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2. Tschu Hsi

Alles, was an neuen Gedanken und Methoden sich bei den bisher genannten Denkern des zehnten Jahrhunderts geltend machte, fließt im elften Jahrhundert zusammen in der Person des Tschu Hsi (auch Tschu Hui an oder Tschu fu tse, der Meister Tschu, genannt) und wird durch die besondere Begabung und Arbeit dieses Mannes noch wesentlich verstärkt und bereichert. Er vollendet die Fünfzahl der großen Sung-Meister (vgl. oben S. 286 ff.), obwohl er nicht mehr der Zeitgenosse der anderen war. Denn der letzte der vier Vorgänger, Tsch'êng I, starb 1107, Tschu Hsi aber wurde erst 1131 geboren. Dennoch hat J. P. Bruce [R493] wahrscheinlich gemacht, daß, vor allem durch Vermittlung eines weniger hervortretenden Gelehrten Yang Schï (oder Yang Kuei schan) und dessen Schüler Lo Ts'ung yen, die Unterweisung in den Lehren der älteren Philosophen dem Tschu Hsi als direkte mündliche Ueberlieferung zugegangen ist. Der Vater des Tschu Hsi selbst, der den Sohn drei Jahre lang sorgfältig unterrichtete, war der letzte Kanal, durch den diesen die Kenntnis der früheren Sung-Meister erreichte; daneben ein Freund und Studiengenosse des Vaters, Li Yen p'ing.

Geboren wurde Tschu Hsi in dem Oertchen Yu hsi (oder tch'i), nicht weit von der größeren Stadt Yen p'ing in der Provinz Fukien, 1131. Die Familie besaß schon einen gewissen Namen in Gelehrtenkreisen. Der Vater hatte einen Beamtenposten bekleidet, denselben aber aufgegeben, um der Wissenschaft und dem Unterricht zu leben. Er gab sich der Erziehung seines Sohnes, der eine frühe Begabung bewiesen haben soll, mit Eifer hin, zumal nachdem er, der kurze Zeit wieder im Staatsdienste gestanden, diesen abermals verlassen hatte und nun in voller Muße der Erziehung des vielversprechenden Jünglings sich widmen konnte. Leider machte der Tod des Vaters dieser Unterweisung schon nach drei Jahren (1143) ein Ende. Drei gelehrte Freunde des Hauses setzten nach des Vaters letzter Verfügung die Leitung seiner Studien fort. Schon früh, mit 19 Jahren, gewann er den höchsten Grad (» Tchin schï«) der Examina. Die Studien, welchen er sich in diesen Jahren hingab, waren sehr vielseitig. Im Mittelpunkte standen natürlich die Konfuzianischen Schriften des Altertums, und es ist bemerkenswert, daß er bemüht war (wie er selbst später berichtet), nicht nur die Einzeläußerungen als solche in sich aufzunehmen, sondern auch nach größeren Zusammenhängen zu spüren und in Darstellungen wie den Werken des Menzius einen verbindenden Faden zu suchen. Darin zeigt sich eine natürliche Neigung für konstruktives Denken, wie sie grade in China nicht häufig zu finden ist. Neben den klassischen Studien beschäftigten den jungen Mann Fragen der Militärwissenschaft. Eifrig aber warf er sich auch auf das Studium des Buddhismus und des Taoismus. Wahrscheinlich wurde er diesen Wissensgebieten zugeführt durch zwei von den drei befreundeten Gelehrten, denen sein Vater die Erziehung des Sohnes in die Hände gelegt hatte. Denn zwei von ihnen (Hu Tchi hsi und Liu P'ing schan) gehörten zu der sicher großen Zahl damaliger Gebildeten, die in den Spekulationen des Buddhismus und Taoismus Befriedigung für ihr Denken und ihr Gemütsleben suchten. Besonders der zweitgenannte, Liu P'ing schan, meinte in den buddhistischen Philosophemen eine willkommene Ergänzung zu der Konfuzianischen Lehre zu finden. Man darf annehmen, daß es gerade die metaphysischen Stoffe waren, mit denen man die rein diesseitigen und nüchternen Anweisungen des Konfuzianismus zu vervollständigen suchte. Tschu Hsi hatte metaphysische Neigungen genug, um dies Bedürfnis zu verstehen, und die Einwirkung zweier seiner väterlichen Freunde und Berater wird auf diesem Punkte nicht vergeblich gewesen sein. Mag es übrigens damit stehen, wie es will, soviel ist aus den Umständen seines Lebens und aus den biographischen Angaben Späterer ganz sicher, daß Tschu Hsi eine Zeitlang mit dem Buddhismus sich tief eingelassen hat. Der Taoismus kam daneben wohl nur soweit in Frage, als sein spekulatives Element den buddhistischen Konzeptionen nahe stand.

Der junge Gelehrte nahm 1151 (21 Jahre alt) in T'ung an (Provinz Fukien) ein Amt an, das ihm unter anderem Unterricht und Erziehung der Jugend zur Aufgabe machte, worin seine dafür wie geschaffene Natur sehr Tüchtiges leistete. Nach 6-7 Jahren zog er sich jedoch aus dem Amtsleben wieder zurück, um mit mehr Freiheit seiner literarischen Arbeit nachgehen zu können; nur nominell war die Stellung, welche er sich im Zusammenhang mit dem Nan-yo-Tempel auf dem heiligen Berge Hêng schan (Provinz Hunan) übertragen ließ. In dieser Zeit studierte er unter der Anweisung eines weit berühmten Konfuzianischen Gelehrten Li T'ung (Li Yen p'ing), durch dessen Einwirkung er allmählich von den buddhistisch-taoistischen Ideenkreisen wieder loskam. Doch hat sich der Kampf um die Geltung des Buddhismus durch mehrere Jahre hingezogen und beweist, wie groß seine Anziehungskraft gewesen sein muß. Der Umgang mit Li Yen p'ing, der schon beim Antritt des Amtes in T'ung an begonnen hatte und erst mit dem Tode Lis (1163) endete, brachte Tschu Hsi auf die volle Höhe seiner geistigen Ausbildung. In diesen Jahren (1159 bis 1163) schreibt er seine ersten, zur Veröffentlichung bestimmten Arbeiten, zunächst eine Sammlung von Aussprüchen eines Konfuzianischen Zeitgenossen, der eigene Wege der Auffassung ging und eine Schule um sich sammelte, dann Schriften zur Einführung in das Lön yü des Konfuzius und kleinere Abhandlungen. Mehrfach schon war Tschu Hsi aufgefordert, worden, sich bei Hofe vorzustellen, damit der Kaiser ihn persönlich kennenlerne. Endlich (1163) gab er dem Drängen nach; er legte bei der Audienz dem Kaiser zugleich drei Denkschriften vor, von denen indes zwei, die an Politik und Hofleben Kritik übten, keine Anerkennung fanden. Der Herrscher entließ den jungen Kritiker zunächst wieder in seine Heimat, wo dieser sich für längere Jahre in Gemeinschaft mit gleichstrebenden Freunden eifrigst seinen Studien hingab, doch nicht ohne energische Tätigkeit im praktischen Leben, wenn Notstände und Unglücksfälle die Hilfe und Ratschläge der Begabten und zur Führung Berufenen nötig machten. Allerlei wissenschaftliche Arbeiten, größtenteils den Klassikern und der alten Geschichte gewidmet, wurden von ihm veröffentlicht. Mehrere Versuche, ihn in das öffentliche Leben hineinzuziehen, scheiterten an seiner Weigerung, die angebotenen Aemter zu übernehmen. Die Liebe zu stiller Bücherarbeit war zu groß in ihm.

Endlich im Jahre 1179 gelingt es dem Zureden von Freunden, ihn zu bewegen, daß er die kaiserliche Ernennung zum Präfekten der Stadt Nan k'ang (Provinz Kiangsi) annahm, damit man ihn nicht des Mangels an Patriotismus beschuldigen könne. Seine Amtstätigkeit war sehr ersprießlich. Er verfuhr in allem nach den Maßstäben seiner Konfuzianischen Ideale und suchte dem Volke nicht allein seine Lasten zu erleichtern, sondern es auch vor allem zur Mitarbeit an der Verwaltung, zur Selbstregierung zu erziehen. Daß er dem Unterrichte der Jugend ganz besonderes Interesse schenkte, ist selbstverständlich. Nan k'ang ist am oberen Ende des Poyang-Sees im Angesichte des Luschan-Gebirges gelegen. Die Gegend ist sehr malerisch. Die wild zerrissenen Gipfel des Luschan (bis zu 2000 m) blicken weit über die Landschaft hin. Langsam senkt sich das Bergland in Vorhöhen nach Süden zu, Waldpartien leiten über zu Feld und Heide. In dieser Gegend lagen früher blühende, weit berühmte buddhistische Kloster, heute infolge der T'aiping-Bewegung größtenteils in Ruinen zerfallen, doch teilweise bereits wieder neu aufgebaut Der Verfasser besuchte die Gegend im Anfang 1903 und bezieht sich mit seinen Bemerkungen auf die damalige Zeit.. Aber auch andere alte Erinnerungen haften an dieser eindrucksvollen Gegend. Etwa eine Stunde von dem jetzigen stattlichen Kloster Hai hui szï entfernt zeigt man noch heute zwischen freundlichen Hügeln, die ein Bächlein durchrieselt, eine kleine ausgemauerte Höhle, die sogenannte »Höhle des weißen Hirsches« (Pai lu t'ung). Das ist eine Oertlichkeit, an der ein einsiedelnder Gelehrter aus der T'ang-Dynastie, namens Li P'o, eine Zeitlang sein Wesen trieb, begleitet von einem zahmen weißen Hirsche, der ihm seine Einkäufe nach Hause tragen half und ihm sonst Gesellschaft leistete. Da Li P'o von mancherlei lernbegierigen jungen Leuten besucht wurde, denen er die Klassiker erklärte, so bildete sich hier eine Schule, die auch nach seinem Tode als die »Schule der Höhle des weißen Hirsches« fortbestand. Doch war die Einrichtung zur Zeit des Tschu Hsi verfallen. Diesem aber gefiel der hübsche Platz und er schätzte das Andenken der Gelehrten, die dort mit so guter Absicht tätig gewesen waren, weshalb er mit Hilfe angesehener Freunde die Schule wieder in Gang und zu neuem Flor brachte. Er selbst weilte gern dort und sah sich oft von Scharen der studierenden Jugend umringt. Die Höhle des weißen Hirsches ist heute ein geheiligter Erinnerungsplatz für Tschu Hsis Verehrer. Eine Steininschrift des Kaisers Schön Tchï (1644-1661) kennzeichnet die Bedeutung der Stätte, auch zahlreiche andere Steine mit Inschriften sind dort aufgerichtet, und neben einem Tempel des Konfuzius ist dem Tschu fu tse ein Heiligtum errichtet. Natürlich besteht auch noch eine gebäudereiche Schule mit zahlreichen Zöglingen daselbst. In der alten Höhle zeigt man das steinerne Bild des weißen Hirsches, angeblich aus dem vierzehnten Jahrhundert stammend, das, wenn auch künstlerisch betrachtet keineswegs imponierend, doch die Erinnerung an den Ursprung der Schule festhält. –

Schwere Unglückszeiten, welche infolge von Naturkatastrophen über Nan k'ang hereinbrachen, veranlaßten Tschu Hsi, dem das Wohl des Volkes aufrichtig am Herzen lag, zu Eingaben an den Thron, worin er im Zusammenhange mit der Notlage auf gewisse Schäden in der Verwaltung und auf persönliche Untugenden von Beamten bis in die höchsten Stellen hinauf den Blick lenkte, jedoch nicht eben zur Befriedigung des Kaisers. Natürlich machte er sich auch sonst dadurch Feinde. Da er das Fruchtlose seiner Bemühungen erkannte, wollte er sich schon von der öffentlichen Tätigkeit zurückziehen, ließ sich aber noch halten, als ihm in der Provinz Chekiang andere Aemter übertragen wurden. Doch die innere Befriedigung war da nicht größer. So nahm er denn im Jahre 1183 entschlossen seinen Abschied und ließ sich nur wieder, wie früher schon einmal, die nominelle Würde eines Tempelverwalters in Tai tschou (Provinz Chekiang) übertragen. Mehrere Jahre konnte er stiller schriftstellerischer Arbeit widmen. Ein paar Male entbot der Kaiser ihn zu einer Audienz und machte Versuche, ihn in dieser oder jener Richtung des Staatsdienstes zu verwenden. Doch scheiterten diese Versuche, teils an Tschu Hsis eigener Abneigung, teils an den Intriguen von Feinden. Als aber Hsiao Tsung im Jahre 1189 dem Throne entsagt hatte und Kuang Tsung ihm folgte, überwand sich Tschu Hsi dazu, wieder einen Beamtenposten anzunehmen. Kuang Tsungs Regierung war kurz, schon 1195 folgte ihm Ning Tsung. Dieser berief den nun 64jährigen Gelehrten als seinen persönlichen Berater und Leiter an den Hof. Aber dort geriet er auf gefährlichen Boden. Zwischen dem Ministerpräsidenten Tschao Ju yü und einem ehrgeizigen und skrupellosen Neffen der Kaiserin-Mutter, Han Ni tschou, brach ein erbitterter Zwist aus, in den Tschu Hsi, mit dem Minister befreundet und die Schikanen des Han verabscheuend, sich schnell verwickelt sah. Der Ministerpräsident wurde gestürzt und vom Hofe verbannt; damit aber hatte auch Tschu Hsis Stunde geschlagen. Sowohl die Persönlichkeit des Gelehrten wie sein Einfluß durch die ihm anhängenden Beamten stand den Absichten des Han im Wege, und ein mißlungener Versuch Tschu Hsis, Han durch unmittelbare Vorstellungen bei dem Kaiser zu entlarven und ihn zu beseitigen, hatte das Maß vollgemacht. Man sammelte allerlei Anklagematerial gegen ihn, teils seine politische Haltung, teils sein persönliches Leben, teils seine Gelehrtenarbeit verdächtigend. Der Kaiser gab dem Angriffe nach und entsetzte den Weisen, der ihm wohl oft genug unbequem gewesen sein mochte, seines Amtes und seiner Würden (1197). Dieser zog sich gelassen in sein Heim zurück und wirkte weiter unter seinen zahlreichen Schülern. Nach zwei Jahren scheint der Kaiser das Ungerechte seines Verfahrens eingesehen zu haben: die allerhöchste Ungnade wurde von ihm genommen und eine gewisse Anerkennung wurde ihm zuteil. In ein Amt trat er jedoch nicht wieder ein. Seine Tage waren auch gezählt; im Frühling 1200 verschied er, umgeben von Freunden und Schülern, nachdem er bis zu Ende wissenschaftlich tätig gewesen war, und klaren Geistes noch in den letzten Augenblicken.

Dem Gesamtbilde des großen Mannes wird niemand die Anerkennung versagen können. Eine ungewöhnliche Begabung und Energie war hier verbunden mit einer aufrechten und lauteren Persönlichkeit, die, was sie lehrte, auch zu leben suchte und sich durch Ungunst keiner Art schrecken und aus ihrer Bahn werfen ließ. Die persönliche Neigung ging wohl vor allem dahin, in einem stillen, äußerlich völlig anspruchslosen Gelehrtenleben das unermeßliche Feld gedanklicher Probleme zu bestellen, das sich vor seinem geistigen Auge auftat. Aber doch entzog er sich schließlich der praktischen Wirksamkeit im Staatsganzen und im Volksleben nicht, sondern erwies sich auch darin vorbildlich. Seine sehr ausgedehnte literarische Arbeit erstreckte sich, abgesehen von den eigentlich philosophischen Fragen, mit denen wir uns sogleich näher zu beschäftigen haben, auf mancherlei andere Gebiete, so auf das der Geschichte, wo er das gewaltige Werk des Szï ma Kuang und seiner Mitarbeiter umgestaltete und in 59 Bücher zusammenzog, allerdings mit Hilfe einer Anzahl von Schülern; ferner auf das der Biographie (»Tao t'ung«, Darstellung des Lebens einer großen Zahl hervorragender Männer), der Textkritik, der Jugendunterweisung, der Familienbräuche. Seine Arbeiten waren keineswegs ein leichtes Spiel der Einbildungskraft, sondern sie waren gründlich durchdacht und an der Wirklichkeit des Lebens geprüft.

Die philosophischen Untersuchungen des Tschu Hsi haben hauptsächlich zwei Themata im Auge, nämlich die Erklärung des Weltdaseins und die Erklärung des menschlichen Wesens. Der Teil seiner gesammelten Werke, der es mit der Erklärung des Weltdaseins zu tun hat (Kap. 49 und 50), führt den besonderen Titel: Li Tch'i. Die Worte bezeichnen zwei Grundbegriffe der philosophischen Konstruktion unseres Philosophen, die von entscheidender Wichtigkeit sind und um so vorsichtiger erfaßt werden müssen, als sie zwar wohl verwandt sind mit gewissen uns geläufigen Grundbegriffen, doch aber sich in ihrer Totalität mit diesen nicht decken, sondern einen andern Geltungsbereich besitzen.

Tch'i, der zweite der genannten Begriffe (in gewöhnlicher moderner Bedeutung »Luft«, »Hauch«, »Dunst«, »Atem«), bezeichnet bei Tschu Hsi, rund gesprochen, die Materie oder die materielle Seite des Weltdaseins. Man muß sich aber hüten, diese Bezeichnung zu beschränken auf das, was im Abendlande gewöhnlich so heißt, nämlich das sinnenfällige Element des Existierenden. Allerdings ist das Sinnenfällige, das Greifbare, uns in fester, flüssiger oder gasiger Form Erscheinende, zuerst und vor allem Tch'i; aber dieser Begriff hält da nicht inne, wo unser Begriff des sinnlich Wahrnehmbaren aufhört. Die Linie des Tch'i setzt sich vielmehr fort ins Unsichtbare. Jenseits des Wahrnehmbaren, also in einem Bereich, den wir im Gegensatze zu allem Körperlichen geistig zu nennen geneigt sein würden, ist das Tch'i eben auch noch vorhanden als die Urwurzel alles dessen, was in Erscheinung tritt. Und wiederum dürfen wir bei dem Tch'i, das in Erscheinung tritt, nicht allein denken an das rein Sinnenfällige, das äußerlich Stoffliche (wie wir bei dem Worte Materie leicht tun), sondern wir müssen das innerlich darin Wirkende, die »Kräfte« im Stoff, die geistige Konstituente darin einschließen. Es ist also nicht unser Gegensatz von Kraft und Stoff, der in dem Tch'i und Li ausgedrückt ist, so wenig wie Geist und Körper. Was für ein Gegensatz ist es denn? Mit andern Worten: was ist das Li dem Tch'i gegenüber?

Es ist das Weltgesetz, das regulierende Prinzip, der Weltwille. Denn durch die Gesamtheit des Existierenden hin geht ein regulierendes Prinzip, das sich in jedem Einzelwesen zeigt als besonderes Gesetz seines Werdens, als seine Anlage und Bestimmung, das aber ein in sich geschlossenes Einheitliches ist, das gesamte Werden beherrschend. An Kräfte in dem Sinne tatsächlich zu spürender Einflüsse ist hier nicht zu denken. Die Kräfte liegen, wie wir schon sahen, für Tschu Hsi im Stoff, dem Tch'i. Li ist vielmehr etwas rein Ideelles, das seinem Wesen nach andersartig ist als die Welt der Erscheinungen, wohl aber diese nach seinen Intentionen bestimmt. Was nun besonders charakteristisch ist für dies Weltgesetz, das ist seine völlig ethische Qualität. Es ist ganz und gar eine ethische Größe, es ist das Ethische zur metaphysischen Grundlage gemacht. Denn Li in seiner näheren Ausprägung, in seiner Entfaltung, erweist sich als die Einheit der vier ethischen Mächte: Liebe, Rechtlichkeit, Ehrerbietung, Einsicht. Diese Differenzierung in der Ausprägung hängt aber schon zusammen mit der Verwobenheit von Li und Tch'i, von der wir weiter noch zu sprechen haben werden. Es zeigt sich nur an ihr deutlich, daß Li einen reinweg ethischen Charakter trägt, daß es ein ethisch bestimmter Weltwille ist.

Wir haben also bei Tschu Hsi zwei Urmächte vor uns, auf denen das Weltdasein beruht, Li und Tch'i. Beide scheinen zunächst ohne höhere Auflösung nebeneinander zu stehen und aufeinander angewiesen zu sein. Das 49. Kapitel der Werke des Philosophen, in welchem, wie oben erwähnt, seine Kosmologie dargelegt wird, beginnt mit dem Satze: »Im Weltall existiert nirgends Tch'i ohne Li, und es existiert nirgends Li ohne Tch'i.« Bald darauf heißt es: »Li ist niemals getrennt von Tch'i vorhanden«, und: »Von einem Vorher und Nachher kann bei den beiden streng genommen nicht die Rede sein« [R494]. Denn ohne Vorhandensein von Tch'i ist nichts da, worin sich Li erweisen könnte, und ohne Li ist Tch'i nicht als existierend zu denken. Auch werden beide Urmächte als »grenzenlos«, »unendlich« bezeichnet. Danach sieht es aus, als ob wir es mit einem prinzipiellen Dualismus zu tun hätten, freilich einem Dualismus, welcher nicht zwei entgegengesetzte, miteinander kämpfende Prinzipien aufstellt, sondern zwei mit und ineinander arbeitende, aber wesensverschiedene Prinzipien. Jedoch bei genauerem Zusehen verspürt man deutlich, daß dieser Dualismus nicht rein ist, sondern daß sich eine Tendenz auf Monismus geltend macht. Die gleiche Gültigkeit und Einschätzung der beiden Urmächte wird nämlich doch wieder eingeschränkt zugunsten des Li. In zeitlicher Hinsicht, sagt Tschu Hsi, kann von keiner der beiden Urmächte gesagt werden, daß sie vor der andern war. Anders aber steht es mit dem Werturteil. An Wert steht das Li über dem Tch'i. Diese Verschiedenheit der Einschätzung scheint sich dem Philosophen von zwei Gesichtspunkten her aufgedrängt zu haben. Einmal vom Standpunkt der Ueberlegenheit des rein Geistigen gegenüber dem Materiellen. Wir sahen, daß Tch'i als Vertreter des materiellen Prinzips gefaßt wird, Li aber als etwas rein und absolut Geistiges. Die unwillkürliche Neigung der Menschen nun, die wir überall beobachten können, das Materielle als etwas Gröberes und Roheres anzusehen denn das Geistige, hat wohl auch in Tschu Hsi nachgewirkt. Er argumentiert nämlich so: »Li ist nie losgelöst von Tch'i vorhanden; jedoch ist Li unkörperlich, Tch'i dagegen ist körperlich. Mit Rücksicht darauf, daß etwas der Körperlichkeit unterworfen oder nicht unterworfen ist, liegt da nicht ein Höher oder Geringer vor? Während das Li unkörperlich ist, ist das Tch'i grob und hat Bodensatz« [R495]. Der zweite Gesichtspunkt, der dem Li einen Vorrang vor dem Tch'i gibt, ist der leitende, bestimmende Charakter des Li. Das Tch'i wird, was es wird, durch Leitung des geistigen Prinzips. Dann ist letzteres doch also das herrschende Element, der Ueberlegene. Dieser Gedankengang führt, wenn man ihn zum Maßstab des Ursprünglichen macht, dahin, eine logische Priorität des Li zu konstatieren: Tch'i ist aus Li entstanden, verdankt ihm sein Dasein. Da nun die menschliche Vorstellung das Körperliche als etwas äußerlich Umgrenztes auch leichter als zu einem gewissen Zeitpunkt entstanden betrachten kann, das Geistige dagegen eher als immer existierend, weil nicht an Gestaltung gebunden, so läßt sich Tschu Hsi gelegentlich sogar zu der Aeußerung hinreißen: »Wenn wir die Frage (der zeitlichen Priorität) zum allerhöchsten Ausgangspunkt zurückverfolgen, dann sieht es aus, als ob Li früher, Tch'i aber später war« [R496]. Auch andere seiner Aeußerungen über das Früher und Später der beiden Urmächte klingen, wie wenn diese Frage den Philosophen in eine gewisse Unklarheit versetzt habe [R497]. Jedenfalls aber galt ihm dem Werte nach das Li als dem Tch'i übergeordnet. Hierbei darf man nicht außer acht lassen, daß wie wir oben schon betonten, der wesentliche Charakter des Li ein ethischer ist. Es ist somit die Ueberordnung des Ethischen über das Physische, die in der höheren Wertung des Li einbeschlossen liegt, vielleicht sogar das tiefste Motiv jener Einschätzung bildet.

Wir haben also doch nicht einen richtigen Dualismus, sondern eher eine Anbahnung von Monismus bei Tschu Hsi festzustellen. Bemerkenswert aber ist zu gleicher Zeit, daß die überragende Urmacht, das Li, bei unserm Philosophen keinen persönlichen Charakter annimmt. Man befragte ihn einmal über gewisse Stellen aus den Klassikern, wo gesagt wird, daß Schang Ti oder T'ien, also die höchste göttliche Macht des altchinesischen Glaubens, dies oder das tue; der Frager wollte wissen, ob damit gesagt sein solle, daß ein wirklicher (persönlicher) Herrscher in der Höhe des Himmels existiere, der so handle, oder ob der Himmel unpersönlich (wörtlich: ohne Herz) zu denken sei und wir sein Handeln auf das Li zurückzuführen hätten. Die Antwort auf diese Frage lautete unzweideutig: alle solche Aussagen seien so zu verstehen, daß das Li die handelnde Macht sei [R498]. Von einer menschenartigen Personifizierung des letzten Weltprinzips rückt Tschu Hsi an dieser Stelle wie auch noch an andern deutlich ab. Freilich lebte auch in seinem Li etwas, das allein in Analogie zur menschlichen Persönlichkeit gedacht werden konnte und das der Philosoph nicht preisgeben durfte, nämlich der lenkende, ethisch bestimmte Wille. Die Schwierigkeit, welche sich hier auftat (wie schließlich immer bei Versuchen, sich über die Gottheit klar zu werden), ist deutlich formuliert in folgendem Worte des Tschu Hsi: »Allerdings ist es verkehrt, zu sagen, wie man heutzutage wohl sagt, daß da ein Mann in dem Himmel ist, der über die Sünden urteilt, aber es ist auch verkehrt, zu sagen, daß kein Herrscher da sei« [R499].

Die Hinneigung zum Monismus tritt noch deutlicher hervor da, wo die bisher entwickelten Ideen des Philosophen sich zusammenschließen mit dem, was seine Vorgänger und Lehrer, vor allem Tschou tse, an kosmologischen Gedanken vertreten hatten. Wir sahen oben (S. 315), daß der letztere aus einer vereinzelten Stelle des I tching ein höchstes Weltprinzip erhob, das sog. T'ai tchi. Mit diesem T'ai tchi wurde die Entstehung von Yang und Yin in Verbindung gesetzt und damit die Bahn des kosmologischen Werdens eröffnet. Diese ganze Gedankenreihe, die eigentlich unabhängig neben Tschu Hsis Vorstellung der beiden Urmächte herlief, wurde von diesem nachdrücklich bejaht und in die eigenen Ideen verwoben, um so den Uebergang von den zwei Urmächten zur weiteren Weltentwicklung zu finden. Und grade indem Tschu Hsi das tat, offenbarte er noch klarer seine innerliche Hinneigung zum Monismus. Denn er setzte seine Urmacht Li ohne weiteres dem höchsten Weltprinzip des T'ai tchi gleich. Schon im Eingang des zweiten Abschnittes seiner Kosmologie erklärte Tschu Hsi: »Das T'ai tchi ist eben genau dasselbe wie das Li.« Bei Befragung wiederholt er: »Das T'ai tchi ist einfach das in Himmel und Erde und allen Wesen vorhandene Li«; und er führt dann weiter aus, daß es eben dieses Li gewesen sei, welches sich bewegend das Yang, in Ruhe aber das Yin hervorgebracht habe, wie es Tschou tse von dem T'ai tchi ausgesagt hatte. Durch diese Identifizierung des T'ai tchi mit Li gibt aber Tschu Hsi seinem System offenkundig eine monistische Spitze: das Li, nicht die andere Urmacht Tch'i ist das »erhabene Aeußerste, das Unendliche«. Uebrigens ist es streng genommen vielleicht nicht einfach eine Identifizierung, die Tschu Hsi mit Li und T'ai tchi vornimmt, sondern ein gleiches Letztes wird durch diese zwei Bezeichnungen unter zwei verschiedene Gesichtspunkte gebracht. Als T'ai tchi steht es mehr vor uns im Sinne der letzten hervorbringenden Ursache, als Li im Sinne des letzten regelnden und leitenden Willens. Daher verbindet sich bei unserm Philosophen das T'ai tchi unwillkürlich leichter mit jener zweiten Urmacht Tch'i (Hauch. Odem), die wir oben als Materie im weiteren Sinne kennenlernten. Wir lesen da Aeußerungen, die gradezu verwirren können, indem das »erhabene Aeußerste« darin einfach der »Materie« gleichgesetzt wird. »Alle Wesen, die vier Jahreszeiten, die fünf Elemente, gehen einfach hervor aus dem T'ai tchi. Das T'ai tchi ist einfach ein einheitlicher Urstoff ( Tch'i, Hauch), der, sich schräg zerteilend, zu den zwei Urstoffen ( Tch'i) wird; von ihnen ist der sich bewegende Yang, der ruhende Yin. Indem er sich weiter zerteilt, bildet er die fünf Urstoffe ( Tch'i, d. h. die fünf Elemente), weiter sich verbreitend wurde er zu den unzähligen Wesen« [R500]. Gleich darauf: »Das T'ai tchi ist kein gesondertes Einzelwesen. Es ist Yin und Yang; es ist auch in Yin und Yang; es ist die Fünfheit der Elemente und es ist in der Fünfheit der Elemente; es ist die Gesamtheit der Wesen und ist in der Gesamtheit der Wesen.« Wenn nun auch wohl gesagt wird, daß das T'ai tchi das Li sei, so soll mit dieser letzteren Benennung doch vorwiegend eine andere Richtung der Wirksamkeit angedeutet werden, nämlich die absolut geistig gedachte Lenkung des stofflichen Werdens in diese und jene Bahnen, wie schon gleich die Möglichkeit, daß der Urstoff sich in die zwei Seinsweisen Yang und Yin zerteilen kann, unmittelbar von dem Li abhängig gemacht wird.

Aus einem letzten Unendlichen also, das T'ai tchi oder Li genannt werden mag, je nach dem vorwiegenden Gesichtspunkt, geht das Weltdasein hervor. Und zwar ist die erste Phase des Entstehens das Hervortreten der doppelten Größe des Yang und Yin. Auf welche Weise Tschou tse in seiner Tafel des Urprinzips das letztere mit der Entstehung von Yang und Yin in Verbindung gebracht hat, haben wir oben (S. 316) gesehen. Es werden dabei Bewegung und Ruhe als die zwei Grundphänomene einander gegenübergestellt. Dem entspricht auch die Lehre des Tschu Hsi. Für ihn ist Yang die Materie in Bewegung, Yin die Materie in Ruhe. Man hat sich die beiden Größen nicht als aus sich wirkende Kräfte, sondern als zwei verschiedene Weisen der Existenz vorzustellen. Die wirkende Kraft steckt in der Materie, während sie als Yang oder Yin in Erscheinung tritt. Bewegung und Ruhe sind die Grundkennzeichen dieser beiden Größen. Dieser Gegensatz wird indes nach verschiedenen Seiten hin weitergebildet. Bei dem Begriffe der Bewegung macht sich unwillkürlich der Gedanke an eine geistige Qualität, ein reines Handeln, geltend, während demgegenüber das Ruhen unwillkürlich ein wahrnehmbares Substrat verlangt, da Ruhen an sich eine unvollziehbare Vorstellung ist, somit nach einer materiellen Ergänzung hin tendiert. So erklärt es sich, daß die Begriffe Yang und Yin mit den Begriffen Geist und Körper je in eine engere Verbindung gebracht werden, und daß also hier in kleinerem Kreise ein ähnlicher Gegensatz auftritt, wie bei Li und Tch'i im Urbeginn. Eine andere naheliegende Begriffsverbindung ist die, daß Yang, die Größe der Bewegung, auch als die handelnde, die aktive Größe, Yin dagegen als die passive, sich unterwerfende Größe angesehen wird.

Das Auftreten der Erscheinungen von Bewegung und Ruhe setzt ein Etwas voraus, woran die Erscheinungen stattfinden können. Das ist die Materie, Tch'i, immer in jenem umfassenden Sinn verstanden, der oben (S. 329 f.) auseinandergesetzt wurde, also nicht beschränkt auf sinnlich Wahrnehmbares. Mit dieser Materie wird Yang und Yin zuweilen gradezu gleichgesetzt; diese Doppelgröße ist eben nichts weiter als das Verhalten der Materie. Eine schematische Darstellung wird diesen Beziehungen gegeben, indem man einen Kreis durch eine doppelt gekrümmte Linie in zwei Hälften teilt: Daß die Grenze der zwei Gegengrößen durch eine Doppelkurve anstatt eines graden Striches gegeben wird, soll das bewegliche Ineinanderfließen der beiden andeuten. Denn unablässig gehen die zwei Seinsweisen ineinander über, einander durch ihr Wesen hervorrufend: die Bewegung verlangt, ausgearbeitet, nach Ruhe; die Ruhe treibt, ausgeruht, in neue Bewegung hinein. Eine beständige rhythmische Veränderung liegt also am Grunde aller Lebensvorgänge, eine Veränderung, die an dem Tch'i, der »Materie« stattfindet, weshalb der Lebensprozeß, wenn man auf sein Wesentliches hinweisen oder ihn in besonders konzentrierten und charakteristischen Erscheinungen bezeichnen will, auch gradezu als »Wechsel«, I, benannt werden kann, wie auch die Materie selbst nach ihrer wichtigsten Betätigung I heißen kann, das »ewig Wechselnde«.

Jedoch: woher der Anfang jener rhythmischen Abwechslung und Ruhe? Woher der Anlaß zur ersten Bewegung? Der muß gefunden werden in dem Li, jener überragenden rein geistigen Macht, die, wie wir sahen, mit dem »Erhabenen Unendlichen« identifiziert werden kann. Das Li aber ist, wie auch schon früher bemerkt wurde (S. 330), seinem tiefsten Wesen nach eine ethische Größe. Ethisches Streben des Li ist also der urerste Impuls, der hinter dem Entstehen alles Lebens liegt. Damit ist bereits darauf hingewiesen, daß sich die Entwicklung dieses Lebens vor allem auf der ethischen Linie abspielen muß.

Aus dem Hin und Her der zwei Mächte Yang und Yin bilden sich nun ferner zunächst fünf neue Agentien, die als die Grundlage alles weiteren Werdens anzusehen sind. Man nennt sie chinesisch Hsing, ein Wort, das »Handeln«, »Wandeln« bedeutet (vgl. S. 38). Da sie ohne Zweifel Aehnlichkeit haben mit dem, was in anderen Denkkreisen als »Elemente« der sichtbaren Welt angesprochen wird, übersetzt man das chinesische Hsing gewöhnlich mit »Element«. Die fünf Elementarkräfte heißen: Wasser, Feuer, Holz, Metall, Erde. Man muß sich aber hüten, diese Elementarkräfte, so wie sie in Tschu Hsis Philosophie funktionieren, ohne weiteres mit den irdischen Realitäten von Wasser, Feuer usw. gleichzusetzen. Sie sind immaterielle Agentien, die bestimmt sind, den Aufbau der Welt in gewissen Richtungen (angedeutet in jenen Namen) zu bewirken. Die Verschiedenheit der Elementarkräfte und ihrer Wirkungsart liegt begründet in der verschiedenen Weise, wie Yang und Yin in ihnen tätig sind. Das Uebergewicht des einen oder des andern in ihnen, die Art, wie das eine auf das andre wirkt und wie die Eigenschaften von Yang und Yin sich in ihnen mischen, gibt jeder der Elementarkräfte ihre besonderen Züge. Diese Züge aber deuten weiter in die Zukunft: auf ihnen (in allerlei Kombinationen) beruhen mancherlei Faktoren, die den festen, gesetzlichen Zusammenhang des kommenden Kosmos begründen sollen. Daher haben die Elementarkräfte gewisse Beziehungen zu allerlei späteren Größen, Beziehungen, die an die »Entsprechungen« des mythischen Denkens erinnern, so zu bestimmten Zahlen, zu den Jahreszeiten und auch – da ja die ethische Werdelinie der tiefste Nerv der Welt ist – zu den wichtigsten sittlichen Qualitäten.

Alles bisher Erwähnte, also das Li oder T'ai tchi, die beiden Mächte Yang und Yin, die fünf Elementarkräfte, rufen nun in ihrem Zusammenwirken die Grundform des Kosmos hervor, nämlich Himmel und Erde. Dies sind aber nicht die empirischen Größen, die wir im sichtbaren Himmel und der sichtbaren Erde vor uns haben, sondern geistige Gegenbilder davon, die nunmehr erst die Erschaffung der sichtbaren Welt übernehmen sollen. Sie tragen deshalb auch besondere Bezeichnungen, die aus dem Klassiker der Wandlungen, dem I tching, hergenommen sind, nämlich Tch'ien und K'un. Die uralte Vorstellung, daß das Weltall von Himmel und Erde geschaffen, nämlich aus ihrer (ehelichen) Vereinigung entsprossen sei, bekommt hiermit in dieser Philosophie einen leichten Akzent. Diese aus ältestem Volksglauben fließende Bestimmtheit tritt auch darin zutage, daß Himmelsgeist und Erdgeist (Tch'ien und K'un) auf ihrem Platze in der Kosmologie sozusagen die Rolle wiederholen, die an früherer Stelle Yang und Yin zu spielen hatten, speziell in der Beziehung, daß der Himmel (wie Yang) das geistige Element, die Erde (wie Yin) das materielle repräsentiert. Beide Einflüsse mischen sich (wie Yang und Yin) in der Konstitution der realen Welt, vor allem im Menschen. Die Parallelität von Himmel und Erde mit Yang und Yin in ihren kosmischen Funktionen tritt dem Leser des dritten Abschnitts in Tschu Hsis 49. Kapitel klar entgegen in dem Satze: »Uranfänglich waren Himmel und Erde einfach nur Materie in Yang- und Yin-Form.«

Von den kosmischen Potenzen Himmel und Erde werden nun alle Wesen, einschließlich des sichtbaren Himmels und der sichtbaren Erde hervorgebracht. Genaue Einzelangaben begegnen uns dabei nicht. Höchstens daß das Entstehen des Himmels besonders mit dem Element Feuer, das der Erde besonders mit dem Element Wasser (aus dem sich durch Verdichtung Erde gebildet habe) in Verbindung gebracht wird, dem entsprechend, daß jener eine feinere, geistige, diese eine gröbere, materielle Natur hat. Von der Entstehung des ersten Menschen heißt es: »Er entstand durch Umgestaltung der Materie. Indem die Quintessenz der Zwei (Yang und Yin) und der Fünf (der Elementarkräfte) sich vereinigte, wurde daraus seine Gestalt« [R501]. Der phänomenale Himmel besteht für Tschu Hsi nur aus Luft, die die Erde auf allen Seiten umgibt und sich in unendliche Ferne ausdehnt. Da, wo sie die Erde trägt, ist sie stark verdichtet, so daß sie der Last gewachsen ist. Der Himmel dreht sich beständig um die Erde. Die gewöhnlichen Umdrehungen machen einen Tag aus; doch gibt es außerdem Perioden größerer Umwälzung.

Der Weltprozeß ist nach Tschu Hsi ein ewig sich wiederholender Vorgang, der seinen festen gesetzlichen Verlauf hat, ähnlich dem Wandel der Jahreszeiten. Vier große Abschnitte sind jeder Weltperiode eigen, zuerst ein Abschnitt des Entstehens (mit dem Menschen als Gipfel und Abschluß des Werdens), dann ein Abschnitt des Aufblühens, dann einer des Abstiegs, schließlich einer des Untergangs bis zum völligen Chaos hin. Die ganze Weltepoche wird ein »großes Jahr« ( Ta sui) genannt und auf 129 600 gewöhnliche Jahre berechnet. Bei dieser Gelegenheit bemerkt der Philosoph: »Wir sehen oft auf hohen Bergen Gehäuse von Schaltieren und Perlmuscheln, die aussehen, wie wenn sie im Gestein entstanden wären. Solch Gestein gehört zu dem Erdboden einer ehemaligen Weltepoche. Die Schaltiere und Perlmuscheln sind Wasserbewohner. Das was tief unten war, ist durch Umwälzung nach oben gekommen, und das, was weich war, ist durch Umwälzung hart geworden. Eine höchst sorgfältige Untersuchung dieses Gegenstandes würde sich lohnen« [R502].

Das sind die Grundzüge von Tschu Hsis Kosmologie.

Indem wir nun übergehen zu seiner Lehre vom Wesen des Menschen, müssen wir als Vorbereitung dafür einen Zug der Weltauffassung noch einmal recht ins Licht stellen, auf den schon mehrfach vorübergehend hingewiesen wurde. Das ist die wesentlich ethisch bestimmte Eigenart des Kosmos.

Wir erinnern uns, daß das Urprinzip des Weltdaseins, das T'ai tchi, gleichgesetzt wurde mit Li, dem Weltgesetz, daß aber dies letztere als eine im Kern sittlich, nämlich vollkommen rein und völlig gut geartete Größe, zu verstehen ist. Das Li umfaßt in sich (noch unentwickelt) die grundlegenden ethischen Kräfte: Liebe, Rechtlichkeit, Ehrerbietung und Einsicht. Es ist bezeichnend, daß neben Li in dieser Bedeutung als ein Parallelausdruck das Wort Tao gebraucht wird. Dies Stichwort des Taoismus ist von Tschu Hsi in einer gewissen Beschränkung adoptiert, nämlich eben als sittliche Weltordnung, die sich in jedem Wesen geltend macht, nicht als »der Welt Lauf« in einem sittlich indifferenten Sinne, wie etwa auch ein Yang Tschu (oben S. 126 ff.) es hätte gebrauchen können. Indem Li und Tao auf diese Weise gleichbedeutend werden, liegt häufig doch eine kleine Nuance des Unterschiedes vor, sofern Li meistens die sittliche Bestimmtheit der Welt mit Hinblick auf die Einzelwesen, Tao dagegen dasselbe im allumfassenden Ueberblick wiedergibt. Beide aber decken sich im wesentlichen, soweit bei Li die sittliche Qualität in Frage kommt. Als kosmologisches Prinzip geht Li natürlich über Tao hinaus.

Der Kosmos eine sittliche oder zur Sittlichkeit bestimmte Größe! Derselbe Gedanke macht sich noch einmal an einer andern Stelle deutlich geltend, da nämlich, wo mit der Einführung von Himmel und Erde als kosmischer Potenzen der Schöpfungsakt diesen auferlegt wird, und zwar speziell dem geistigen Prinzip unter ihnen, dem Himmel. Auch der schaffende Himmel ist eine rein gute Macht, auch er bildet die (noch unentfaltete) Einheit der wesentlichen Kräfte des Guten. Auch hier sind es vier Konstituenten des Ethischen, die das Wesen des Himmels ausmachen. Gemeinsam werden sie genannt »die Bestimmung« ( Ming); im einzelnen heißen sie: Yüen, Hêng, Li, Tschêng (oder Tschên). Sie entsprechen den vier oben erwähnten, im Li vereint ruhenden Eigenschaften, sind aber mehr an den Naturereignissen orientiert, indem nämlich jede von ihnen als die charakteristische Art je einer der vier Jahreszeiten angesehen wird. Yüen (»Ursprung«) ist der Werdetrieb; Hêng (»Erfolg«, »Vortrefflichkeit«) ist die Entfaltung des Schönen; Li (»Nutzen«) ist das Streben, für andere zu wirken; Tschêng (»Zurückhaltung«) ist der Trieb des latenten Bewahrens eines Restes, aus dem Neues werden kann. Es liegt auf der Hand, wie diese vier Konstituenten des himmlischen Willens oder der himmlischen Bestimmung sich leicht den betreffenden Jahreszeiten einfügten: der Werdetrieb dem Frühling, die Schönheit dem Sommer, der Nutzen dem Herbste, die Zurückhaltung dem Winter. Auch für die S. 337 erwähnten vier Abschnitte der großen Weltepochen gelten jene vier Konstituenten als die regierenden Größen. Mit den vier Grundtugenden, die im Li vereint sind, fügen sich die vier Konstituenten des himmlischen Willens folgendermaßen zusammen: Yüen, der Werdetrieb, gehört zur Liebe ( Jên, nicht die geschlechtliche Liebe, sondern die Güte der Gesinnung); Hêng, die Schönheit, gehört zur Ehrerbietung, der dritten Grundtugend; Li, der Nutzen, gehört zur Rechtschaffenheit; Tschêng, die Zurückhaltung, gehört zur Einsicht.

So durchströmen den physischen Kosmos von vornherein in festen Linien und Richtungen ethische Bestimmtheiten.

Gehen wir nun weiter über zu dem Menschen und seinem Wesen, so liegt es in der natürlichen Fortsetzung der bisherigen Gedanken, daß des Menschen Wesen verstanden werde als die volle Entfaltung der im übrigen Kosmos schon angedeuteten ethischen Anlagen, als das verwirklichte Ideal. Dieser Gedankengang wird nun freilich durch den tatsächlichen Befund widerlegt, denn wir finden in dem wirklichen Menschen etwas sehr anderes als das erfüllte Ideal der sittlichen Forderungen. Die an dieser Stelle entstehenden Schwierigkeiten sucht Tschu Hsi auf folgende Weise zu lösen. Unter dem Begriffe »Natur« ( Hsing) des Menschen versteht er zweierlei, je nach einem verschiedenen Standpunkt und Gesichtswinkel. Einmal nämlich sieht er den Menschen an auf das hin, was er nach himmlischer Bestimmung zu sein hat, was er »eigentlich« ist; andererseits sieht er den Menschen an auf das hin, was er unter den gegebenen Umständen und natürlichen Einflüssen »vorläufig« ist. Wir können die beiden Gesichtspunkte am einfachsten unterscheiden, wenn wir das in beiden Fällen gebrauchte chinesische Wort »Hsing« das erste Mal mit » Wesen«, das zweite Mal mit » Natur« des Menschen übersetzen.

Des Menschen Wesen ist zu suchen in dem, wozu er bestimmt ist. Diese Bestimmung geht aus vom Himmel, sie beruht auf dem Tao, welches durch die Welt hinwirkt, sie wurzelt letzten Grundes in der Urmacht Li nach ihrem sittlichen Charakter. Indem die Bestimmung nun auf den Menschen sozusagen Beschlag legt, gibt sie seinem Wesen ein Gepräge, das dem Menschen dauernd und unverlierbar eigen ist, nämlich das sittliche Urteil, den kategorischen Imperativ, kurz und einfach ausgedrückt: das Gewissen. Der Inhalt der Gewissensforderung umfaßt jene vier Ideale, von denen wir schon öfter hörten: Liebe, Rechtschaffenheit, Ehrerbietung und Einsicht, die zugleich nach der Seite der vorhin erörterten vier »Konstituenten« formuliert werden können, und die der weiteren Ethik als Grundlage dienen. Daß dem Menschen dies sittliche Streben eingegeben ist, erst das und das allein macht sein Wesen im vollen Sinn, macht sein echtes Leben aus.

Des Menschen Wesen, das, was ihn zum Menschen erhebt, ist also sittliche Bestimmtheit. Im Menschen realisiert sich der sittliche Endzweck des Daseins. So angesehen kann der Mensch gut heißen. Die alte Streitfrage, welche seit den Tagen des Menzius die chinesischen Denker so viel beschäftigt hatte, die Frage: ist der Mensch seinem Wesen nach gut oder böse? lebt auch in Tschu Hsi und seinen Zeitgenossen noch. Eine eigene Schule hatte damals diese Frage zum besonderen Lehrgegenstand gemacht; sie hieß die Hu-Schule von ihrem Gründer Hu An kuo (geb. 1074), dessen Sohn Hu Hung sie fortsetzte. Mit letzterem war Tschu Hsi persönlich bekannt. Die Anhänger dieser Schule schlossen sich im wesentlichen dem Standpunkte des Kao tse, des Gegners von Menzius an (vgl. oben S. 185 ff.) und leugneten, daß dem Wesen des Menschen das Prädikat »gut« gegeben werden könne; denn das Wesen des Menschen liege in den Lebensfunktionen natürlicher Art, die mit sittlichen Fragen zunächst nichts zu tun hätten. Dem trat Tschu Hsi sehr energisch entgegen. Er berief sich (wie Menzius) auf die allen Menschen innewohnende sittliche Urteilskraft, in welcher jene vier Grundtugenden des Li sich unwillkürlich geltend machten. Auch der Böse weiß, daß seine Handlungen böse sind, er erkennt damit an, daß er abweicht von der Richtung, die ihm sein Wesen vorschreibt.

Allerdings ist nun daneben noch eine andere Betrachtungsweise berechtigt und nötig. Denn der Mensch ist zugleich auch nicht das, was er seinem Wesen nach sein sollte, nämlich, wenn wir seine natürliche Art, seine »Natur« im engeren Sinne in Rechnung ziehen. Der Böse, der weiß, daß seine Handlungen böse sind, existiert eben doch als Böser. Das menschliche Wesen, in dem sich der sittliche Endzweck des Daseins realisiert erweisen sollte, ist empirisch nicht da. Oder, falls es in einzelnen Gestalten des Altertums einmal zur Erscheinung gekommen sein sollte, doch nur ganz selten. Die Masse der Menschen treibt in allen möglichen Mischungen von Gut und Böse dahin. So, in seiner empirischen Natur, ist der Mensch offenbar nicht gut zu nennen. Diese »Natur« muß man also von seinem Wesen getrennt halten. Aber woher die Verschiedenheit dieser beiden? Warum ist das Gute empirisch nicht ebenso in den Menschen zu finden, wie es ihrem »Wesen« nach zu finden sein sollte?

An dieser Stelle macht sich plötzlich der dualistische Ansatz in Tschu Hsis System wieder geltend, den er im Anfange überwunden zu haben schien. Denn der Grund der uns beschäftigenden Unvollkommenheit ist – die Materie, Tch'i, jenes zweite Prinzip der Weltentstehung neben dem Li. Allerdings äußert sich der Dualismus nicht in der Weise, daß die Materie dem ethisch bestimmten Li feindlich und bekämpfend gegenüberstände; wohl aber steht sie als ethisch indifferent dem Li hinderlich, hemmend im Wege. Der Sachverhalt ist dieser: Das Li kann nur an und mit der Materie zur Wirksamkeit kommen, etwa so, wie Lichtstrahlen einen Gegenstand haben müssen, auf den sie fallen, um als Licht zu wirken. Wenn nun das Licht auf einen Körper fällt, der es nur mangelhaft zurückwirft, wird es matt und dunkel erscheinen. So wird die Wirksamkeit des Li und seiner sittlichen Beeinflussung bedingt durch die materiellen Grundlagen, auf die es bei dem einzelnen Menschen stößt. Diese materiellen Grundlagen sind unendlich verschieden in den verschiedenen Wesen (hier versucht Tschu Hsi auch Tiere und Pflanzen, ja die ganze leblose Natur in den Bereich seiner Gedanken zu ziehen). Aufgebaut sind sie auf der Doppelnatur von Yang und Yin und auf den daraus sich entwickelnden fünf Elementarkräften. All diese Faktoren sind in der mannigfaltigsten Weise in allen Wesen gemischt und bringen so einen unendlich wechselnden materiellen Boden zustande, in dem die Saat des Li aufgehen muß. Die Hindernisse, die ihrem Gedeihen im Wege stehen, – in jedem Wesen nach eigener Art wirkend, – verursachen, daß Gut und Böse in so unendlich verschiedener Mischung auftreten. Die Sache liegt nicht so, daß die ethische Beeinflussung durch das Li dem einen mehr, dem andern weniger zuteil würde. Tschu Hsi läßt sogar Tiere und Pflanzen in dieser Beziehung ganz in gleiche Linie mit dem Menschen treten: auch in ihnen wirkt das volle Li. Aber die materielle Grundlage ist hier anders als dort, und darum kann die Kraft des Li bald nur sehr wenig, bald mehr, bald ganz gewaltig durchdringen. Ein Hilfsmittel für diese Anschauungsweise liegt darin, daß Tschu Hsi seinen Faktoren des kosmologischen Aufbaus, dem Yang und Yin wie den fünf Elementarkräften, von vornherein eine bestimmte Zuordnung zu ethischen Qualitäten gegeben hatte. Um so leichter war nun die Vorstellung, daß in der verschiedenen materiellen Struktur der Wesen die Bedingung für die ethische Gesamtqualität lag.

Der Dualismus solcher Welterklärung äußert sich besonders darin, daß die Macht des Li, die früher als die überlegene und führende Macht hingestellt war, doch offenbar auf einer großen Strecke ihrer Wirksamkeit sich der Materie gegenüber nicht durchzusetzen vermag, sondern schwächer ist als sie. Auch begreift man nicht, wie die »Materie« in den kosmologischen Gedankengängen (vgl. S. 333 f.) dem T'ai tchi, das doch mit Li eng zusammengeschlossen ist, entspringen und dennoch so geartet sein kann, daß sie dem Li (also auch dem T'ai tchi) hindernd im Wege steht. Noch eine andere Schwierigkeit lag in Tschu Hsis Spekulation. Wenn Gut und Böse auf der materiellen Struktur der Wesen und auf dem Grade beruhten, in dem diese dem Li eine Entfaltung erlaubte, dann war damit für den Menschen ein Determinismus gegeben, der ihn jeder Verantwortlichkeit überhob. Tschu Hsi gibt solchen Determinismus indes nicht zu. Sehr nachdrücklich betont er, daß der Mensch die Hindernisse seiner materiellen Struktur überwinden könne und müsse, daß Erziehung und Selbstzügelung da viel zu leisten vermöchten. Aber die Logik seines Systems widerspricht dem.

Verfolgen wir noch für einen Augenblick die Ethik des Tschu Hsi in einige Einzelheiten hinein.

Vier Grundtugenden sind bestimmt, unser Handeln zu beherrschen: Menschenliebe, Rechtschaffenheit, Ehrerbietung und Einsicht. Wir sind ihnen schon früher bei Menzius (S. 181) begegnet, ebenfalls, wenn auch nicht in dieser geschlossenen Zusammengehörigkeit, bei Konfuzius. Bei letzterem (vgl. S. 93) wird den beiden Tugenden der Rechtschaffenheit und Ehrerbietung die der Wahrhaftigkeit nachdrücklich verbunden und daher wurde sie von manchen Konfuzianern jenen vieren noch hinzugefügt, was Tschu Hsi für erlaubt hält. Nach seiner Auffassung ist die Wahrhaftigkeit der allgemeine tragende Grund für die vier großen Tugenden, mehr die Weise ihres Auftretens als eine Tugend für sich selbst.

Unter den vier Tugenden ist die Menschenliebe (Jên) die größte und wichtigste. Aus ihr gehen die andern hervor und werden von ihr umschlossen, so daß sie die Tugend im vollen Sinne genannt werden darf. Diese Auffassung steht im Einklang mit der Geltung, die Konfuzius der Menschenliebe und der Gegenseitigkeit (vgl. S. 85-88) gegeben hatte. Auch in der Bedeutung der übrigen Grundtugenden schließt Tschu Hsi sich im ganzen an Konfuzius und Menzius an, so daß darüber nichts mehr gesagt zu werden braucht.

Dagegen verdient ein anderer Punkt noch genauere Aufmerksamkeit. Tschu Hsi lehrt, daß die vier Tugenden, um im Menschen Wurzel fassen zu können, ganz bestimmter Anknüpfungspunkte in seinem Innern bedürfen, und daß solche Anknüpfungspunkte in der Tat als gesonderte Größen in uns bestehen. Er nennt als solche Anknüpfungspunkte: für die Menschenliebe die Sorgsamkeit, für die Rechtlichkeit die Gewissenhaftigkeit, für die Ehrerbietung das gefällige Wesen, für die Einsicht das sittliche Verständnis. Tschu Hsi sieht also die vier Grundtugenden zunächst als kosmische Mächte an, die außerhalb des Menschen stehen, und deren Uebergehen in den Menschen durch bestimmte psychische Anlagen im Menschen erklärt werden muß. Es ist somit eine Art psychologischen Verständnisses, dem der Philosoph hier gerecht zu werden sucht. Diesem Streben gibt er auch noch weiter nach, indem er die genannten Anknüpfungspunkte jeden in sich näher analysiert. Die Sorgsamkeit umschließt »bekümmert sein« und »leiden«; die Gewissenhaftigkeit umschließt »sich schämen«, nämlich des eigenen Bösen, und »hassen«, nämlich die Bosheit in andern; gefälliges Wesen umschließt »sich demütigen« und »sich angenehm machen«. (Für den Anknüpfungspunkt der vierten Tugend hält der Philosoph die nähere Analyse für überflüssig.) Psychologisch sieht also Tschu Hsi die Wurzel der Rechtlichkeit in der (nach innen und nach außen gerichteten) Abwendung vom Unrecht, die Wurzel der Ehrerbietung in dem Wunsche, sich anderen durch Unterordnung gefällig zu erweisen.

Alles, was soweit über das Wesen des Menschen festgestellt ist, hält sich auf der Linie des Ethischen, als ob dieses der alleinige geistige Inhalt des Menschen sei. Er gilt Tschu Hsi auch in der Tat wenigstens als der wichtigste und vor allem zu beachtende Inhalt. Indes war der Philosoph durch seine Beschäftigung mit dem Buddhismus zu sehr angeregt, um nicht doch auch noch seine Gedanken über des Menschen geistige Anlage und geistige Kräfte im allgemeinen zu entwickeln.

Das geistige Vermögen im allgemeinen bezeichnet Tschu Hsi mit dem Ausdruck »Herz« ( Hsin), wie das häufig im Chinesischen geschieht. Er faßt das Geistige als ein Ganzes, zerlegt es nicht in verschiedene Funktionen. Die Aufgabe des Geistes ist eine Vermittlung zwischen des Menschen »Natur« einerseits, und den soeben erwähnten »Anknüpfungspunkten« andrerseits. Unter »Natur« müssen wir hier das verstehen, was wir oben (S. 340) sein »Wesen« nannten im Unterschiede von seiner »Natur« im engern Sinne. Dies Wesen, umfassend die vier Grundtugenden, ist bestimmt, in den Menschen überzugehen. Gewisse psychische Anlagen im Menschen, die wir vorhin als psychische Anknüpfungspunkte kennenlernten, kommen von uns aus den vier Grundtugenden entgegen. Der Geist nun ist es, der den Uebergang tatsächlich zustande bringt. Er reicht gleichsam zu beiden hinüber, zu dem »Wesen«, das für den Menschen bestimmt ist, und zu den psychischen Anknüpfungspunkten, in welchen das »Wesen« lebendig werden soll, und er »beherrscht« beide, sie zusammenführend. Seine Eigenart ist Tätigkeit, nämlich in der eben angegebenen Richtung, während die »Natur« (nämlich das »Wesen«) der Tätigkeit vorhergeht, die psychischen Regungen ihr folgen: der Geist ist also die recht eigentlich ins Leben rufende Macht. Um jene Leben weckende Wirkung üben zu können, muß der Geist sowohl an dem Faktor »Natur« (d. h. »Wesen«) wie an dem Faktor der »psychischen Regungen« teilhaben. In der Tat tut er das. In einem Vergleich wird dies so ausgedrückt: »Der Geist ist wie Wasser; die ›Natur‹ ist die Stille des unbewegten Wassers, die ›Regungen‹ sind das Wasser im Fluß (und die Begierden sind die einzelnen Wellen)« [R503]. Gern wird der Geist in dieser seiner Eigenart auch bezeichnet als der »Herrscher« gegenüber den beiden, die er beherrschend vereinigt. Die Funktion der Ueberführung des »natürlichen« Wesens in die Sphäre des Erlebens bedeutet offenbar etwa das, was wir als Selbstbewußtsein und bewußte Persönlichkeit bezeichnen.

Im Verhältnis zum Körper betrachtet, repräsentiert der Geist das Yang-Prinzip im Gegensatze zum Yin des Körperlichen, d. h. das reine, helle, zarte Element im Gegensatz zum Groben, Schweren, Materiellen. Doch darf man nicht vergessen, daß Yang oder Yin nie ausschließlich und unvermischt existieren, weshalb dem Yang des Geistes auch immer Yinartiges innewohnt. Um das Yang-Element des Geistigen hervorzuheben, wird dafür oft der Ausdruck » schên« gebraucht und entweder dem » p'o«, dem Körperlichen, oder » kuei« dem niedrigeren Teil des geistigen Lebens (dem »Seelischen« oder »Animalischen«) entgegengesetzt. Von den Einzelerscheinungen des Geistes behandelt Tschu Hsi noch etwas näher die Motive, den Willen und das Denken. Motive sind sekundäre Aeußerungen der psychischen Regungen (Anknüpfungspunkte), sie sind die detaillierten Verursachungen, in welchen jene zur Auswirkung kommen. Der Wille ist die über ihnen stehende Lenkungsfähigkeit des Geistes. Den Motiven wird er gegenübergestellt: »Der Wille ist altruistisch, die Motive sind egoistisch, der Wille ist den Motiven gegenüber das Stärkere, der Wille hat mehr vom Yang, die Motive mehr vom Yin.« Das Denken schließlich ist die klärende Kraft des Geistes. Sie muß geübt, erzogen und beständig neu angewandt werden als die wichtigste Grundlage des Studiums. Doch erhält die Beurteilung des Denkens bei Tschu Hsi auch sehr leicht eine ethische Färbung. Es gibt, sagt er, gute und böse »Gedanken«. Die letzteren müssen durch Aufrichtigkeit des Denkens und Achtsamkeit des Handelns überwunden werden. Denken besiegt böse Begierden.

Tschu Hsi ist eine Zeitlang, wie oben bemerkt wurde, dem Buddhismus ergeben gewesen. In seinen Werken dagegen polemisiert er lebhaft gegen ihn und rückt sichtlich von ihm ab, zeigt freilich zugleich, daß er ihn gut kennengelernt hat. Daß eine Natur wie die unsres Philosophen auf die Dauer beim Buddhismus nicht verharren konnte, ist leicht verständlich. Die dünnere Luft der Spekulation, die dort herrschte, vertrug er nicht. Tschu Hsi haftet im Grunde seines Herzens zu sehr an den Realitäten des Lebens, ist zu sehr eingesponnen in die Beziehungen der menschlichen Gemeinschaft und zu sehr gebunden an deren ethische Zwecke und Ideale. Die Subjektivität aller Phänomene, ihr Ursprung aus dem Grunde des menschlichen Bewußtseins, der Mâyâ-Charakter der Welt, die Einheit der Vielheit in dem »Buddha-Herzen«, das wahre Sein im Unterschied von dem phänomenalen Sein, das alles waren Betrachtungsweisen, die dem chinesischen Denker nicht geläufig werden konnten. Ihm mußte die Welt als solche, mußten insbesondere die ethischen Werte, die sie enthielt, Bestand haben. Dennoch ist wohl zu spüren, daß in seiner Philosophie der Einfluß nachwirkt, den die buddhistische Spekulation auf das ganze chinesische Denken ausgeübt hatte. Zunächst tritt dieser Einfluß hervor in der viel geschlosseneren systematischen Darstellungsweise. Zwar will Tschu Hsi ganz und gar an der Seite der altklassischen chinesischen Denker stehen bleiben, und es gelingt ihm auch, immer wieder Brücken zu ihnen hinüber zu schlagen und immer wieder an Aussprüche des Konfuzius und Menzius sowie anderer anzuknüpfen. Dennoch ist die Verarbeitung, welche er dem früheren Material gibt, eine ganz neue. Hier wird ein großer, fortschreitender Zusammenhang gewoben und dem einzelnen ein bestimmter Platz innerhalb eines organischen Ganzen gegeben. Dieser Zusammenhang konnte nur gewonnen werden, indem Tschu Hsi über die empirischen Daten des irdischen Gemeinschaftslebens hinaufstieg zu metaphysischen Voraussetzungen, und daß er diesen Schritt so entschlossen wagt, wird nicht ohne das Vorbild des Buddhismus geschehen sein. Sein Urprinzip, der systematische Abschluß seiner Welterfassung, dieses Grenzenlose, Unendliche, das unbestimmbar, über Raum und Form erhaben ist, entspricht in gewisser Weise der buddhistischen tathatâ. Er sagt von ihm: »Es heißt das Unendliche, weil es keine Beziehung hat zu Raum und Form. Es ist vor allen Dingen, nahm aber kein Ende, als die Welt entstand. Es steht über den zwei Seinsweisen (Yang und Yin), regt sich aber doch in ihnen. Es durchdringt das ganze Weltall, so daß nichts ist, worin es nicht wäre, aber doch vernimmt man seinen Laut nicht; unsichtbar ist es und von keinem Sinne wahrzunehmen.« Freilich könnte auch das Tao zu dieser Konzeption die Anregung gegeben haben, wie ebenso, wenn als Hauptzug der Heiligkeit »Begierdelosigkeit« angegeben wird. Aber eindeutiger auf buddhistische Lehre scheint doch zu weisen, wenn das Weltleben in Perioden verläuft, die unverkennbar an buddhistische Kalpas erinnern, endlos hintereinander folgend und jede in zwei aufsteigende und zwei absteigende Phasen zerfallend. Bekanntlich werden die buddhistischen Kalpas in acht ähnlich auf- und absteigende Phasen, die sog. Yugas, geteilt, wie auch die Einteilung eines großen Kalpa in vier Asa?khya-Kalpas derselben Vorstellung dient. Buddhistischer Einfluß scheint mir auch vorzuliegen, wenn Tschu Hsi den höheren Lebensprozeß, der in der Durchdringung der Materie mit dem Li verläuft, nicht auf den Menschen beschränkt, sondern nachdrücklich auf die Tiere ausdehnt, ja selbst Pflanzen, Gräser und Bäume nicht davon ausschließt. Der Mensch steht hier in einer Linie mit allen übrigen Wesen, nur daß er vorteilhafter bedacht ist als die andern. Aber alle Tiere und selbst leblose Dinge, nehmen an den sittlichen Qualitäten des Li teil, welche sich dann freilich nicht mehr als sittliche Qualitäten im strengeren Sinne behaupten lassen. Selbst in Einzelheiten der Erörterungen könnte man buddhistische Nachklänge empfinden, z. B. in dem Vergleiche der Einwirkung des Urprinzips auf die unendlich vielen Wesen mit der Einwirkung des Mondenglanzes, der sich in tausend Dingen spiegelt »Da das Herz des tathâgata nicht geboren wird und nicht zugrunde geht, so spiegelt es sich in allem wider, wie der Mond im Wasser«, Ghanavyûha sûtra [Mi yen tching]), oder in dem bei den Buddhisten mehrfach vorkommenden Vergleiche der menschlichen Natur mit einem Spiegel, der, beschädigt und beschmutzt, das Licht nur unvollkommen wiedergibt, oder in dem Vergleiche der einzelnen Regungen der Begierden mit den einzelnen Wellen, die sich auf dem fließenden Wasser kräuseln, was in der buddhistischen Darstellung seine nahe Parallele hat (vgl. oben S. 291). Aber damit mag es sein, wie es wolle; es sind nur belanglose Einzelheiten. Wichtiger ist, daß der Buddhismus in der ganzen konstruktiven Darstellung und in den oben berührten Zügen seines Systems auf Tschu Hsi eingewirkt hat. Es ist das durch den Buddhismus erzogene und an ihm gereifte chinesische Denken, das hier vor uns steht.


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