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Als ein Seitenstück und doch zugleich ein Antipode zu Konfuzius verdient der ältere Zeitgenosse desselben, Yen Ying, eine Erwähnung. Er wirkte als leitender Staatsmann in jenem der Heimat des Konfuzius benachbarten Tch'i, wohin auch Konfuzius auf seinen Wanderungen öfters kam (vgl. oben S. 73 f.). Drei Herzögen dieses Landes diente er nacheinander in seinem langen Leben, das etwa die Jahre 580-500 ausgefüllt hat.
Dieser Mann, in erster Linie freilich dem handelnden Leben zugewandt, hat doch zugleich Gedanken über die Pflichten des Gemeinschaftslebens geäußert, die interessant sind dadurch, daß sie sich zum Teil mit denen des Konfuzius decken, zum Teil ganz andre Wege gehen. Yen Ying (oder Yen tse, der Meister Yen) betrachtet als Grundlagen des gemeinsamen Lebens die Uebung der Menschenliebe ( Jên), der Gerechtigkeit ( I) und der Ehrerbietigkeit ( Li). Das sind Pflichten, die auch bei Konfuzius im Mittelpunkte seiner Lehre standen. Zwar werden diese drei bei Yen Ying einfach nebeneinander gestellt, während bei Konfuzius die Menschenliebe oder Menschlichkeit das tragende Prinzip des Gemeinschaftslebens war, Gerechtigkeit und Ehrerbietigkeit aber Einzelforderungen (vgl. oben S. 85 f.). Ebenso fehlen bei Yen tse allerlei Zwischenglieder der gedanklichen Entwicklung, z. B. der bildende Wert des Studiums. Wir haben bei Yen tse mit einer viel einfacheren, grobkörnigeren Natur zu tun, was sich auch sehr bezeichnend kundgibt in seiner kräftigen Zurückweisung der »Studierten«, die Sophisten seien und deren verzwickte Meinungen man nicht zur Richtschnur nehmen könne [R215]. Dieser bekannte scharfe Ausfall richtete sich in erster Linie gerade gegen Konfuzius. Yen Yings Auffassung der Pflichten geht nicht von geschichtlichen Studien aus und bietet uns keine durchdachte Lehre, sondern ist das einfache Resultat einer warmherzigen Lebensbetrachtung, die nur wesentliche Punkte beachtet. Um so mehr ist interessant, daß seine Grundforderungen mit gewissen Weisungen des Konfuzius zusammenfallen. Die Menschlichkeit, welche Yen tse an die Spitze seiner sittlichen Grundforderungen stellt, ist vor allem Barmherzigkeit gegen Notleidende, Frierende und Hungernde, Arme und Schwache, ja selbst gegen leidende Tiere [R216]. Die Ehrerbietigkeit ( Li) faßt Yen Ying als Beobachtung der im Volke herrschenden Sitte, die für die Menge die notwendige Richtschnur des Lebens sei! [R217] Er prägte den recht bemerkenswerten Satz: »Das, wodurch die Menschen sich vor den Tieren auszeichnen, sind die Sitten ( Li)«. Die Einzelforderungen des Gemeinschaftslebens ordnen sich für Yen tse nach den »fünf Beziehungen«, die wir auch bei Konfuzius fanden (S. 96), nämlich nach dem Verhältnis von Landesfürst und Beamten, von Eltern und Kindern, Bruder und Bruder, Gatte und Gattin, Freund und Freund. Alle diese Beziehungen gehören ihm eng zueinander, das heißt, sie müssen immer miteinander gehen und nebeneinander gelten, dürfen einander nicht stören und ausschließen. Die hier entstehenden Probleme werden nicht weiter verfolgt.
Als Minister, der dem Fürsten seinen Weg zu beleuchten hat, läßt sich Yen Ying besonders darüber aus, wie der Fürst sich zu seinen Beamten und dem Volke zu verhalten habe. Was er hier sagte, und auch mit Einsetzung seiner Persönlichkeit energisch in der Praxis vertrat, ist sehr ideal. Der Fürst muß das Wohl des Volkes über seine eigene Person stellen. Sein Ziel muß sein, das Volk zu lieben und ihm Freude zu bereiten: »Keinen höheren Zweck gibt es als das Volk zu lieben und keine edlere Handlungsweise als das Volk zu erfreuen« [R218]. Die Beamten ihrerseits sollen dem Fürsten so ergeben sein, daß sie ihn höher stellen als die eigene Person. Darum aber dürfen sie ihm auch ja nicht schmeicheln und in allem zustimmen, sondern müssen seinen Irrtümern und Fehlern, auch auf die Gefahr hin, seine Gunst zu verlieren, entgegentreten. Schmeichelei und Günstlingswesen bekämpft Yen Ying kräftig. Ebenso tritt er lebhaft ein gegen ungerechte Bestrafungen und willkürlich übertriebene Urteilsfällungen. In alledem herrscht unzweifelhaft ein Geist, der dem des Konfuzius verwandt war.
Dagegen finden wir nun einen merkwürdigen, sehr stark hervortretenden Sonderzug bei Yen tse, der ihn in vielfachen Gegensatz zu dem Weisen von Lu brachte.
Das ist sein Prinzip des einfachen Lebens, der Sparsamkeit und Mäßigkeit. Er verlangt Einfachheit in der Kleidung, so daß man zufrieden ist, wenn der Körper bedeckt und vor Kälte geschützt wird, aber nicht an Putz und Schönheit denkt; er verlangt Einfachheit im Wohnen, so daß man nur trachtet, sich vor der Feuchtigkeit des Bodens und vor der Unbill der Witterung zu bewahren; er verlangt Einfachheit in der Nahrung, so daß man nicht übermäßig dem Wilde und den Fischen nachstellt, wodurch die Geister der Natur, der Wälder und Berge, der Flüsse und Teiche erzürnt würden. Um solchen Mahnungen vor allem dem Fürsten gegenüber Nachdruck zu geben, verlegt er diese Mäßigkeit und Anspruchslosigkeit in die alte Zeit und läßt die vorbildlichen »drei Herrscher« des frühesten Altertums als ihre Vertreter erscheinen [R219]. Bei diesen Mahnungen zur Einfachheit wirkt deutlich die Sorge um das Volk mit, dessen Abgaben ja den Luxus der Fürsten bezahlen mußten, während Yen tse den Landesherrn gerade zur Mäßigkeit in der Besteuerung bewegen möchte. Doch ist Yen Ying auch von sich selbst aus deutlich ein Anwalt der Einfachheit und Selbstzügelung. Alles Uebermaß, alle Extravaganz widerstrebt ihm. Daher verlangt er auch in solchen Dingen Einschränkung und vernünftiges Maßhalten, die für Konfuzius und dessen Jünger den größten Kostenaufwand unbedingt forderten, nämlich in den Trauerbräuchen und in der Pflege der Musik. Es sei nicht recht, sagt Yen Ying, daß man die Bestattung der Toten mit einem so ausgedehnten und kostspieligen Ritual umgebe, daß die Lebenden davon mehr zu leiden hätten, als es den Toten nütze. Ebenso sei es unrecht, die Musik in luxuriöser Weise zu betreiben, was wohl hauptsächlich auf glänzende Veranstaltungen bei Hofe ging, wovon wir bei Mê Ti mehr hören werden. In diesen Punkten seien die Konfuzianer sehr zu tadeln [R220].
Das Streben nach Vereinfachung des Lebens, nach Beseitigung des Luxus nicht nur, sondern einer feineren Lebensweise überhaupt, damit auch ein gewisser Gegensatz gegen Kunst, scheint eine Unterströmung des chinesischen Wesens jener Tage gewesen zu sein, die länger anhielt. Schon Lao tse hatte etwas davon. Die Sonderlinge, welche nach Lön yü 185, 6 schon zu Lebzeiten des Konfuzius sich bemerklich machen, suchten gleichfalls fern von dem gewöhnlichen Treiben die Möglichkeit eines einfachen, beschränkten Lebens in einfacher körperlicher Arbeit. Bei dem Philosophen Mê Ti werden wir dem gleichen Thema wieder begegnen. Und noch zu Menzius' Zeit hören wir von einer solchen Philosophenrichtung, von Leuten, die bei grober Arbeit und ärmlicher Gewandung ein Vorbild dafür sein wollten, daß jedermann den Acker bauen und sich seinen Lebensunterhalt selbst bereiten solle, und die gegen den Luxus sowohl wie gegen die »Studierten« als scharfe Gegner auftraten [R221]. Das sind Symptome einer überreifen, ermüdeten Kultur, die uns daran erinnern, daß die Jahrhunderte, mit denen wir hier zu tun haben, in China bereits das Ende einer lange ausgetragenen Epoche bezeichnen.