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Das elfte und zwölfte Jahrhundert nach Christo bildet den Zeitraum, worin China eine neue philosophische Orientierung gewann. Sie geht aus von den Lehren des grundlegenden Altertums, vor allem des Konfuzius und Menzius, gibt ihnen aber ganz neue Gesichtspunkte und behandelt sie in einer neuen Weise. Diese Erneuerung der altchinesischen Philosophie wird von den Chinesen »Sung ju«, d. h. der Konfuzianismus der Sung-Dynastie genannt. Als seine Träger gelten fünf Denker, die man als die »fünf Philosophen« ( wu tse) bezeichnet. Es sind: Tschou Tön i (1017-1073), Tsch'êng Hao (1032-1085), Tsch'êng I (1033-1107), Tschang Tsai (1020-1076), und Tschu Hsi (1131-1200). Dicht bei diesen Fünfen, ein Mann von ähnlichem Einfluß und gleichen Bestrebungen, steht Schao Yung (1011-1077). Die ganze geistige Bewegung gipfelt in Tschu Hsi, den wir als ihren Hauptträger und als den Wegweiser für sieben weitere Jahrhunderte gesondert zu betrachten haben. Die andern können als seine Vorläufer angesehen und sollen als solche jetzt geschildert werden. Doch sei zunächst noch ein kurzer Blick auf die Wendung des Geisteslebens im ganzen und auf ihren Zusammenhang mit der Zeitgeschichte geworfen.
Was war es, das in dieser Zeit gerade die philosophische Kraft und den philosophischen Trieb Chinas neu erwachen ließ? War es das Erschlaffen des Buddhismus in seinem Denkvermögen, das Versanden eines Gebietes, das bis dahin durch seine Fruchtbarkeit manch fähigen Geist angezogen hatte, dort seinen Acker zu bestellen? Oder war es der durch die buddhistische Denkerziehung gekräftigte chinesische Geist, der sich nun wieder auf sich selbst besann, unwillkürlich gegen das Fremde reagierend? Oder war es eine eigentümliche Not und Unruhe der Zeit, die in den Tiefen der Gemüter und Gedanken wühlte und zerrte, so daß neues Nachdenken und Fragen dadurch angeregt wurde? Wahrscheinlich müssen wir alle drei Einflüsse zusammen nehmen.
Ueber die beiden ersten ist nach dem bisherigen Gange unserer Darstellung nicht mehr viel zu sagen. Der dritte Einfluß aber verdient noch eine nähere Beleuchtung.
Die Sung-Dynastie ist, im allgemeinen beurteilt, eine politisch schwache und unglückliche Regierung gewesen. Rein äußerlich tritt das schon darin zutage, daß das Reich etwa in der Mitte ihrer Herrschaft auseinanderbricht und nur die südliche Hälfte den Chinesen verbleibt, die nördliche dagegen einer Fremdherrschaft verfällt. Daher unterscheidet man die eigentliche Sung-Dynastie, die über das ganze Land herrschte, 960-1127, und die südliche Sung-Dynastie, 1127-1279, der nur noch das Gebiet südlich vom Yangtse unterstand. Der äußere Grund des politischen Mißgeschicks waren unruhige und mächtige Randstaaten an den nördlichen Grenzen, unter ihnen vor allem die »Tchin« (ursprünglich »Nü tschên«), deren sich der unvorsichtige chinesische Kaiser Hui Tsung zunächst bedient hatte, um einen andern Bedränger (die Tchitan) zu besiegen, die ihm aber dann die Hälfte seines Reiches abnahmen, wobei er selbst Freiheit und Leben verlor (1127).
Trotz der politischen Schwäche dieser Zeit erscheint das Volk als solches nicht schwach und erschöpft. Der Handel mit dem Auslande blüht auf, Handwerk, Industrie und bildende Kunst entwickeln ein reges Leben. Die Malerei der Sungzeit wird vorbildlich für spätere Geschlechter. Die Herstellung von Porzellanwerk erreicht immer höhere Vollkommenheit und wird Anlaß zu lebhaftem Export über die Küstenländer von ganz Asien und bis nach Afrika. Die Volkszahl und das Volksvermögen wächst. Auf rein geistigen Gebieten zeigt sich gleichfalls eine kräftige Regsamkeit. Große Historiker wie Szï ma Kuang, Reiseschriftsteller und Geographen, Enzyklopädisten wie Ma Tuan lin, Dichter wie Su Tung po, Philosophen wie die, von denen wir bald zu sprechen haben werden, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Das merkwürdigste Symptom tiefbohrenden und unabhängigen Geisteslebens ist wohl das große Experiment auf politisch-sozialem Gebiete, das mit dem Namen des Wang An schï verknüpft ist [R488].
Dieser Mann, geboren 1021, früh als Schriftsteller bekannt geworden und 1069 an den Hof berufen, wo er schnell das Vertrauen des Kaisers Schên Tsung gewann und vom Mitgliede des Staatsrats bald zum leitenden Minister aufstieg, war jedenfalls eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten in der chinesischen Geschichte. Ein Rationalist und scharfer Denker, durchschaute er klar das Ungenügende der damaligen staatlichen Maschinerie; ein warmer Freund der Armen und der unteren Stände, wollte er deren gedrückte Lage verbessern; und so standen vor seinem lebendigen Geiste die Pläne zu einer Reihe von grundlegenden Reformen, deren Durchführung er sein Leben widmete. Die wichtigsten unter ihnen waren folgende: 1. Der Staat versucht durch Teilnahme am Handel (mit Bodenprodukten des Inlands) regulierend auf die Preisbildung einzuwirken. 2. Durch Vorschüsse auf die Ernte von neu zu bearbeitenden Feldern wird die Landwirtschaft zu größerer Betriebsamkeit angeregt. 3. Es wird eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt. 4. Bestehende Fronarbeit wird abgelöst durch Steuern, die dem Staate die Mittel zur Anwerbung von Arbeitern für allgemeine Zwecke geben; die Steuerverteilung sucht die Armen wenig, die Reichen stark zu treffen. 5. Die staatliche Handhabung des Handels wird durch »Tauschmärkte«, welche zugleich die Preise zu regulieren haben, einem Handelsmonopol des Staates entgegengeführt. 6. Die für den Heeresdienst nötigen Pferde werden von den Familien nach bestimmter Verteilung erhalten, wofür diese durch gewisse Vergünstigungen belohnt werden. 7. Einkommensteuer auf Grund von Selbsteinschätzung. – Die Grundidee, wovon alle diese Reformen getragen wurden, war offenbar ein Staatssozialismus, der die Lasten gleichmäßiger über alle Stände hin verteilen sollte. Die Projekte rührten an eine Menge bestehender und vom Alter geheiligter Einrichtungen. Bei manchen kann es auch fraglich erscheinen, ob sie wirklich eine Wohltat waren für die, denen sie wohltun sollten. Jedenfalls regten sie das ganze Land lange Jahre hindurch gewaltig auf. Die Anhängerschaft Wangs war gering; eigentlich stand er allein einer ungeheuren Opposition gegenüber, wodurch seine Reform denn auch schließlich scheiterte. Unter seinen entschiedenen Gegnern waren auch grade die Männer, in deren Mitte um diese Zeit die Erneuerung der altchinesischen Philosophie stattfand, insbesondere die fünf obengenannten Führer nebst dem zu ihnen gehörenden Schao Yung. Es ist bemerkenswert, daß Tschou Tön i, die beiden Brüder Tsch'êng und Tschang Tsai sämtlich persönlich in freundschaftlichen Beziehungen zu dem großen Reformator standen, doch seine Gesetzgebung durchaus verwarfen und bekämpften. Dieser Gegensatz zieht sich durch die ganze neukonfuzianische Richtung hin. Der Eifer, mit welchem man sich der Neubelebung der altklassischen Philosophie hingab, hat gewiß keinen geringen Impuls empfangen durch die ihrer Zeit so weit vorauseilenden, aber darum auch so fremden und unwillkommenen Pläne des Wang An schï.
Tschou Tön i (Tschou tse), der älteste und hervorragendste unter den »Vorläufern«, d. h. den dem elften Jahrhundert angehörenden Umbildnern des Konfuzianismus, ist geboren im Jahre 1017 n. Chr., also vier Jahre früher als Wang An schï. Er entstammte der zentralen Provinz Hunan. Nach dem Oertchen Lien hsi (oder tchi), in dem sein Elternhaus stand, führte er selbst später den literarischen Namen Lien hsi (tchi). Sein Vater war ein Beamter, den der Tod früh dem Sohne und eigenem weiteren Aufsteigen zu bedeutenderen Posten entriß. Mit 19 Jahren begann der Sohn seine Amtslaufbahn, die er ehrenvoll bis zu hohen Stellungen verfolgte. Doch erreichte er nur ein Alter von 57 Jahren und starb 1073.
Tschou Tön i hat seine Lehren in zwei Schriften niedergelegt, nämlich in der Erklärung der Tafel des Urprinzips (T'ai tchi t'u shuo) und in der »Ergründung des I« (I t'ung schu), die beide erst nach des Verfassers Tode durch seine Schüler Tsch'eng Hao und Tsch'eng I herausgegeben wurden. Tschu Hsi schrieb später einen Kommentar zu den kurzen Abhandlungen. Die erste von ihnen trägt naturphilosophischen, die zweite ethischen Charakter.
Der Ausgangspunkt für das Denken der Sungphilosophen überhaupt, wie speziell für Tschou tse, ist das alte Buch I tching, der Klassiker der Wandlungen. Dort werden, wie wir uns erinnern (vgl. oben S. 32 ff.), zwei beherrschende Potenzen, Yin und Yang, als die Grundlage alles Lebens und Werdens hingestellt. Damit war man letzten Endes bei einem Dualismus stehen geblieben. Dieser Dualismus wird jetzt nicht mehr als befriedigend hingenommen. Nun kommt in den Erläuterungen zum I tching [R489] eine vereinzelte Stelle vor, wo etwas als Urquell der zwei Grundkräfte Yang und Yin hingestellt wird unter der Bezeichnung: das Urprinzip T'ai tchi (wörtlich »das erhabene Aeußerste oder Letzte«). Der Zusammenhang zeigt deutlich, daß es als der Uranfang des Seins angesehen werden soll, denn der Text sagt, »es habe die zwei Grundkräfte hervorgebracht, diese wieder die vier Symbole, diese die acht Trigramme, diese hätte Weisungen gegeben für den Erfolg oder Mißerfolg der Handlungen, und so sei ein zweckmäßig arbeitendes Leben möglich geworden«. Da greift denn nun Tschou tse dieses (allein an dieser Stelle des I tching vorkommende) »erhabene Aeußerste« auf und macht es zum höchsten Weltprinzip, dem Letzten, bis wohin unsre Gedanken reichen. Die Ableitung des Lebens von diesem Weltprinzip stellt Tschou tse in einem bildlichen Schema dar, zu welchem er einen kurzen, gedrängten Text gibt. Wie immer, wenn das Ewige zum Zeitlichen in menschlich vorstellbare Beziehungen gesetzt werden soll, bewegt er sich in Begriffen und Formeln, die uns keine wirkliche Aufhellung geben, sondern nur gewisse Beziehungen und Ableitungen einfach als solche behaupten und hinstellen. Voran tritt das Urprinzip, das selbst nicht von etwas anderem abgeleitet werden kann. Indem es in Bewegung (oder Wirksamkeit) gerät, erzeugt es das Yang. Nachdem seine Wirksamkeit sich erschöpft hat, tritt Ruhe ein. Diese Ruhe ist es, aus der das Yin erzeugt wird. Auch die Ruhe kommt zu einem Ende, und nun erwacht wieder Bewegung. Bewegung und Ruhe bringen abwechselnd einander hervor. Damit bilden sich die gesonderten Kräfte von Yang und Yin. Indem das Yang sich verändert unter Hinzutreten des Yin, entstehen die fünf Agentien (Elemente) der Welt: Wasser, Feuer, Holz, Metall, Erde. Ihnen entsprechend verteilen sich die fünf atmosphärischen Phänomene (dem Wasser entspricht Kälte und Winter, dem Feuer Hitze und Sommer, dem Holze Regen und Frühling, dem Metalle klare Luft und Herbst, der Erde der Wind) und so beginnt der Wandel der vier Jahreszeiten. Die fünf Agentien (Elemente) sind teils Yin, teils Yang; letztere beiden sind in Vereinigung das Urprinzip; das Urprinzip ruht in sich selbst und ist ohne weiteres Prinzip; die fünf Agentien (Elemente) tragen bei ihrer Entstehung jedes seine eigene Natur in sich. Nun tritt ein neuer seltsamer Prozeß ein: das Wesen des Urprinzips, dazu der Kern der zwei Grundkräfte und der fünf Agentien fließen in einer geheimnisvollen Vereinigung zusammen, und daraus geht eine neue Bildung hervor: es entstehen vom himmlischen Einfluß her das männliche und vom irdischen Einfluß her das weibliche Element. Beide Elemente erregen einander und erzeugen durch Umwandlung alle Dinge (das Weltall), und nun folgt in Zeugung und Wiederzeugung der unendliche Strom der Naturgebilde. Von hier ab wendet sich der Gedankengang dem Menschen und den ethischen Fragen zu, worauf wir sogleich näher eingehen werden.
Betrachten wir die kosmologische Philosophie, soweit sie sich in dem Vorstehenden ausspricht, als Ganzes, so kennzeichnet sie sich durch eine doppelte Eigentümlichkeit, nämlich einmal durch das Streben, den Gang des Weltwerdens aus einem einheitlichen Prinzip abzuleiten und ihn dadurch gewissermaßen rational faßlicher zu machen; andrerseits durch die Gebundenheit des Denkens an mythische Vorstellungsformen, die, aus alter Zeit überkommen, zu fest haften, um abgelegt werden zu können. Die Rolle, welche die »Entsprechungen« spielen, gehört der letzteren Gruppe an, wie auch die Begriffe Yang und Yin dort letzthin wurzeln. Aber doch sind sie unter dem Einflusse von rationalem (kausalem) Denken bereits zu einer Art genetischen Prinzipes gemacht, das mit deutlich monistischem Streben auf ein Uranfängliches zurückgeführt wird.
Die zweite der kurzen Abhandlungen, die Tschou tse hinterlassen hat, die »Ergründung des I« (I t'ung schu, auch oft kurz »T'ung schu«, Ergründung oder Untersuchung, genannt), hat es mit den ethischen Aufgaben, wie sie aus dem I tching abgeleitet werden, zu tun. Eine Art Ueberleitung hierzu bilden die Ausführungen der zweiten Hälfte des T'ai tchi t'u shuo, indem sie, vom Kosmischen auf das Wesen des Menschen übergehend, den Ursprung des Ethischen aus den Naturgrundlagen ableiten wollen. Aber dieser schwierigen Aufgabe wird wenig abgewonnen. Der wichtigste Satz lautet: »Der Mensch allein jedoch empfängt die Elemente (die des Männlichen und Weiblichen) in ihrer ganzen Vorzüglichkeit und wird so das geisteskräftigste Wesen. Nachdem der Leib entstanden ist und der Geist Bewußtsein gewonnen hat, nachdem die fünf Naturanlagen erregt und in Bewegung gesetzt sind, danach tritt Unterscheidung von Gut und Böse ein und all die verschiedenen Handlungsweisen treten hervor [R490]«. Die erwähnten fünf Naturanlagen sollen die Anlage zu den fünf Grundtugenden: Güte, Rechtlichkeit, Ehrerbietung, Einsicht und Aufrichtigkeit (vgl. oben S. 93; 181) bedeuten. Daß mit der gegebenen Erklärung der Entstehung von Gut und Böse nicht viel gesagt ist, leuchtet von selbst ein. Die Gedanken dieses Philosophen liegen noch gar zu sehr gefesselt an der Kette der mythischen Denkvorstellungen, und so gilt als Erklärung, was nichts weiter als die Konstatierung von gewissen »Entsprechungen« ist. Besonders deutlich liegt das am Tage bei folgendem Satze: »Der heilige Mensch ist in seiner Tugend eins mit Himmel und Erde, in seiner Klarheit mit Sonne und Mond, in seiner Reihenfolge (der Handlungen) mit den vier Jahreszeiten, in seinen glück- oder unglückbringenden Umständen mit den bösen und guten Dämonen.«
Ein ähnliches, meist ebenso schwer zu verstehendes Ineinander von rationalem und mythischem Denken liegt vor in den weiteren ethischen Ausführungen des T'ung schu. Dies Werk zerfällt in zwanzig Kapitel, deren Inhalt durch folgende Ueberschriften angedeutet wird: 1. und 2. Wahrhaftigkeit. 3. Wahrhaftigkeit, Trieb, Tugend. 4. Heiligkeit. 5. Vorsicht in der Bewegung. 6. Das Tao. 7. Der Lehrer. 8. Glückbringend. 9. Denken. 10. Bestreben und Studium. 11. Gehorsam und Erneuerung. 12. Regieren. 13. Schicklichkeit und Musik. 14. Streben nach Wahrheit. 15. Liebe und Ehrerbietung. 16. Bewegung und Ruhe. 17. – 19. Musik. 20. Uebung in der Heiligkeit. Die kurzen Aussprüche, welche wir unter diesen Überschriften gesammelt finden, sind teils Selbstverständlichkeiten, z. B.: »Bei Kühnheit und Standhaftigkeit gibt es keine Schwierigkeit«, oder: »Ohne Menschlichkeit, ohne Gerechtigkeit, ohne Weisheit, ohne Treue herrscht durchweg Verkehrtheit.« Viel häufiger aber sind es Unverständlichkeiten, in ihrem kurzen und rätselhaften Ausdruck durch die Unklarheit der chinesischen Satzstruktur doppelt und dreifach schwer zu ergründen. Hier einige Beispiele: »Indem das Tao des Tch'ien (des »Männlichen«) sich ändert und wandelt, findet jedes den rechten Weg seiner natürlichen Bestimmung, und damit ist die Wahrheit begründet.« »Ruhend ist (die Wahrhaftigkeit) nichtseiend, und bewegt ist sie daseiend, – durchaus auf rechtem Wege und klar durchschauend.« »Natürlich, ruhig, das bedeutet heilig; wiederherstellend, ausdauernd, das bedeutet weise; offenbar, verborgen, unsichtbar, erfüllend, umspannend, unerschöpflich, das bedeutet Geist« [R491]. Während in dem eben angeführten Satze gesagt wird: »Natürlich, ruhig, das bedeutet heilig«, hören wir gleich darauf: »Das stille Regungslose ist die Wahrhaftigkeit.« Daran schließt sich: »Das infolge einer Berührung Durchdringende ist der Geist. Das Bewegte, dabei noch Gestaltlose, zwischen Sein und Nichtsein Befindliche ist der Trieb.« Alle diese und andere Definitionen oder Quasidefinitionen kommen uns schwankend und willkürlich vor, ihre Anwendung bringt uns nicht weiter. Hören wir einmal das ganze sechste Kapitel über das Tao: »Das Tao des heiligen Menschen besteht in nichts weiter als in Güte, Gerechtigkeit, der rechten Mitte, der Beherrschtheit. Es bewahren ist Ehre. Es betätigen ist Vorteil. Verbreitet man es, so kommt man dem Himmel und der Erde gleich. Ist es etwa nicht leicht und faßlich, ist es etwa schwer zu begreifen? Ohne es zu bewahren, ohne es zu betätigen, verbreitet man es nicht (oder: man bewahrt es nicht, betätigt es nicht, verbreitet es nicht).«
Was uns aber den Gehalt solcher Ausführungen am meisten ungreifbar macht, ist die beständige Verwebung der mythischen Denkweise in die rationale und damit zusammenhangend die Einschnürung des Gedankengangs durch bestimmte Einteilungen und überlieferte Kategorien. In einer Bemerkung wie der folgenden: »Hat der heilige Mensch die Lehre aufgestellt, so bewirkt er, daß die Menschen von selbst ihre Schlechtigkeit bessern und von selbst ihre richtige Mitte gewinnen und so fertig sind« – liegt deutlich jener Zug mythischen Denkens zugrunde, den wir bereits im Anfange unsrer Darstellung (vgl. oben S. SS f.) hervorhoben, daß die führende Persönlichkeit spontan auf ihre ganze Umgebung wirkt und sie nach sich gestaltet. Aehnliche Denkweise liegt hinter Sätzen wie: »Daher ist der Wahrhaftigkeit Untätigkeit eigen« oder: »Die Wahrhaftigkeit handelt nicht (Wu wei)«, oder: »Ohne zu denken alles ergründend, – das ist der Heilige.« Andere Aussprüche von deutlich mythischer Denkbestimmtheit sind: »Das Wasser als Yin hat Yang zur Wurzel; das Feuer als Yang hat Yin zur Wurzel«; »Indem die vier Jahreszeiten kreisend wandern, haben alle Dinge Anfang und Ende.« Wo solche Voraussetzungen des Denkens sich immer unwillkürlich einmischen, wird die Beurteilung des Sittlichen leicht in einer Weise, die bei uns nicht anklingt, in das Natürliche und Kosmische eingebettet. Am unverhohlensten tritt diese Verschmelzung von Sittlichem mit Physischem zutage in den letzten Abschnitten des T'ung schu (17-19), wo von der Macht der Musik gesprochen wird. »Indem sie (die Könige des Altertums) Musik trieben, verbreiteten sie den Odem der acht Winde und bändigten sie die Leidenschaften der Welt« – ist einer der charakteristischen Sätze. Ein anderer: »Wehe, wehe! Die Musik! – vor alters besänftigte sie das Gemüt; jetzt leistet sie den Begierden Vorschub! Vor alters verbreitete sie Besserung; jetzt macht sie den Haß wachsen!« –
Tschou Tön i steckt mit seinem philosophischen Denken noch sehr in alten Hüllen. Immerhin regt sich ein Neues bei ihm, nämlich ein Streben nach Einheitlichkeit der Weltauffassung. Das Daseiende wird von einem einzigen Urprinzip abgeleitet, und es wird versucht, Natürliches und Sittliches in seinem inneren Zusammenhange und seinem Entwicklungsgange zu verstehen. In diesem Bemühen liegt seine Bedeutung für die Sungphilosophie. Er wies damit einen neuen Weg und gab einen neuen Anstoß.
Um Tschou Tön i herum gruppieren sich eine Anzahl Gelehrter, die mehr oder weniger mit ihm befreundet und gleichgerichtet waren und unter denen dieselben Fragen, mit denen er sich beschäftigte, oft das Thema, wenn nicht von schriftlichen Abhandlungen, so doch von Debatten und freundschaftlichen Gesprächen bildeten [R492]. Eine Art Mittelpunkt dieses Kreises war eine Reihe von Jahren hindurch ein etwas älterer Zeitgenosse des Tschou tse, nämlich Schao Yung (oft K'ang Tchieh genannt), 1011-1077. Er war von geringer Herkunft und brachte es äußerlich auch in seinem ganzen Leben nicht weit, so daß er oft den Mangel des Nötigsten empfinden mußte und ihn noch mehr empfunden hätte, wenn nicht seine Freunde für ihn gesorgt hätten. Ein Staatsamt zu bekleiden, weigerte er sich trotzdem beständig, um eine, wenn auch noch so ärmliche Unabhängigkeit zu behaupten. Seine Freude war das Studium der Alten, doch ist bemerkenswert, daß er daneben auch Wert darauf legte, zu reisen und über sein Heimatgebiet hinaus die Welt mit eigenen Augen anzusehen. Nach diesen Reisen suchte er sich eine Stätte einfacher Unterkunft in der Nähe des heutigen Honan fu, wo seine Freunde häufig bei ihm einkehrten, sich bei ihm Rats erholten und sich von ihm anregen ließen. Dieser Freundeskreis zählte manche angesehenen Namen, darunter den des großen Gelehrten Szï ma Kuang. Den Bestrebungen des Wang An schï stand diese kleine Gemeinde hervorragender Geister durchweg ablehnend gegenüber, und grade infolge dieser Haltung suchte man nach Fortbildung der Ideen des Altertums in einer für die Gegenwart angemessenen Weise. Der kleine, einfache Garten und das Häuschen des Schao Yung werden oft Zeugen von Gesprächen über solche Themata gewesen sein. Denn auch manche der Beamten, die durch die Reformen des Wang An schï in Verwirrung gekommen waren, nahmen zu Schao Yung ihre Zuflucht, wenn sie nicht aus noch ein wußten.
Unter den Besuchern des Schao Yung waren auch die beiden Brüder Tsch'êng, die wir als Herausgeber von Tschou Tön i's Schriften bereits erwähnten und die zu den »fünf Philosophen« (vgl. S. 312) gerechnet werden. Ihr Vater war ein militärischer Beamter, der mit Tschou Tön i Freundschaft geschlossen hatte und darum seine beiden Söhne diesem zusandte, damit sie durch seine Schulung die rechte Erziehung erhielten.
Der ältere von beiden, Tsch'êng Hao, oft mit seinem literarischen Namen Ming Tao genannt, lebte von 1032-1085. Er hatte früh (mit 25 Jahren) die Bahn der Examina durchlaufen und begann danach seine amtliche Tätigkeit, in der er sich sowohl durch die Sorgfalt seiner Arbeiten für das öffentliche Wohl wie durch seine Offenheit und Kühnheit dem Kaiser gegenüber (als Zensor) auszeichnete. Den Reformen des Wang An schï trat er nach Kräften entgegen, was zur Folge hatte, daß er zunächst den Hof meiden und als Provinzialbeamter arbeiten mußte, danach aber überhaupt entlassen wurde. Als nach dem Tode des Kaisers Schên Tsung eine Reaktion eintrat und die Reformpläne fielen, sollte Tsch'êng Hao wieder in den Staatsdienst berufen werden. Doch kam sein ziemlich frühzeitiger Tod dazwischen. – Sein Bruder Tsch'êng I, ein Jahr jünger, überlebte ihn um 22 Jahre (1033-1107) und wurde der berühmtere der beiden. Das stille Studium höher schätzend als den Glanz und die Bürde einer hohen staatlichen Stellung, versuchte er lange, sich den Aufforderungen zur Uebernahme eines Amtes, obwohl sie vom Kaiser selbst ausgingen, zu entziehen, zumal da Wang An schï damals das Feld beherrschte. Schließlich ließ er sich durch Szï ma Kuang bewegen, dem jungen Kaiser Tschê Tsung (1086-1100) bei dessen Thronbesteigung als Berater zur Seite zu treten. Doch schuf solch eine delikate Aufgabe ihm bei der Rückhaltlosigkeit seines Wesens manche Feinde am Hofe, den er schließlich verließ, um in der Ferne der Provinz Szechuan einen Posten zu übernehmen. Nach dem Regierungswechsel 1101 wurde er wieder in die Umgebung des neuen Kaisers (Hui Tsung) berufen. Da indes wiederum die Pläne des Wang An schï in den Vordergrund traten und ihm viel Unbequemlichkeit verursachten, zog er sich 1103 von aller öffentlichen Tätigkeit zurück und widmete sich für die vier letzten Lebensjahre allein seinen Studien. – Die meist kürzeren Schriften der beiden Brüder wurden später zu verschiedenen Sammlungen vereinigt. Ihr Einfluß auf die ganze Entwicklung des Denkens war groß und tritt bei Tschu Hsi an vielen Punkten deutlich hervor. In wichtigen Fragen, besonders in der nach dem Wesen des »Urprinzipes«, scheinen Nachwirkungen buddhistischer Spekulation unleugbar. Hatten doch beide Brüder, am meisten der ältere, sich lange Jahre auch dem Studium buddhistischer Philosophie, z. B. des Schou lêng yen tching (oben S. 286 ff.) hingegeben. Die Konzeption der tathatâ einerseits, und andrerseits die Rolle, welche die allgemeine Menschenliebe in dem Aufstieg des Bodhisattva spielte, sind dabei wohl in erster Linie zu nennen.
Die beiden Brüder Tsch'êng hatten einen Onkel, der, nicht viel älter als sie, von ihnen beeinflußt, ihren Studien und Auffassungen sich anschloß und gleichfalls unter die »fünf Weisen« der Sungzeit gerechnet wird, nämlich Tschang Tsai, auch Hêng Tch'ü genannt (1020-1076). In jungen Jahren hatte er sich voll Eifer der militärischen Laufbahn zugewandt, wurde aber durch einen höheren Beamten, der seine bedeutenden Anlagen bemerkte, für das Studium der Konfuzianischen Schriften interessiert, freilich zunächst, ohne darin seine Befriedigung finden zu können. Die Fragen jedoch, welche sich ihm hier auftaten, hielten ihn fest, und er suchte ihnen mit Hilfe des Buddhismus und des Taoismus beizukommen, mit denen beiden er sich gründlich einließ. Als er sich fähig dazu glaubte, begann er vor einem Kreise von Schülern Untersuchungen über das I tching vorzutragen, die starken Anklang fanden und denen unter anderen auch der mehrfach erwähnte Szï ma Kuang beiwohnte. Um diese Zeit weilten bei ihm längere Zeit seine beiden Neffen Tsch'êng, und durch sie wirkte nun die Unterweisung ihres Lehrers Tschou Tön i auf ihn und brachte ihn in sein rechtes Fahrwasser. Aeußerlich lenkte er in die Bahn des Staatsbeamten ein, bestand das letzte Examen und wurde mit einem Posten in der Provinz Chihli betraut. Später berief ihn der Kaiser an den Hof, wo er freilich als Gegner des Reformers Wang An schï kein Glück hatte. Darum zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück in die Einsamkeit seiner Gedanken und eines ländlichen Aufenthalts in der Provinz Honan. Noch einmal holte man ihn an den Hof und ins Staatsleben; das Treiben befriedigte ihn indes ebensowenig wie früher, und wieder gab er es auf, um sich in sein Tuskulum zurückzubegeben. Doch auf dem Wege dahin ereilte ihn der Tod. – Die Gedanken des Tschang Tsai sind teilweise ethischen Fragen zugewandt, teilweise mehr spekulativer Art. Die letzteren, niedergelegt in dem Werke Tschêng mêng (»Rechte Jugendunterweisung«), sind die wichtigeren. Als Grundprinzip der Welt stellt der Philosoph ein Letztes und Höchstes auf, das er von vornherein unter einem doppelten Gesichtspunkt auffassen lehrt, nämlich einerseits als das die Welt durchdringende und leitende Gesetz, andererseits als die potenzielle Wirklichkeit, aus der die empirische Natur aller Dinge hervorgeht; unter ersterem Gesichtspunkt ist das Urprinzip die »erhabene Harmonie«, unter dem zweiten die »erhabene Leerheit«, die doch alles in sich befaßt. Es ist kein Zweifel, daß in dieser Konzeption buddhistische und taoistische Ideen nachwirken. Denn obwohl Tschang tse sich in seiner Vollentwicklung vom Buddhismus und Taoismus entschieden wieder abgekehrt und insbesondere die Irrtümer des Buddhismus aufzudecken sich bemüht hatte, so war doch die lange und ernste Beschäftigung mit den beiden Denkrichtungen nicht ohne starken Einfluß bei ihm geblieben. Uebrigens hielt er sich in der Folge auch mit seinem Hauptwerk mehr an die ethischen Fragen, die ihm als das wesentliche Ziel der philosophischen Belehrung galten und deren Vernachlässigung über reiner Spekulation er bei dem Buddhismus als einen schweren Fehler empfand. Aber auch in seiner Auffassung der ethischen Richtung mag wohl doch ein buddhistischer Einschlag zu spüren sein, nämlich in der von ihm betonten wesentlichen Einheit des einzelnen mit der Vielheit, des eigenen Wesens mit der uns umgebenden äußeren Welt. Diese tiefere, metaphysische Einheit ist für ihn der Schlüssel zum Verständnisse der Wesen außer uns und des rechten Verhaltens zu ihnen, also der Tugend.