelehrten als nicht-chinesisch, als ursprünglich indisch angesehen worden ist, so wenig meinte man darin von chinesischer Denkweise zu verspüren [R1]. In der Tat liegt in solchen Gedankengängen nicht die Stärke und der eigentliche Trieb der chinesischen Geistesanlage. Probleme, wie sie einen Platon und Aristoteles, einen Spinoza und Leibniz, Kant und Schopenhauer erfüllt haben, fanden im »Reich der Mitte« wenig Beachtung. Nur als der Buddhismus in China erstarkte und in seiner Weise allerlei erkenntnistheoretische sowie psychologische Untersuchungen anstellte, wurde der chinesische Geist bis zu einem gewissen Grade geweckt und erzogen für diese Probleme. Jene Jahrhunderte, welche man gewöhnlich als eine Zeit der Unfruchtbarkeit und Leere in der Geschichte der chinesischen Philosophie überspringt, sind in Wahrheit nicht so ganz unbedeutsam gewesen, nämlich die Epoche vom ersten bis zwölften Jahrhundert nach Christo. Ein gewisses metaphysisches und erkenntniskritisches Vermögen hat sich damals in der Tat entwickelt, und die Nachwirkung davon läßt sich wohl verspüren, als dann im elften und zwölften Jahrhundert die Philosophie des Altertums, der Konfuzianismus, durch Tschu Hsi und seinen Kreis von neuem auflebte. Aber trotz alledem bleibt zurecht bestehen, daß die Stärke der chinesischen Anlage nicht in der Richtung ging, wo wir die philosophische Arbeit vor allem suchen. Die Natur hat dem Chinesen hier eine reiche und wertvolle Produktivität versagt.

Eine andere deutlich zu verspürende Schranke philosophischer Leistungen liegt in der mangelnden Begabung des Chinesen für die Gestaltung geschlossener Denksysteme.

In seiner Geschichte der chinesischen Literatur bemerkt W. Grube gelegentlich [R2], daß Tschou Tön i der einzige systematische Denker gewesen sei, den China hervorgebracht habe. Er zieht dann selbst noch wieder etwas von diesem Prädikate ab, indem er in dem Hauptwerke des Tschou nur einen Ansatz, einen Versuch zu philosophischer Systembildung sehen will. Man wird nun freilich noch wohl mehr Namen nennen können, die wenigstens für Versuche zu systematischer Philosophie in Frage kommen, vor allem den des Tschu Hsi. Bei systematischem Denken haben wir es eben mit fließenden Grenzen zu tun. Aber daß die Systematik der Chinesen mangelhaft ist, leidet keinen Zweifel. Wenn man die Frage stellt, ob China bedeutende philosophische Denker hervorgebracht habe, so wird darauf jeder Urteilsfähige unbedenklich mit Ja antworten. Stellt man die Frage aber so: ob China eigenartige geschlossene Denksysteme geschaffen habe wie etwa das eines Platon oder Kant, so wird schwerlich jemand diese Frage zuversichtlich bejahen. Das philosophische Denken der Chinesen geht einzelnen Stoffen und Problemen nach, doch fehlt ihm die weitspannende Kraft, welche eine Fülle von Erscheinungen aus einem Prinzip heraus auffaßt und konsequent durchdringt, die Kraft, die an das Durcheinander der Dinge einen beherrschenden Maßstab anlegt. Daher bleibt dem Abendländer bei der Lektüre chinesischer Philosophen so oft der Eindruck des Sprunghaften, Zufälligen, des freien Phantasierens; ja nicht selten fällt ihr Philosophieren geradezu in einzelne Aphorismen auseinander. Wenn aber im günstigeren Falle wohl ein gewisser stofflicher Zusammenhang vorliegt, so reicht doch die Kraft zu einem klaren logischen Aufbau nicht hin. Der Gedankengang des Einzelnen ist oft unklar, ungeordnet, läuft willkürlich hierhin und dahin. Diesen Mangel systematischen Aufbaues haben europäische Bearbeiter öfters zu überwinden gesucht, indem sie die Aeußerungen chinesischer Denker zu einem systematischen Ganzen gestalteten. Aber schon, daß man dies nötig fand, zeigt, woran es den Originalen fehlt.

Die chinesischen Philosophen sind eben keine Systematiker. Sie bauen nicht Stein auf Stein nach vorbedachtem Plane und festem Zusammenhange, bis ein vollständiges, dem Geistesauge von Anfang vorschwebendes Gebäude dasteht. Sie fassen vielmehr Einzelerscheinungen ins Auge oder etwa eine Reihe verwandter Fragen, die sie miteinander behandeln, aber doch in lockerer, freier Bewegung der Gedanken. Lehrsysteme formen sie nicht.

Es ist wohl der Mühe wert, näher zu untersuchen, worin dieser Mangel begründet liegt. Soweit auf eine Eigenart der natürlichen Geistesanlage zurückzugehen wäre, ist nicht weiter darüber zu reden. Jedoch lassen sich, wie mir scheint, auch bestimmte äußere Gründe nachweisen, die hier ihren Einfluß geübt haben. Zunächst einmal spielt der Umstand hinein, daß Konfuzius und seine Nachfolger dem späteren China ein so hochverehrtes, unumstrittenes Philosophenideal wurden. Nun hatte sich aber zu Konfuzius' Zeit das philosophische Denken Chinas noch nicht zur Reife entwickelt, es stand vielmehr noch in den Anfängen. Von einer klaren Methode der Untersuchung und von sicherer Ideenentwicklung konnte bei ihm noch keine Rede sein. Da er indes für die späteren Generationen trotzdem höchste Autorität und leuchtendes Vorbild wurde, und da das Denken der Nachwelt sich immer wieder an ihm emporrankte, wurden seine Mängel dadurch sozusagen konstitutiv. Seine Weise zu denken, zu reden, zu behandeln ging den Späteren in Fleisch und Blut über, damit aber auch das Atomistische, Enghorizontige, das ihm eigen ist. In dem Bannkreise, innerhalb dessen Konfuzius seine Landsleute so lange gehalten hat, konnte eine Philosophie, die zu systematischer Arbeitsweise sich durchgearbeitet hätte, keinen rechten Raum finden. Der moderne chinesische Gelehrte Hu Shih, Professor der Philosophie an der Universität Peking, bemerkt in einem seiner Bücher gelegentlich, daß die chinesische Philosophie zu einer wirklichen Methode philosophischer Arbeit (und damit auch zu systematischer Darstellung) vielleicht gekommen sein würde, wenn nicht der Konfuzianismus ein alle andern Richtungen erdrückendes Monopol erhalten, sondern neben ihm andere philosophische Schulen freies Spiel gehabt hätten. Im Wettstreit der Ideen und Richtungen würde ein kräftigeres Wachstum auch in methodischer Hinsicht verbürgt gewesen sein. Aber die frühe Sanktionierung des Konfuzianismus hat dies Werden verhindert [R3].

Das ist ein Grund. Daneben besteht aber noch ein zweiter, der tiefer wurzelt. Das ist die Eigenart der chinesischen Sprache und Schrift.

Der erste und unmittelbarste Ausdruck des menschlichen Geistes ist die Sprache. Die ganze weitere Kultur, insbesondere die Denkarbeit, baut sich auf diesem Grunde auf. Nun ist es eine in die Augen springende Tatsache, daß die chinesische Sprache in gewisser Hinsicht auffallend abweicht von den Sprachen Europas. Es sei versucht, diese Eigentümlichkeit hier kurz zu charakterisieren.

Wenn man sich einmal einen Abschnitt aus einem chinesischen Buche langsam vorlesen läßt, etwa in dem weit verbreiteten hochchinesischen (»Mandarin«-) Dialekte, so wird der Zuhörer alsbald folgendes bemerken: Die Wörter sind alle einsilbig oder doch nahezu so (wie tao, liao, pieh); man hört durchweg einfache Konsonanten, keine Kombinationen von mehreren; die Wörter schließen meist vokalisch, nur wenige Konsonanten (n oder ng) werden für den Wortabschluß gebraucht. Auf diese Weise entsteht eine große Monotonie von Bildungen. Manche Laute begegnen immer wieder. Man kann sogar gelegentlich Sätze hören, die aus mehrfacher Wiederholung derselben Silbe bestehen. In der Tat verfügt das Chinesische nur über eine erstaunlich geringe Zahl verschieden klingender Wörter; im Hochchinesischen (dem Mandarin-Dialekte) existieren nicht viel mehr als 400 verschiedene Lautgruppen. Und nun kommt dazu, daß diese ca. 400 Lautgruppen (Wörter) nie ihre Form verändern noch Umgestaltungen erleiden, wie wir Europäer sie als Deklination, Konjugation u. dgl. kennen. Der Laut li bleibt immer li, kao bleibt immer kao, tung bleibt immer tung. Solch ein begrenztes und sprödes Material muß zum Ausdrucksmittel einer hochentwickelten Ideenwelt mit ihrer Fülle von Objekten und Begriffen, Beziehungen und Verhältnissen dienen.

Wie ist das möglich? Zwei Schwierigkeiten machen sich vor allem geltend. Erstens: wenn man mit so wenigen Lautgruppen alle Ausdrücke einer voll entwickelten Sprache zu bestreiten hat, dann wird jeder Lautkomplex (jedes Wort) eine große Menge ganz verschiedener Bedeutungen in sich vereinigen müssen. Wie aber will man diese Bedeutungen auseinander halten? Zweitens: Wie kann man einen klaren grammatischen Satz bilden, wenn die Wörter sich gar nicht verändern (also flektieren) lassen?

Beide Schwierigkeiten bestehen in der Tat und verursachen viel Mühe. Ein Blick in ein chinesisches Lexikon zeigt, daß fast jeder Lautkomplex (jedes Wort) eine verblüffende Menge verschiedener Grundbedeutungen (nicht Ableitungsvarianten, die hier außer Frage bleiben mögen) besitzt. So hat bei Giles, Chinese-English Dictionary, der Laut i nicht weniger als 214 Bedeutungen, li 138, shî ( shih) 114, usw. Und daß die Frage, wie man einen chinesischen Satz richtig zu konstruieren habe, viel Kopfzerbrechen verursacht, davon wird jeder Anfänger beim Erlernen dieser Sprache reichlich Erfahrung machen.

Doch sind Hilfsmittel da, um diesen Schwierigkeiten zu begegnen.

Um gleichklingende Wörter in ihrer Bedeutung zu unterscheiden, bedient man sich verschiedener »Töne« in der Aussprache. Aehnlich nämlich, wie wir Abendländer einen Fragesatz oder einen Befehl oder einen Ausruf der Verwunderung in der Aussprache von dem gewöhnlichen Aussagesatz verschieden nuancieren, unterscheidet der Chinese die Aussprache einzelner übrigens gleichklingender Wörter. Das sog. Mandarin-Chinesisch bildet in den meisten seiner Unterdialekte vier solcher verschiedener Töne; in Südchina gibt es mehr, bis zu neun. Besäße nun jedes der ca. 400 Wörter des Mandarin-Chinesischen vier Töne, so ergäbe das ca. 1600 verschieden lautende Vokabeln. Indes werden nicht alle Wörter in allen vier Tönen gesprochen, sondern man bildet durch Unterscheidung der Töne nur etwa 1400 verschieden klingende Vokabeln. Damit behält also jede Vokabel noch eine Menge verschiedener Grundbedeutungen und bleibt noch viel Gelegenheit zu Mißverständnis. Da hat nun die gesprochene Sprache sich weiter zu helfen gesucht. Man hat nämlich viele Doppelausdrücke gebildet, um dadurch die Bedeutung genauer zu fixieren. Jede Sprache hat ja für allerlei Begriffe Parallelausdrücke, wie etwa im Deutschen »sehen« und »erblicken« oder »gehen« und »wandeln«. Diese Ausdrücke nun kombiniert man, wodurch, wie leicht zu verstehen, die Unklarheit der Bedeutung beseitigt und der Kombinationsausdruck eindeutiger wird. Auch andre Arten von Zusammensetzung werden zuhilfe genommen. Der gesprochene Mandarindialekt bewegt sich so durchweg in Doppelausdrücken.

Es gäbe nun freilich für den Chinesen ein sehr einfaches Mittel, auch ohne solch beständige Verdoppelung des Wortes Mißverständnisse bei gleichlautenden Wörtern zu vermeiden, aber ein Mittel, das sich leider für das Gespräch nicht anwenden läßt, nämlich die Schrift. Denn die Schrift des Chinesen ist derart, daß sie jede besondere Bedeutung eines Wortes durch ein besonderes Zeichen wiedergibt. Wir stoßen hier auf einen der sonderbarsten Züge dieser Sprachwelt.

Die chinesische Schrift weicht von allen Schriftarten der heute lebenden Sprachen in ganz merkwürdiger Weise ab. Der Chinese drückt nämlich mit seiner Schrift nicht aus, was er mit dem Munde spricht, sondern was er unter dem gesprochenen Laute versteht. Mit anderen Worten: der Chinese schreibt nicht Buchstaben, die zusammen ein gesprochenes Wort bilden, sondern er schreibt Zeichen, die einen bestimmten Gegenstand oder Begriff bedeuten.

Buchstaben sind Merkmale für Einzellaute, aus denen ein gesprochenes Wort gebildet wird. Buchstaben hängen also eng mit dem gesprochenen und gehörten Worte zusammen. Buchstaben fixieren die Sprache als eine gesprochene und gehörte. Der Chinese jedoch schreibt nicht mit Buchstaben. Aber wie kann man anders schreiben? Nun, auch wir Abendländer kennen wohl eine andre Schreibweise. Unsre Zahlen und mathematischen Zeichen z. B. sind nicht an die Aussprache gebunden, sondern bezeichnen etwas ohne Mittel von Buchstaben oder gesprochener Sprache. In der Formel: (23-2): 7 = 3 werden bestimmte Begriffe in Zeichen ausgedrückt, ohne daß die Aussprache für den Sinn etwas bedeutet. Aehnlich ist es mit der Schrift des Chinesen. Man sagt oft, es sei eine Bilderschrift. Das ist nicht richtig. Zwar sind unter den chinesischen Schriftzeichen eine Anzahl Bilder von Gegenständen oder bildartige Zeichen; aber das sind verhältnismäßig wenige. Die zutreffende Benennung der chinesischen Schriftzeichen ist: Begriffzeichen. Also für jeden Begriff ein besonderes Zeichen; so viel Schriftzeichen, wie die Sprache Begriffe besitzt. Das heißt: endlos viele. Vorläufig besitzt das chinesische Schrifttum etwa 50 000 Zeichen. Vorläufig! Denn die Schriftzeichen mehren sich natürlich, sowie neue Gegenstände der Kenntnis, neue Begriffe also, auftauchen, was bei der gegenwärtigen Berührung mit abendländischem Wissen beständig geschieht.

Sicherlich kann nun niemand so viele Schriftzeichen, zumal noch manche davon sehr verwickelt zu schreiben sind, fest im Gedächtnis halten. Das ist auch nicht nötig. Die große Mehrzahl wird selten gebraucht und steht eben nur im Lexikon. Mit 2-4000 Zeichen kommt man unter gewöhnlichen Verhältnissen ganz gut aus. Immerhin ist auch das noch eine recht starke Belastung des Gedächtnisses für den, der Schreiben und Lesen lernen will. Und doch liegt die Schwierigkeit nicht eigentlich in der Menge der zu behaltenden Zeichen, sondern für die Sprachentwicklung liegt der wunde Punkt dieser Schreibweise umgekehrt in der Beschränkung, welche der Wortbildung hier auferlegt wird. Die Begriffzeichen halten die Zahl der zu gebrauchenden Wörter in recht engen Schranken. Scheint es auch zunächst, als ob die chinesische Sprache mit den ca. 42 000 Schriftzeichen ihres großen Kang hsi-Wörterbuches eine gewaltige Menge von Begriffen darstellt, so ist diese Zahl immerhin, verglichen mit dem Wortschatz, welchen etwa das Grimmsche Wörterbuch für den deutschen Sprachgebrauch feststellt, gering. Und das ist bei näherem Ueberdenken leicht begreiflich. Denn man war abgeneigt, das schwierig zu handhabende Material der Schriftzeichen ins Ungemessene zu steigern, und gab darum jedem Zeichen eine so ausgebreitete Anwendung wie möglich, subsumierte also unter ihm so viel Begriffsnuancen, wie nur eben anging. Dazu verhinderte die Schreibung mit Begriffzeichen den Gebrauch eines sonst so nützlichen Hilfsmittels zur Prägung von Nuancen, nämlich den Gebrauch der Komposita (im strengen Sinne). Man überlege einen Augenblick, welch einen Nutzen etwa im Lateinischen die Bildung der Komposita bei Verben für Variierung und Präzisierung des Ausdrucks bietet, und man wird begreifen, welchen Mangel die Unfähigkeit des Chinesischen zur Kompositionsbildung einschließt. So liefert denn die chinesische Schrift mit ihren vielen Begriffzeichen doch schließlich zu wenig Begriffe. Die Bedeutungen, welche unter ein und demselben Schriftzeichen vereint werden, sind zu zahlreich. Von diesem Nachteil werden aber grade viele Ausdrücke betroffen, welche in der Philosophie anzuwenden wären und bei denen eine scharfe Präzisierung des Sinnes besonders wichtig ist. Welche Mühe macht es z. B. oft, die spezielle Bedeutung des Wortes hsin (gewöhnlich »Herz«) aus der Menge der Möglichkeiten herauszubestimmen an einer Stelle, wo der ganz genaue Spezialsinn wichtig ist! Oder wie schwierig sind die wechselnden Bedeutungen des bekannten Wortes tao (»Weg«) je an seinem Orte und in seinem Zusammenhange für uns festzustellen!

Die Hauptschwierigkeit aber, welche die Begriffzeichen dem Chinesen geschaffen haben, liegt in der grammatischen Unbeweglichkeit, welche mit ihnen gegeben war. Begriffzeichen sind unveränderlich. Sie geben, so wie sie geformt sind, einen bestimmten Begriff wieder, der nun eben in dies Zeichen gebannt ist. Aenderung des Zeichens ergäbe ein anderes Zeichen, also einen andern Begriff. Diese Art der Schrift zwingt also dazu, die schriftliche Ausdrucksweise nur mit Begriffen als solchen zu bestreiten, ohne daß die grammatische Funktion des Begriffs, die grammatischen Beziehungen der Begriffe aufeinander sich ausdrücken lassen. Die chinesische Sprache kennt daher keine äußerlich gestaltete Grammatik. Sie bildet keine Substantiva oder Adjektiva, keine Verben oder Adverbien; sie dekliniert nicht, sie konjugiert nicht, sie kennt keine Tempora, keine Modi, keine Genera Verbi, keine Regeln für Uebereinstimmung von Subjekt und Prädikat, für Anwendung der Kasus und all dergleichen. Sie kennt nur einfache Begriffe, die von keiner Grammatik weiter umgeformt werden.

Durch diese Sachlage wird nun die chinesische Sprache ungemein schwierig. Denn grammatische Formung und Regel, obgleich für den Anfänger gewöhnlich ein lästiges Joch, sind ein ungemein wertvolles Mittel für klaren und sicheren Ausdruck. Wo die grammatische Wegweisung fehlt, bildet die Sprache ein Chaos, ohne Oben und Unten, ohne Rechts und Links, ein Chaos, in dem man sich vergebens zurechtzufinden sucht. Ja streng genommen ist eine Sprache ohne Grammatik einfach unmöglich. Und wenn das Wortmaterial eine grammatische Behandlung nicht gestattet, dann muß notwendig ein Surrogat für diesen Mangel gefunden werden, ein »Grammatikersatz« mit andern Mitteln. Diese Notwendigkeit ergab sich auch im Chinesischen. Man hat einen Ersatz für die mangelnde grammatische Bezeichnung der Satzteile suchen müssen, und man hat ihn gefunden vor allem in der Stellung und Gruppierung der Wörter. Daneben aber hat man auch gewisse Begriffzeichen als grammatische Hilfsmittel verwenden gelernt, durch deren Vor- oder Nachsetzung andere Begriffe etwa als Substantiv oder Adjektiv, als Plural, als Verbum, als Genitiv u. ä. signiert werden. Aber solch ein Grammatikersatz ist doch bei weitem unvollkommener als eine wirkliche, richtige Grammatik. Nur das Wichtigste und Gröbste deutet er an. Er deutet es auch nur an, wenn der Schriftsteller will. Setzt dieser aber etwa seine Ehre darein, recht dunkel und kurz, recht prägnant und schwierig zu schreiben (was oft genug in der chinesischen Literatur der Fall gewesen ist), so fehlen auch noch manche der kärglichen grammatischen Hilfsmittel, und man steht vor pythisch dunklen Sprüchen. Lange Vertrautheit mit den Texten, umfassende Kenntnis vieler stehender Redensarten, schließlich eine Art Instinkt für das Richtige muß da, so gut es geht, die fehlende Grammatik ersetzen. Aber es ist kein Wunder, daß das Verständnis vieler Textstellen völlig unsicher und umstritten bleibt, selbst für gelehrte Sinologen und gebildete Chinesen. »Es ist durchaus nichts Seltenes«, sagte der bekannte Sinologe W. Grube einmal [R4], »daß ein und derselbe chinesische Satz grammatisch verschiedene Deutungen zuläßt.« Zur Veranschaulichung sei hier ein ganz einfaches kleines Beispiel gegeben.

Da begegnet uns in der Lektüre ein Satz, bestehend aus vier bekannten Begriffzeichen, die im heutigen Mandarindialekte gesprochen werden: » Ming lai yeh tchü.« Die vier Schriftzeichen repräsentieren folgende Begriffe: 1. ming = hell sein; 2. lai = kommen; 3. yeh = Nacht; 4. tchü = fortgehen. Die einfachste Art nun, diese vier Begriffe zu verbinden, ist diese: »Die Helligkeit (der Tag) kommt, die Nacht vergeht.« Es kann aber eben so gut heißen: »Wenn der Tag kommt, so vergeht die Nacht.« Man kann aber auch verstehen: »Als der Tag herankam, verging die Nacht.« Noch anders kann der Sinn sein: »Bei Tage kam er (oder: kamen sie), bei Nacht ging er (gingen sie) wieder weg.« Obwohl in diesem kleinen Satze die Verschiedenheit des Sinnes nicht groß ist, so zeigt sich daran doch deutlich die Unklarheit der chinesischen Ausdrucksweise, und man kann sich danach wohl vorstellen, wie schwankend der Gedanke in komplizierteren Satzgebilden gelegentlich werden mag. Das berühmte Buch Tao tê tching beginnt mit einem Satze, der von den meisten Uebersetzern etwa folgendermaßen gegeben wird: »Das Tao (der Weg), in dem man wandeln kann, ist nicht das ewige Tao; der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name.« Denselben Satz übersetzte der kürzlich verstorbene hervorragende Sinologe J. J. M. de Groot: »Im Tao sollt ihr wandeln, es ist nicht ein gewöhnlicher Weg; seinen Ruhm sollt ihr rühmen, der ist kein gewöhnlicher Ruhm« [R5]. Beide Auffassungen sind nach dem Wortlaute möglich, und hier ist die Verschiedenheit denn doch schon beträchtlicher. Bei solcher Art des schriftlichen Ausdrucks hat der bekannte Uebersetzer der chinesischen Klassiker, J. Legge, wohl recht, wenn er betont, daß man das Chinesische unmöglich wortgetreu übersetzen könne, sondern daß man einen chinesischen Text darauf ansehen müsse, nicht was der Autor sagen wolle, sondern was er denke. Mit dem Denkinhalte müsse man sich in innere Gemeinschaft setzen und dann die Gedanken frei in der eigenen Sprache wiedergeben. Er zitiert dafür ein bezeichnendes Wort des Menzius über Erklärung altchinesischer Gedichte: »Wir müssen uns bemühen, in unsern Gedanken den Sinn und Gehalt eines Satzes zu erfassen, dann werden wir ihn auch (in den einzelnen Ausdrücken) verstehen« [R6].

Man wird zugeben müssen, daß eine so geartete Schriftsprache für die Darstellung philosophischer Gedankengänge nicht günstig ist. Denn bei dieser kommt alles auf Schärfe und Genauigkeit des Ausdrucks an. Ist die Satzformung vag und mehrdeutig, mangelt ihr die logische Durchsichtigkeit, dann wird der Gedankenfortschritt überhaupt leicht unbestimmt und schwankend bleiben, und in dem Fehlen des klaren und sicheren Ausdrucks und deutlicher logischer Verknüpfung wird sich ein verhängnisvolles Hemmnis für umfassende philosophische Untersuchungen kund tun. Damit soll nicht geleugnet werden, daß die Besonderheit der chinesischen Sprache und Schrift nach gewissen andern Seiten hin ihre eigenen, keineswegs geringen Vorzüge aufweist. Aber ein geschicktes Werkzeug für philosophische Arbeit mit ihren scharfen Definitionen, ihrer logischen Geschlossenheit und ihrer weitgreifenden Systematik ist diese grammatisch unentwickelte und unpräzise Sprache nicht. Es nimmt darum nicht wunder, daß man der Anlage des Chinesen schon öfter die Fähigkeit zu logischem Denken und zu philosophischer Entwicklung abgesprochen hat. Das haben nicht nur sachkundige europäische Beurteiler getan (z. B. Alfr. Forke, H. Borel), sondern auch ein Ostasiate wie der Japaner Teitaro Suzuki. Letzterer sagt: »Dem chinesischen Geiste ist ein bedauerlicher Mangel an Logik eigen. Diese Tatsache erweist sich schon in der Philosophie der ältesten Periode und geht durch die Folgezeit ebenso hin. Damals, als in Indien und Griechenland die Geistesbildung auf ähnlicher Höhe stand, wie sie es in China in der Epoche des Konfuzius tat, hatten die Griechen ihre Logik, die Inder ihre hetuvidyâ (Wissenschaft von den Ursachen). Sie waren sehr genaue Ergründer, systematisch in ihren Schlußfolgerungen. Ihr Geist scheint aus einer feineren Faser gebildet als der der Chinesen. Diese fühlten sich nicht gedrungen, Gedanken scharf zu präzisieren und Ausdrücke genau zu formen« [R7]. Dies Urteil hat in der Sache ohne Zweifel recht. Doch sollte man, wie mir scheint, nicht ohne weiteres von Anlage reden, wo andere Gründe als nähere Erklärung sich darbieten. Solch ein näherer Grund liegt meines Erachtens in der Eigenart der chinesischen Sprache und Schrift, wie wir sie in allgemeinem Umrisse zu zeichnen versuchten.

 

Obwohl sich nun die Philosophie in China unter solchen Umständen nicht so glänzend entwickeln konnte, wie bei manchen andern Völkern, so ist ihr Studium darum doch durchaus nicht ohne Interesse. Ja der besondere Typus des philosophierenden Menschen, auf den wir bei den Chinesen stoßen, übt sogar einen ungewöhnlichen Reiz aus. Wir sehen hier eine Gruppe von Menschen sich durch die Probleme des Lebens ihren eigenen Weg bahnen, beeinflußt nur durch ihre eigene Lage, Umgebung und Fähigkeit, nur mit eigenen Mitteln arbeitend. Wie stellt sich ihnen die große Daseinsfrage dar? Bemerken wir in Auffassung und Resultaten Aehnlichkeit mit der abendländischen Philosophie? Wo und wie gehen die beiden Strömungen auseinander? Was für besondere Akzente zeigt die chinesische Weltbeurteilung? Das alles zieht unsre Aufmerksamkeit auf sich.

Dabei wird sich bald zeigen, daß wir es durchaus nicht mit so einfarbigen und matten Bildern zu tun haben, wie der fernerstehende Abendländer gewöhnlich annimmt. Der Europäer meint wohl, die chinesische Philosophie sei im wesentlichen erschöpft mit den Lehren des Konfuzius und des Lao tse nebst ihren beiderseitigen Schülern. Noch P. Deussen bietet in seiner umfassenden »Allgemeinen Geschichte der Philosophie« nicht viel mehr als jene beiden. Damit bekommt man aber einen ganz falschen Eindruck. In Wahrheit ist der Gehalt und die Mannigfaltigkeit der chinesischen Philosophie weit größer. Schon allein im alten China kennen wir heute eine ganze Reihe von Denkern, die uns ein recht anderes Gesicht zeigen, als wir es von Konfuzius und Lao tse her gewohnt sind. Eifrige Forschung der neueren Zeit hat da viel Bemerkenswertes aufgedeckt [R8]. Die Zukunft wird vielleicht noch mehr ans Licht bringen. Denn jene Jahrhunderte, in denen das chinesische Denken unter den Einfluß des Buddhismus geriet, Jahrhunderte, deren Literatur bisher nur sehr oberflächlich bekannt ist, mögen noch manchen philosophischen Charakterkopf aufzuweisen haben. Und auch die neuere Zeit entbehrt ihrer nicht. Kurzum, einförmig und langweilig ist die Physiognomie der chinesischen Philosophie ganz gewiß nicht.

Dazu kommt, daß die Art des chinesischen Philosophierens Beachtung verdient.

Finden wir in China auch nur sehr schwache Ansätze zu systematischer Gedankenführung, so hat die Weise, wie hier die Probleme erfaßt werden, doch ihr Anziehendes und Lehrreiches. Der Philosoph benutzt weniger den Induktionsbeweis und die Logik, er arbeitet mehr intuitiv: mit seiner ganzen Person fängt er sozusagen die Rätsel des Lebens auf und durchschaut sie. Das Geschaute gibt er dem Schüler. Er gibt es häufig in kurzer, prägnanter Formulierung, nicht selten in geradezu rätselhafter Fassung. Hier mischt sich die Eigentümlichkeit der Sprache wieder ein. Wenige Begriffe, lose nebeneinandergesetzt, ergeben ein Gedankenzentrum, von wo es gleichsam nach allen Seiten hin ausstrahlt. Unsre klarnüchterne europäische Ausdrucksweise ist damit kaum zu vergleichen. Feinste Andeutungen liegen hier oft in einer kurzen Begriffsverknüpfung, Charakterisierungen von ungemeiner Schlagkraft sind mit ein paar Ausdrücken wie eben hingeworfen. Man erkennt sofort, daß diese Art des Philosophierens das rechte Feld des Aphorismus, der Sentenz, des feinen Aperçu, aber auch der wilden, weiten Phantasie ist. Das tiefsinnig geformte Urteil über Mensch und Menschenleben, aber auch die dunkelsten Grübeleien und Spekulationen finden hier Gestalt.

Gern nimmt diese Art des Philosophierens die Erzählung, die Anekdote, die Legende und Geschichte in ihren Dienst. Entweder illustriert man einen Grundsatz durch Vorbilder aus der Geschichte und Sage, oder man läßt eine Idee in der Form einer Erzählung auftreten, zu der dann je nachdem die Anwendung und Erläuterung noch hinzutritt oder nicht. Diese Erzählungen können sehr reizvoll sein. Nicht nur, daß sie ein angenehmes Gegengewicht von Anschaulichkeit in die Darstellung hineinbringen, sondern sie bilden auch sprechende Belege für Menschtum und Kultur im alten China nach den verschiedensten Seiten hin. Dazu tritt in ihnen auch das drollige und spaßhafte Element in sein Recht. Die Art, wie in diesen Geschichtchen der sprachliche Ausdruck gehandhabt wird, ist oft ungemein gewandt und künstlerisch.

Man darf übrigens niemals vergessen, daß die altchinesische Philosophie in erster Linie Philosophie des Gespräches, nicht des Buches gewesen ist. Die Aufzeichnung wird lange Zeit erst nachträglich durch Schüler erfolgt sein. Zunächst philosophierte man nur in mündlicher Unterhaltung. Das Verständnis des Meisters war für die Schüler oft sicher keine leichte Sache. Kurze Andeutungen, rätselhafte Aussagen, prägnante Formeln mußten in ihrer ganzen Fülle und Beziehungsweite erfaßt werden. Das gelang oft erst nach längerem Grübeln und Sinnen. War der Schüler ungeschickt, so mußte er sich wohl abweisen lassen. Dagegen einen guten Jünger zu finden, der mit feiner Sensitivität den Ausführungen zu folgen wußte, der sich des Meisters Persönlichkeit achtsam hingab, dem Gehalte seiner Worte so lange nachtastete, bis sie ihm einleuchteten und auf seine Natur wirkten, das war für den Denker und Lehrer ein großes Glück. Solch ein Schüler war dem Konfuzius sein früh verstorbener Liebling Hui, von dem der Meister sagte: »Ich habe mit Hui einen ganzen Tag lang geredet, und er hat keine Einwendungen gemacht, gleich als wäre er dumm. Er zog sich dann zurück, und ich habe ihn in seinem Verhalten beobachtet: er vermag meine Lehre darzustellen! Hui ist wahrlich nicht dumm!«

Viel von dem, was diese Philosophen gedacht und gesprochen haben, behält selbst seinem unmittelbaren Inhalte nach auch für uns Heutige noch einen eigenen Wert und Glanz. Hier liegen Intuitionen vor, die ihre Bedeutung für das tiefste Wesen des Menschlichen noch nicht verloren haben. Hier sind für unser Handeln Maßstäbe aufgestellt von solcher Vornehmheit und Reinheit, daß wir ihnen nie entwachsen werden. Auch ist das Schrankenlose, die Entfesselung des Individuellen so konsequent und rücksichtslos bis zu Ende gedacht, wie es nicht übertroffen werden kann. In Psychologie und Soziologie sind vielfach Blicke getan und Aussichten geöffnet, an denen wir uns gewißlich noch bereichern können. Hinter solchen Leistungen aber bemerken wir zugleich Persönlichkeiten, deren ausgeprägte Züge in willkommener Weise den Kreis der Charakterköpfe von Denkern vermehren, wie wir sie so gern über der Masse des Gewöhnlichen aufleuchten sehen und wie sie dem Historiker als die Krönung des irdischen Geschehens erscheinen.


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