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Vergebens rang das zerrissene Reich nach neuer Einheit. Kurze Zeit schien es, daß den streitenden »drei Reichen« eine Tchin-Dynastie, hervorgegangen aus dem Reiche Wei, als einheitliche Herrschaft folgen werde. Aber schon nach des ersten Herrschers Tode (290) zerfleischten seine Nachkommen sich in erbitterten Kämpfen, und die zerrütteten Zustände des Landes boten bald allerlei nomadischen Grenznachbarn im Norden und Nordwesten bequeme Gelegenheit, sich eigene Gebiete anzueignen und kleine Reiche darauf zu begründen. So bilden sich aus Tungusen u. a. die sogenannten 16 illegitimen Staaten (in Wirklichkeit 20), wodurch den Tchin der ganze Norden Chinas entrissen wird. Es tritt die »Trennung zwischen Nord und Süd« ein. Im Süden hält sich bis 420 die Tchin-Dynastie; dann folgen ihr vier kurzlebige Reiche: Sung (Liu-Sung, 420-479), Tchi (479-502), Liang (502-575), Tschên (557-589). Im Norden geht aus der tatarischen Vielstaaterei schließlich das bedeutendere Reich von Nord-Wei (386-534) hervor, gegründet von dem Häuptlingsgeschlecht der Toba, fortgesetzt durch Ost-Wei (534-550) und West-Wei (535-557), dann noch Nord-Tchi (550-576) und Nord-Tschou (557-581).
Wirre Jahrhunderte waren es, in welchen das große Reich völlig zu zerfallen schien. Fremde Elemente drangen massenhaft ein und drohten das chinesische Element im Norden zu überfluten. Aber grade diese Zurückdrängung des Chinesentums und die Not der Zeiten, verbunden mit der Auftrennung des Landes in viele selbständige Regierungen, ist es wohl gewesen, die dem Buddhismus eine günstige Entwicklung gestattete. Tatsache ist, daß er sich grade in diesen unruhigen Jahrhunderten stark ausbreitete und emsig betätigte.
Ein deutliches Kennzeichen dieser vermehrten Aktivität bietet ein Ueberblick über die Tätigkeit der Uebersetzer buddhistischer Werke. Es ergibt sich folgender Tatbestand [R417] (die Angaben der verschiedenen älteren chinesischen Kataloge stimmen nicht immer überein, weshalb die abweichenden Zahlen in Klammern beigefügt sind):
Reich West-Tchin (225-316): 12 Uebersetzer; 444 [447, 333] Werke.
Reich Tchien Liang (302-376): 1 Uebersetzer; 1 Werk.
Reich Ost-Tchin (317-420): 16 Uebersetzer; 223 [232, 168] Werke.
Reich Tchien Tch'in (350-394): 6 Uebersetzer; 15 Werke.
Reich Hou Tch'in (384-417): 5 Uebersetzer; 118 [94] Werke.
Reich Hsi (West-) Tch'in (385-431): 1 Uebersetzer; 23 [14, 56] Werke.
Reich Pei (Nord-) Liang (397-439): 9 Uebersetzer; 37 [82] Werke.
Reich Liu Sung (420-479): 20 Uebersetzer; 205 [204, 463] Werke.
Reich Tchi (479-502): 8 Uebersetzer; 14 [12] Werke.
Reich Liang (502-557): 4 Uebersetzer; 31 [25, 29] Werke.
Reich Tschên (557-589): 3 Uebersetzer; 40 [42] Werke.
Reich Pei (Nord-) Wei (386-534): 8 Uebersetzer; 77 [66, 56] Werke.
Reich Tung (Ost-) Wei (534-557): 4 Uebersetzer; 23 [17, 27] Werke.
Reich Pei (Nord-) Tchi (550-577): 2 Uebersetzer; 8 Werke.
Reich Pei (Nord-) Tschou (557-581): 4 Uebersetzer; 14 [15] Werke.
Die Uebersetzer sind in dieser ganzen Epoche noch weit überwiegend Ausländer, Leute, die aus Zentralasien oder Indien als Missionare nach China kamen. Doch finden wir jetzt auch schon eine Anzahl Chinesen unter ihnen (15 sind als sicher anzunehmen, vielleicht 20 oder selbst 22), und zwar neben Mönchen auch einige Laien. Daß man die Uebersetzerarbeit vorwiegend den Ausländern überließ (die natürlich Chinesen als Mitarbeiter zu Hand gehabt haben werden), ist begreiflich, da ihnen die fremdsprachigen Texte viel besser bekannt waren. Aber bezeichnend ist, daß doch überhaupt Chinesen sich jetzt selbständig an dem Uebersetzungswerk beteiligen. Unter ihnen war ein Vetter des zweiten Herrschers der nördlichen Liang-Dynastie, der nach Zentralasien gegangen war, um sich dort eine gründliche Kenntnis des Sanskrit anzueignen, wonach er dann in die Heimat zurückkehrte und 35 (nach andrer Angabe 28) Werke übersetzte, von denen noch 16 im heutigen chinesischen Kanon vorhanden sind.
Die fruchtbarsten Uebersetzer dieser Zeit waren: unter den West-Tchin Fa Hu (Dharmarak?a), der zwischen 266 und 313 (oder 317) 90 Werke übersetzte (Bunyiu Nanjio App. II Nr. 23), und Schï Fa Tchü, 290-306, 23 Werke; unter den Ost-Tchin Fa Tschêng, 381-395, 29 Werke (Bun. Nan. App. II Nr. 38); unter den Hou Tch'in Kumarajîva (T'ung schou), 402-412, 50 Werke (Bun. Nan. App. II Nr. 59); unter den Liu Sung Gu?abhadra (Kung tê hsien), 435-443, 28 Werke (Bun. Nan. App. II Nr. 81).
Die merkwürdigste Gestalt unter ihnen allen ist Kumârajîva. Er entstammte einer vornehmen Familie Indiens, doch hatte sein Vater bereits aus unbekannten Gründen sein Land verlassen und war nach Karaœar (in Ostturkestan) ausgewandert, wo er sich mit einer jüngeren Schwester des dortigen Fürsten vermählte. Dort wurde dann Kumârajîva geboren. Als Kind schon trat er in ein Kloster, erhielt eine vorzügliche Unterweisung, wurde aber erst später mit dem Mahâyâna bekannt, in das er sich dann ganz und gar vertiefte. Karaúar wurde von einem chinesischen Feldherrn (im Dienste des Reiches Hou Tch'in) erobert und Kumârajîva als Gefangener nach China gebracht. Er gewann die Gunst des Tch'in-Herrschers Yao Hsing und gab sich nun in dessen Hauptstadt (Tschang an) einer emsigen und erfolgreichen Tätigkeit als Uebersetzer hin. Der Umfang seiner Arbeit ist nur dadurch zu erklären, daß er, wie auch die Geschichte berichtet, eine große Zahl von Chinesen unter sich hatte, eine Art Uebersetzungskommission, die er leitete.
Daß auch die Gunst der Fürstenhöfe dem Buddhismus in dieser Zeit blühte, geht schon aus Kumârajîvas Leben hervor. Als Dynastien, welche die indische Religion gefördert haben, wären wohl vor allem zu nennen: Ost-Tchin, Hou Tschao (einer der 16 illegitimen Staaten, 319-351), Tchien Tch'in, Hou Tch'in, Liu Sung, Liang und Nord-Wei. Natürlich wechselte auch in diesen Dynastien Sonnenschein mit Regen. Einige ihrer Vertreter waren selbst Verfolger und Unterdrücker des Buddhismus. Soll man einige Herrscher, die ihm anhingen, einzeln herausheben, so bieten sich da folgende Namen: Schï Tchi lung, ein Herrscher des eben erwähnten Hou Tschao-Staates, unter dem ein Gelehrter, Wang Tu, heftige Beschwerde gegen die zunehmende Ausbreitung des Buddhismus erhob und verlangte, daß der Fürst den Chinesen den Eintritt in die Klöster streng verbiete. Doch reagierte dieser grade entgegengesetzt darauf, indem er seinen Untertanen ausdrücklich freigab, daß sie Mönche werden dürften (335 n. Chr.). Später zeichnen sich als Anhänger des Buddhismus besonders aus: Wu Ti von der Liang-Dynastie, der dreimal während seiner Regierung (502-550) selbst als Mönch eine Zeitlang im Kloster lebte, persönlich die heiligen Texte andern erläuterte und nicht nur die Todesstrafe und andere Leibesstrafen aufhob, sondern auch allgemein die blutigen Opfer in seinem Reiche zu verhindern suchte; ferner Wu Ti von der Tschên-Dynastie, Hsüen Wu Ti (Yüen K'o) von der Nord-Wei-Dynastie sowie sein Nachfolger Hsiao Ming Ti. Als Städte, in denen der Buddhismus seine Zentra fand, dürfen Lo yang, Tschang an und Tchien k'ang, das heutige Nanking, gelten.
Auf die Zahlenangaben der chinesischen Chronisten wird man sich nicht sehr verlassen dürfen, zumal wenn es runde Angaben sind wie z. B., daß um 400 n. Chr. in Nordchina neun Zehntel der Bevölkerung Buddhisten gewesen seien. Aber mit mehr Zutrauen darf man wohl die Mitteilung aufnehmen, daß eine kaiserliche Schätzung im Nord-Wei-Reiche für die Zeit zwischen 512 und 516 nicht weniger als 13 727 Mönche und Nonnen feststellte [R418].
Sehr bezeichnend für die Erstarkung des Buddhismus in China während dieser Jahrhunderte ist auch die Erscheinung, daß chinesische Buddhisten jetzt anfangen, auf mühseligen, lange Jahre dauernden Pilgerzügen Indien, das Ursprungsland ihrer Religion, aufzusuchen. Das Motiv solcher gewaltige Opfer heischenden Unternehmungen war einmal die religiöse Pietät, welche die altheiligen Stätten sehen und dort anbeten wollte, andrerseits aber auch das Bestreben, sich über allerlei religiöse Fragen und Ordnungen an den Quellen selbst zu orientieren und einschlägige Literatur aus Indien mitzubringen. Es sind Studienreisen sowohl wie Pilgerreisen. Der erste [R419] und zugleich einer der bedeutendsten in der ganzen Reihe war Fa Hsien, dessen Reise von 399-414 n. Chr. dauerte. Schon fünf Jahre nach ihm (404) brach ein andrer auf, 420 wieder ein andrer, und von da an reißt die Reihe Jahrhunderte hindurch nicht ab. Wenn man in Fa Hsiens Reisebericht liest, mit welcher Inbrunst und Ergriffenheit er an den Ursprungsstätten des Buddhismus stand, so bekommt man einen Begriff davon, wie stark das buddhistische Fühlen bei Chinesen damals sein konnte. »Als Fa Hsien und (sein Begleiter) Tao Tching zuerst bei dem Jetavana-Kloster ankamen und daran dachten, daß der Weltengeehrte (der Buddha) hier 25 Jahre geweilt habe, kam eine Wehmut über sie. Da hatten nun sie, die fern von hier geboren waren, zusammen mit gleichgesinnten (Freunden) all die Länder durchwandert; einige von ihnen waren zurückgekehrt, andere waren dem Lose der Vergänglichkeit erlegen, sie (beide) aber sahen an diesem Tage nun die Stätte des Buddha, doch ohne ihn selbst. Schmerz und Sehnsucht erfüllte ihr Herz. Die Mönche der dortigen Klöster kamen heraus und fragten Fa Hsien und seinen Begleiter: Von welchem Volke kommt ihr? Sie antworteten: Aus dem Lande der Han. Ach nein! riefen die Mönche, welch ein Unternehmen! Leute von fernen Landen bringen es fertig, in ihrem Eifer um die (buddhistische) Lehre hierher zu kommen! Und untereinander sagten sie: All die Zeit über, daß wir Lehrer und Mönche hier einander gefolgt sind, haben wir noch nie Glaubensgenossen aus dem Han-Lande hierher kommen sehen.« – An einer andern Stelle, als der Pilger zu dem berühmten Hügel der Geierhöhe gekommen ist und Opfergaben gekauft hat, um sie dort niederzulegen, heißt es: »Als er auf den Gipfel gekommen war, brachte er Blumen und Weihrauch dar und zündete mit Beginn der Dunkelheit die Lampen an. Ihm war zum Weinen, Schwermut quälte ihn; indem er sich kaum der Tränen erwehrte, sagte er: Hier hat nun der Buddha dereinst das Úûrâ?gama-sûtra gesprochen; ich aber, der ich zu einer Zeit geboren bin, da ein Buddha nicht anzutreffen ist, kann nur den Platz anschauen, wo er weilte und seine Fußspur hinterließ, und das ist alles! Darauf rezitierte er vor der Felsenhöhle das Úûrâ?gama-sûtra, indem er dort die Nacht über verweilte.«
Auch Laien machten sich auf zu solchen Pilgerfahrten. Einer der berühmtesten war Sung Yün, ein Beamter am Hofe der Nord-Wei, den die Kaiserin-Mutter, Regentin für ihren Sohn Yüen I, im Jahre 518 n. Chr. zusammen mit dem Mönche Hui Schêng nach Indien entsandte. Sie brachten bei ihrer Heimkehr 170 Bände Mahayâna-Literatur mit (522 n. Chr.).
Möglicherweise hat dieser lebhafte Verkehr zwischen China und Indien etwas zu tun gehabt mit der merkwürdigen Tatsache, daß um 520 n. Chr. ein sehr hervorragender und einflußreicher Vertreter des indischen Buddhismus, der »Patriarch« Bodhidharma, sein Heimatland mit China vertauschte und damit das Institut des »Patriarchats« hierher übertrug. Dieses Institut ist von dunklem Ursprunge. Es sollte eine ungebrochene Linie der Lehrtradition darstellen und mit Kâúyapa, einem der angesehensten Jünger des Buddha, begonnen haben, dem dieser seine Bettelschale und sein Mönchsgewand als Zeichen der Würde übergeben habe. Doch das ist Sage. Das Patriarchat scheint sich mit der Zeit allmählich herausgebildet und später künstlich eine feste Verbindungslinie nach dem Buddha hin gezogen zu haben. Wie dem auch sei, es bestand die Einrichtung des Patriarchats in Indien, und eine Liste der Namen wird uns, allerdings mit Varianten, überliefert. In der Reihe der Patriarchen nun wurde Bodhidharma als der 28. gezählt.
Er stammte aus einem Brahmanengeschlecht in Südindien [R420]. Nachdem er in seiner Heimat auf ausgedehnten Reisen den Ruf eines vorzüglichen Lehrers erworben hatte und ihm von Prañatara die Würde des Patriarchen übertragen war (dieser änderte dabei seinen ursprünglichen Namen Bodhitara in Bodhidharma), begab er sich zur See (die Reise soll drei Jahre gedauert haben) nach China, erst nach Kanton, dann an den Hof des (Liang-) Kaisers Wu Ti, darauf nach Lo yang, der Hauptstadt von Nord-Wei, wo er der Sage nach neun Jahre lang in steter Kontemplation vor einer Mauer saß, bis er den Gebrauch der Beine verlor. Das wahrscheinlichste Datum seiner Ankunft in China ist 526, das seines Todes 535.
Bodhidharma übertrug das Patriarchenamt auf seinen Schüler Hui K'o. Damit beginnt die Reihe der chinesischen (östlichen) Patriarchen. Ihrer waren im ganzen fünf; der letzte, Hui nêng, starb 715 n. Chr., ohne die Würde weiter zu vererben.
Das Gewicht von Bodhidharmas Person und Würde war sehr groß. Er wurde eine der populärsten Figuren des östlichen Buddhismus [R421]. Ganz gewiß hat er viel dazu beigetragen, daß der chinesische Buddhismus tiefere Wurzeln schlug und mehr Gehalt bekam. Schon durch die Begründung einer angesehnen Schule, der Meditationsschule, wirkte Bodhidharma stark ein auf die Fortentwicklung.
Schon vor Bodhidharma freilich hatten sich in China eigene Schulrichtungen gebildet. Man nennt sie chinesisch Tsung, was eigentlich »Familie, Gemeinschaft« bedeutet, wie auch Unterabteilungen als Tchiâ, »Häuser«, bezeichnet werden. Sie »Sekten« zu benennen, wie noch häufig in deutschen Büchern geschieht, ist töricht und nur aus gedankenloser Nachahmung des englischen Ausdrucks zu begreifen; das Wort »Sekte« hat bei uns einen ganz andern Sinn. Die Schulen des Buddhismus waren Lehrrichtungen innerhalb der buddhistischen Gemeinschaft, die sich durch den Einfluß eines hervorragenden Lehrers und seiner besonderen Auffassung gewisser Lehrpunkte bildeten, gewöhnlich mit Bevorzugung bestimmter Texte, denen man die Lehrauffassung entnahm und mit deren Hilfe man sie verbreitete. Diese Schulen traten einander nicht exklusiv und verketzernd entgegen, lösten sich auch nicht aus der allgemeinen buddhistischen »Kirche« ab; es waren vielmehr nur gleichsam Variationen eines Themas, indem verschiedene Seiten und Methoden des buddhistischen Heilsweges hervorgehoben und gepflegt wurden [R422].
Die erste Schule, welche sich auf chinesischem Boden gebildet hat, war die »Schule des Reinen Landes«, auch die »Lotosschule« genannt [R423]. Ihr Gründer war Hui Yüen (333-416). Jedoch nahm man an, daß diese Schule früher schon in Indien bestanden habe und auf Aœvagho?a und dessen Schrift »Ueber die Weckung des Glaubens« zurückgehe. In der Tat muß diese Richtung älter sein, da eine ihrer Hauptschriften schon zwischen 148 und 170 n. Chr. durch An Schï kao übersetzt ist [R424]. Aber Hui Yüan hat ihren Lehren in China eine feste Schulform gegeben. Sie wurde ungemein populär, weil die religiöse Seite ihrer Verkündigung stark an weit verbreitete Bedürfnisse und Neigungen appellierte. Im Mittelpunkte der für die breiten Massen berechneten Lehren steht nämlich das Paradies, über welches der Buddha Amitâbha herrscht, das sogenannte »reine Land des Westens«. Wer nach dem Tode dort wiedergeboren wird (aus einer Lotosblume hervorgehend, woher der Name »Lotosschule«), dem wird ein unaufhörliches Leben der Seligkeit daselbst zuteil. Amitâbha verleiht diese Wiedergeburt allen denen, die ihn im Glauben anrufen, vertrauend auf seine Macht. Häufige, innige Anrufung des Amitâbha bezeugt und nährt solchen Glauben. Dies der religiöse Kerngedanke der Schule. Wir werden aber sehen, daß daneben ein philosophischer Inhalt hergeht für tiefere Geister, mit dem wir uns eingehender zu beschäftigen haben werden.
Die zweite Schule, die in diesem Zeitraum hervortrat, jedoch schon bald wieder verschwand, war die »Schule des Satyasiddhi-úâstra«. Die hier erwähnte Schrift (»Abhandlung von der Erlangung der Wahrheit« [R425]) ist ein Werk des Hînayâna und wurde von Kumârajîva übersetzt, der deshalb auch wohl als Begründer der Schule gilt. Doch scheint die Schulbildung in Wirklichkeit allmählich zur Zeit der Trennung von Nord und Süd eingetreten zu sein, ohne daß der Name des Begründers erhalten ist. Sie gilt als hînayânisch, hat es aber mit den philosophischen Problemen der Mâdhyamikas zu tun. Schon im Beginn der Tang-Dynastie (Anfang des siebenten Jahrhunderts) verfiel diese Richtung.
Eine dritte Schule, die gleichfalls auf Kumârajîva zurückgeführt wird, weil er ihre grundlegenden Texte übersetzt hat, nannte sich »die Schule der drei Abhandlungen« (San lön tsung). Denn sie stützte ihre Lehre auf drei Abhandlungen ( úâstra), nämlich auf das Mâdhyamika úâstra (chinesisch Tschung lön, Abhandlung von der Mitte), das Sata úâstra (chin. Pai lön, Hundert Abhandlungen) und das Dvâdaúanikâya úâstra (chin. Schï örh mên lön, Abhandlung über die zwölf Tore) [R426]. Ein andrer Name dieser Schule, der auf den wichtigsten Punkt ihrer Untersuchungen hinweist, ist »die Schule der Leerheit des Wesens«. Sie hat nur kurze Zeit geblüht. Die T'ien-t'ai-Schule verdrängte sie in China. Doch hatte sie in Japan (als San ron schu) noch eine lange Geltung und starken Einfluß.
Von größter Bedeutung jedoch für den chinesischen Buddhismus erwies sich die vierte Schule, welche von Bodhidharma, dem 28. Patriarchen, ausging und die Meditationsschule (Tsch'an tsung) genannt wurde. Ein andrer Name war »Schule der Innerlichkeit« (Hsin tsung). Denn Bodhidharma wollte von äußeren Hilfsmitteln, vor allem vom Studium der Schriften, nichts wissen, sondern wies seine Jünger ausschließlich auf die Erforschung des eigenen Inneren: durch rechte Erkenntnis der eigenen Natur erlange man die bodhi und werde zum Buddha. Für diese Erkenntnis schrieb er besondere Meditationen vor, welche die prajñâ, die »Weisheit«, die höchste Stufe buddhistischer Einsicht, zum Gegenstand hatten. In den Meditationen fand der einzelne den Weg zur vollkommenen Innenschau und zum vollkommenen Durchschauen des Weltproblems. Allein dieser Tiefblick war so unaussprechlich, daß sein Inhalt sich nicht anders als durch Andeutungen, durch rätselhafte Worte oder durch symbolische Handlungen wiedergeben ließ. Das spiegelt sich wider in der Legende, durch welche man das Entstehen dieser Schule mit dem Buddha selbst verknüpfte. Man erzählte nämlich, daß dem Buddha bei einer Versammlung auf dem »Geiergipfel« von Brahma eine Blume überreicht worden sei mit der Bitte, die Lehre zu verkünden. Der Buddha habe die Blume genommen und sie lange stillschweigend in der Hand gehalten. Niemand wußte, was das bedeuten solle; nur der Jünger Kâúyapa lächelte, indem er verstand, was in dem Meister vorging. Da teilte ihm der Buddha eine besondere Lehre mit, da er dafür reif schien, die Lehre der späteren Meditationsschule.
Der Durchbruch der »Weisheit«, prajña, in dem einzelnen war das erstrebte Ziel der Meditationsjünger. Es ist wie das plötzliche Aufgehen einer Blüte oder wie ein Sprung vom festen Lande ins Wasser. Diesem Ruck, welcher in das neue Wesen, die Welterkenntnis, hinüberführt, kann vorgearbeitet werden durch Anregungen des Lehrers, durch eine Art geistigen Anstoßens, das den Umschwung herbeiführt. Oft sind das rätselhafte Aussprüche, die zum Nachgrübeln reizen, oft auch sonderbare Handlungen, die etwas Weckendes haben. Worin eigentlich die »Weisheit« besteht, zu der der innere Mensch aufwachsen muß, das werden wir weiterhin, wenn wir von der allen Schulen zugrunde liegenden Philosophie reden, des näheren ausführen.
Hier sei zunächst noch kurz hingewiesen auf eine fünfte Schule, die mit der Meditationsschule lange erfolgreich rivalisiert hat und wie jene bis auf den heutigen Tag hervortritt, nämlich die Schule des T'ien-t'ai-Gebirges (T'ien t'ai tsung), auch Schule des Fa hua tching genannt, nach dem bei ihnen sehr hoch geschätzten Saddharma pu??arîka sûtra (Miao fa lien hua tching) [R427]. Diese Richtung siedelte sich auf dem T'ien-t'ai-Gebirge in der Provinz Chekiang an, das noch heute von ihren Klöstern bedeckt ist. Der Gründer war Tschï I (oder Tschï K'ai, auch »der Weise vom T'ien t'ai«, »T'ien t'ai Tschï tschê«, geheißen). Seine Lebenszeit fällt jedoch größtenteils unter die Sui-Dynastie, der die Schule darum auch zugerechnet wird und die wir dem jetzt zu behandelnden Zeitraum nicht eingegliedert haben. Wir werden daher später auf die T'ien-t'ai-Schule zurückkommen. –
Wenden wir uns nun der Philosophie dieses Zeitraums und der bisher genannten buddhistischen Schulen zu.
Die philosophische Grundlage, von der alle ihren Ausgangspunkt nahmen, war die Lehre der Mâdhyamikas von der Leerheit, wie wir sie oben nach den Prajñâ-pâramitâ-Schriften skizzierten. Die populärste dieser Schriften, das Sûtra der Vajracchedikâ prajñâpâramitâ, das im ganzen sechsmal ins Chinesische übertragen ist [R428], hatte durch Kumârajîvas Uebersetzung in China Eingang gefunden. »Diamantspaltende Vollkommenheit der Weisheit« bedeutet der Name des Sûtras; die »diamantspaltende« Kraft dieser Weisheit lag aber nicht in scharfsinnigen Beweisen, sondern nur in der Wucht beständiger Wiederholung jener Auffassungen, welche die Mâdhyamikas von Anfang an charakterisierten. Der Buddha unterhält sich mit Subhûti. In allerlei Wendungen zeigt er ihm, daß der rechte Bodhisattva in keiner Weise mehr an den »Zeichen« ( nimitta) haftet, d. h. an dem, was an den Dingen als etwas scheinbar Wirkliches wahrgenommen wird. Die Dinge sind vielmehr absolut wesenlos: man darf nicht befangen sein in der Realität, nicht befangen sein in der Erscheinung, nicht befangen sein in Ton, Geruch, Geschmack, Gesicht, Tastbarem, Gedankenobjekten. Um zu dieser vollkommenen Auflösung aller scheinbaren Wirklichkeit zu gelangen, darf auch die Aussage des Nicht-Existierens von keinem Objekt gemacht werden. Denn wenn der Begriff des Nicht-Existierens geltend wäre, so schlösse dies auch ein (wenngleich negatives) Erreichen eines Selbst, eines Lebewesens, einer Person in sich (indem davon eine Aussage gemacht, ihm also ein Kennzeichen – nimitta – gegeben würde). Der wahre Bodhisattva aber darf nicht einmal negierend ein Selbst, ein Lebewesen, eine Person, »ergreifen«. Dies muß der Bodhisattva auch auf seine eigene Person anwenden. Darum fragt der Buddha seinen Jünger: »Wie meinst du, Subhûti, denkt ein Úrotâpanna (d. h. ein »in den Strom Gelangter«, Bezeichnung eines Jüngers im ersten Stadium der Unterweisung) wohl also: Durch mich ist das Resultat der Erreichung des Stromes erlangt worden?« Subhûti antwortet: »Nicht so, Erhabener! Nicht denkt ein zum Strome Gelangter: durch mich ist die Frucht des Erreichens des Stromes erlangt worden. Aus welchem Grunde? Weil nicht er, o Erhabener, irgendwelchen Zustand erreicht hat, indem er ein in den Strom Gelangter heißt. Der Name Úrotâpanna hat nichts mit dem Erreichen von Anschaulichem, Hörbaren, Riechbaren, Schmeckbaren, Berührbaren zu tun.« Und weiter, indem ähnlich über andere Kategorien von Jüngern, schließlich über den Arhant, die höchste Stufe, gesprochen wird, heißt es: »Wenn, o Erhabener, ein Arhant also dächte: Durch mich selbst ist die Arhantwürde erreicht, so wäre, bei ihm Erfassen eines Selbst, Erfassen eines Wesens, Erfassen eines Lebenden, Erfassen einer Person [R429].«
Um diesen eigenartigen Standpunkt für alle Objekte, auch für die Lehre des Buddha selbst, festzuhalten, wird von dem Inhalt dieser Lehre behauptet, daß er ebensogut negativ wie positiv formuliert werden könne, daß also der Buddha das und das gelehrt und zugleich nicht gelehrt habe. »Wer immer, Subhûti, sagen würde, daß durch den Tathâgata, den Würdigen, den vollkommen Erleuchteten, die unübertroffene, vollkommene Erleuchtung erweckt worden wäre, der würde Unwahres reden, der würde, Subhûti, mit Unwahrem, das er gelernt, über mich reden. Aus welchem Grunde? Nicht existiert, o Subhûti, irgendwelches Objekt, das durch den Tathâgata zur unübertroffenen, vollkommenen Erleuchtung erweckt worden wäre. Und in der Lehre, Subhûti, die durch den Tathâgata erweckt oder gezeigt wurde, da ist nicht Wahres, nicht Falsches [R430].« Dementsprechend wird von verschiedenen Aussagen der Lehre des Buddha gesagt, daß er mit der und der Position zugleich ihre Negation verkündigt habe, Ja und Nein in derselben Beziehung. Die Begriffe Wahres und Falsches sind überwunden. »Die zweiunddreißig Merkmale eines großen Mannes, die von dem Tathâgata verkündet sind (Zeichen, an denen der Buddha zu erkennen sei), die sind als Nicht-Merkmale verkündet. Deshalb werden sie die zweiunddreißig Merkmale eines großen Mannes genannt [R431].« Und so auch von andern Inhalten der buddhistischen Lehre, Verdienstesvorrat, Buddha-Eigenschaften, irgendeinem Objekt. Alles das ist wahr und falsch zugleich, existiert als solches und existiert nicht als solches, d. h. die Kategorien von Existenz und Nichtexistenz, von Wahrem und Falschem sind darauf nicht anwendbar. Selbst an der »Vollkommenheit der Erkenntnis«, eben der Lehre der Prajña pâramitâ, die den besonderen Besitz der Mâdhyamikas ausmacht, gilt derselbe Satz: »Die Vollkommenheit der Erkenntnis, die von dem Erhabenen verkündet ist, die ist eben als Nichtvollkommenheit der Erkenntnis verkündet. Deshalb heißt sie Vollkommenheit der Erkenntnis. Wie meinst du nun, Subhûti, existiert irgendwelches Objekt, das durch den Erhabenen verkündet wäre?« Subhûti erwiderte: »Nicht so, Erhabener! Nicht existiert irgendwelches Objekt, das durch den Erhabenen verkündet wäre [R432].« Oder, um noch eine bezeichnende hierher gehörige Aeußerung anzuführen: »Deshalb denn, o Subhûti, soll ein Bodhisattva Mahâsattva allen Begriff fernhalten und zur unübertroffenen vollkommenen Erleuchtung den Gedanken erwecken. Nicht auf Erscheinung begründete Gedanken soll er hervorrufen, nicht auf Töne, Gerüche, Geschmäcke, Tastbares, gedankliche Objekte begründete Gedanken soll er hervorrufen, nicht auf Objekte begründete Gedanken soll er hervorrufen. Aus welchem Grunde? Was begründet ist, das ist eben nicht begründet [R433].«
In dieser Weise wird die Lehre von der »Leerheit« den Chinesen verkündet, breit und weitschweifig, ähnliche Wendungen wiederholend und parallele Aussagen, die mit einem Worte abzumachen gewesen wären, in ihrer ganzen Ausführlichkeit hintereinander reihend. Eine ermüdende und unfruchtbare Lektüre, zumal da einem immer wieder zum Bewußtsein kommt, daß eine derart auf die Spitze getriebene Illusionslehre sich schließlich doch mit keinem Ausdruck genug tun kann und sich in jeder Formulierung und jedem Begriffe, den sie anwendet, eigentlich wieder verstrickt und verfängt. Aber trotz alledem ist wohl nicht zu leugnen, daß diese Art von Philosophie den chinesischen Geist in gewisser Richtung erzog und schärfer denken lehrte. Gewisse Grundfragen der Metaphysik, wie die nach Sein und Werden, nach Phänomen und Wesen, nach dem Selbst, nach dem Objekt, wurden hier schärfer ins Auge gefaßt, als man es bisher gewohnt war. Ferner wurden dem Chinesen durch die Beschäftigung mit dieser Philosophie allerlei Einteilungen und Kategorien, besonders psychologischer Art, geläufig, nach denen der Buddhist seine Untersuchungen anzustellen gewohnt war, z. B. die Einteilung des menschlichen Wesens in die fünf »Gruppen« ( skandha), nämlich Körperlichkeit, Empfindung, Vorstellung, Gestaltung, Bewußtsein, oder die Kategorien der sechs Sinneswahrnehmungen, der sechs Prädikate, der sechs Vollkommenheiten ( pâramitâ) u. a. m. Daß hiermit eine schulmäßige Regelung des Denkens erreicht werden konnte, ist klar. Freilich fragt es sich, – wenn man die Abstraktheit und die ganz und gar in technische Ausdrücke gekleidete Redeweise der Prajña-pâramitâ-Literatur erwägt, deren Lektüre dem Gelehrten von heute beträchtliche Schwierigkeiten macht [R434], – wieviele Chinesen jener ersten Jahrhunderte des chinesischen Buddhismus überhaupt imstande gewesen sein mögen, sich ein Verständnis dieser Texte zu erwerben. –
Gewissermaßen ein entwickelteres Stadium der Theorie von der Leerheit finden wir in den Schriften des Nâgârjuna. Dieser hervorragende Denker, dessen chinesischer Name Lung schu ist, war der vierzehnte sogenannte Patriarch und gehörte dem zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert an. Er soll erst spät mit dem Mahâyâna bekannt geworden sein, das er dann mit großem Erfolg verteidigte und, vor allem in Südindien, ausbreitete. Sein wichtigstes Werk, das zur Grundlage der Mâdhyamika-Schule wurde, war das von Kumârajîva übersetzte »Tschung lön« (Mâdhyamika-sâútra) [R435]. Hier wird die Leerheit des Daseins nicht einfach behauptet, sondern sie soll erwiesen werden. Denn, sagt der Verfasser im Eingang, »nach dem Nirvâ?a des Buddha, nach fünfhundert Jahren im nur nachgeahmten Dharma, nachdem der Menschen Sinn allmählich stumpf geworden ist, – – – erkennen sie nicht des Buddha Sinn und haften nur am Wort und Schriftzeichen. Die im Mahâyâna-dharma gelehrte absolute Leerheit hörend, erkennen sie nicht den Grund der Leerheit [R436]«. Dem will Nâgârjuna abhelfen. Sein Thema bezeichnet er mit einem vorangesetzten Verse dahin:
Ohne Entstehen, auch ohne Vergehen, nicht ewig, auch nicht abgeschnitten,
Nicht Eines, auch nicht verschieden, ohne Kommen, auch ohne Gehen, –
Wer so das abhängige Entstehen lehren kann, das stille Erlöschen der Entfaltung,
Vor ihm, dem Erleuchteten, beuge ich das Haupt, dem Besten der Lehrenden.
Acht Prädikate der Dinge werden hier abgewiesen: daß sie entstanden sind, daß sie vergänglich sind, daß sie ewig, daß sie endlich sind, daß sie einheitlich, daß sie verschieden sind, daß sie kommen, daß sie gehen. Wenn in diesen acht Richtungen die verkehrten Ansichten von den Objekten widerlegt sind, dann, sagt der Verfasser, ist über alle Objekte das Nötige gesagt und der richtige Standpunkt gewonnen. Er sucht nun alle jene einander entgegengesetzten Aussagen zu erweisen, und zwar aus dem Augenschein. Der Augenschein lehrt uns, daß die Dinge nicht entstehen. Denn etwa Korn, das heute wächst, muß von Beginn des Kalpa (oder, wie wir sagen würden, von Urbeginn her) als existierend gedacht werden. »Wenn ohne das Korn zu Beginn des Kalpa das jetzige Korn zu erreichen wäre, dann könnte ein Entstehen sein; aber tatsächlich ist es nicht so. Daher gibt es kein Entstehen.« Aehnlich wird das Nichtvernichtetwerden bewiesen. Der Augenschein widerlegt es. Korn, das im Urbeginn war, ist auch jetzt noch da, besteht immer fort. Also gibt es kein Vergehen. Weiter wird aus dem Augenschein das Nichtsein des ewigen Existierens bewiesen: denn zur Zeit des Keimens von Korn wird der keimende Samen als solcher verändert und vernichtet, ist also nicht ewig. Aber ebensowenig ist ein »Abschneiden«, Aufhören. Das Korn setzt im Sproß sein Existieren fort. Ferner kann man aus dem Augenschein abnehmen, daß die Dinge nicht Eines sind: denn das Korn ist nicht sein Sproß, und der Sproß ist nicht das Korn. Aber umgekehrt zeigt auch der Augenschein, daß im Grunde keine Verschiedenheit ist: denn der Vorgang, welcher am Korn den Keim, den Stengel, das Blatt hervorbringt, ist derselbe, der am Baum den Baumsproß, den Baumstamm, das Baumblatt hervorbringt. Weiter kann man von einem Kommen, einem Neueintreten in der Welt nicht reden: der Augenschein lehrt, daß der neue Sproß nicht in dem Samen drin steckt, sodaß er aus ihm heraustreten, kommen könnte, so wie ein Vogel aus einem Baum hervorfliegt. Aber es gibt auch kein Weggehen. »Wenn ein Weggehen wäre, so würde man sehen, wie der Sproß durch das Korn weggeht, so wie eine Schlange durch ihr Loch weggeht. Aber tatsächlich ist das nicht so.«
Hiermit erklärt sich jedoch der zu Belehrende noch nicht zufrieden. Er wünscht eingehender über die Fragen des Nichtentstehens, des Nichtvergehens usw. belehrt zu werden. So breitet denn Nâgârjuna den Inhalt seiner Lehre in einer Reihe von Sätzen, die er näher erläutert, vor dem Zuhörer aus. Um die Argumentationsweise näher kennenzulernen, wollen wir den ersten Satz und seine Erläuterung hier anführen. Der Satz lautet: »Die Dharmas (Objekte) entstehen nicht von selbst, auch nicht aus anderem, nicht aus beidem, nicht grundlos; deshalb wird Nichtentstehen erkannt [R437].« Dieser Satz wird also erläutert: »Nicht von selbst«: die Dinge entstehen nicht durch ihr eigenes Wesen, sondern sie warten die Bedingungen ab. Ferner: wenn ein Von-selbst-Entstehen wäre, so hätte ein Dharma zwei Wesenheiten, erstens das Entstehen, zweitens das Entstehenlassen. Wenn ohne die übrigen Bedingungen etwas aus sich selbst entstände, so hätte es keinen Grund und keine Bedingung. Auch hätte das Entstehen dann ein weiteres Entstehen, – das Entstehen wäre dann unerschöpflich. Da von selbst Entstehen nicht ist, ist auch nicht Entstehen von anderem. Weshalb? Weil »selbst« ist, ist »anderes«. Wenn kein Entstehen von selbst ist, auch kein Entstehen aus anderem ist, so ist das Entstehen aus beiden zusammen mit zwei Fehlern behaftet, weil es (zugleich) von selbst entsteht und aus anderem entsteht. Wenn aber ohne Grund alle Dinge sind, so bedeutet das: sie sind ewig. Diese Sache ist nicht richtig. Ist kein Grund, so ist keine Folge. – Nehmen wir noch einen andern Satz nebst Erläuterung. Der Satz ist dieser: »Der Wirkungen vorheriges Sein und Nichtsein in den Bedingungen: beides ist nicht möglich. Wenn sie vorher nicht sind, wozu gibt es dann Bedingungen? wenn sie vorher schon sind, wozu braucht man dann Bedingungen? [R438]« Erläuterung: In den Bedingungen ist vorher weder die Wirkung noch keine Wirkung. Wenn vorher schon die Wirkung ist, so heißt es nicht »Bedingung«, da die Wirkung vorher schon da ist. Wenn die Wirkung vorher nicht ist, auch dann heißt es nicht »Bedingung«, weil sie die übrigen Dinge nicht hervorbringt. – So durchspürt die Dialektik hier die schwachen Seiten aller Positionen, welche in Beziehung auf jene sicherlich für uns rätselhaften Grundbegriffe wie Werden und Vergehen, Entstehung und Ursache u. dgl. eingenommen werden können, und kommt auf diesem Wege zu dem Schlusse, daß alle Aussagen irgendwelcher Art irrig sind und allein der radikale Illusionismus übrig bleibt. Dieses Verfahren wird (in 27 Abschnitten) nach den verschiedensten Richtungen hin verfolgt und auf alle möglichen Fragen der buddhistischen Dogmatik und Philosophie angewendet, darunter auf so wichtige wie die Fragen nach Raum, Zeit, Kausalität. Doch tragen die Untersuchungen schließlich für die wirkliche Ergründung solcher Probleme nichts bei, da Nâgârjuna bei seinem Nachweis der Relativität aller empirischen Erkenntnis rein formell verfährt und nur immer wieder auf ähnliche Weise die innere Unhaltbarkeit der einen wie der andern Stellung zu jenen Fragen nachweist. Dabei ist jedoch die Argumentation, die nach den Kunstregeln der indischen Diskussionslehre vorgeht, als Schulung des Denkens bis zu einem gewissen Grade unzweifelhaft wertvoll gewesen.
Das Ansehn des Nâgârjuna im chinesischen Buddhismus war sehr groß. Man stellte ihn fast dem Buddha selbst gleich. Im chinesischen Kanon finden sich 24 Werke, die auf ihn zurückgeführt werden, wenn auch eine Anzahl davon wohl ohne historischen Grund. Nicht nur die San lön tsung leitete ihren Ursprung von ihm ab und legte seine Schriften ihren Lehren zugrunde, sondern auch die Schule vom T'ien t'ai und die Schule des Reinen Landes suchten Verbindung mit ihm und studierten seine Schriften. Die letztgenannte Schule, die neben ihrer oben dargelegten religiösen Tendenz auch die philosophische Gedankenrichtung nicht vernachlässigte, stützte sich bei dieser vor allem auf das Schï örh mên lön (Dvâdaúa nikâya úâstra) des Nâgârjuna, die dritte der Grundschriften der San-lön-Schule.
Nebenbei sei bemerkt, daß in dem Zeitraum, welchen wir hier behandeln, auch ein Werk in das Chinesische übertragen und den Chinesen geläufig geworden ist, das, an sich zwar älter als die philosophische Mâdhyamika-Literatur, doch einen verwandten Standpunkt einnimmt, gleichsam auf dem Wege zu der Erkenntnistheorie der Mâdhyamikas sich befindet und seine Auffassungen in einer allgemein eingänglichen und anschaulichen Weise darstellt, die es sehr populär machte. Das ist das Werk »Milinda pañha«, d. h. »die Fragen des Milinda«. Es enthält die Erörterungen eines Gespräches zwischen dem König Menander, dem Herrscher eines griechisch-indischen Reiches im Nordwesten Indiens, der ungefähr 125-95 vor Christo regiert hat, und auf der andern Seite dem Weisen Nâgasena, der die buddhistische Erkenntnistheorie vertritt. Das Werk ist während der östlichen Tchin-Dynastie (317-420) durch einen unbekannten Uebersetzer ins Chinesische übertragen [R439]. Sein Text stimmt nicht überein mit dem indischen, sondern ist ursprünglicher und kürzer [R440].
Die Dialektik des Nâgârjuna hatte die Gesamtheit des Existierenden in einen Negativismus versenkt, der nur noch Leerheit kannte. Die Leerheit machte, wie wir gesehen haben, auch vor dem Buddha und seiner Verkündigung nicht Halt. Auch der Tathâgata, auch die vier edlen Wahrheiten, auch das Karma, auch die Bemühungen um die »Buddhafrucht«, auch die Mönchsgemeinde und ihre Institutionen, auch das Studium und die Belehrung, – alles ist leer. Und ist das dann nicht ein Vernichtungsurteil? Welchen Wert hat dann noch die Lehre des Buddha? Darauf gaben die Mâdhyamikas die Antwort, daß die gewöhnlich so genannte Lehre des Buddha samt all ihren Einrichtungen, Weisungen und Schriften nichts weiter als eine Anpassung an die blinde Menge, ein Stück des Blendwerks dieser Welt, daß dagegen der wahre Buddhismus nichts weiter als eine rein innerliche Haltung des Menschen sei, jene Haltung nämlich, bei der man den Blick der prajña-pâramitâ, der vollkommnen Erkenntnis, erreicht habe.
Diese Fährte nun nahm Bodhidharma, der nach China übergesiedelte achtundzwanzigste Patriarch, auf und formte danach die von ihm gegründete Meditationsschule. Man betont gewöhnlich, daß er das Studium von Schriften und das Ausdrücken der Lehre in Schriften verwarf, dagegen auf das Innere des Menschen als alleinigen Quell der rechten Erkenntnis hinwies. Das tat er ohne Zweifel. Man versteht aber diese Haltung nur richtig, wenn man sie im Zusammenhang der Mâdhyamika-Auffassung betrachtet, die wir soeben andeuteten. Der wahre Buddhismus ist etwas ganz anderes als der sogenannte äußerliche Betrieb, dessen Grundlage heilige Schriften und Studium ihrer Lehren ist. Indem Bodhidharma von den heiligen Schriften abrückt, will er von dem ganzen »kirchlichen« Buddhismus, diesem Bestandteil der verzauberten Welt, abrücken. Damit hat wirklicher Buddhismus nichts mehr zu tun. Das ist der Sinn jener viel erwähnten Erzählung vom Zusammentreffen des Bodhidharma mit dem Kaiser Liang Wu Ti [R441]. Dieser hatte in seiner großen Verehrung für den Buddhismus den aus Indien nach Kanton gekommenen Patriarchen eingeladen, ihn an seinem Hof in Nanking zu besuchen. Bodhidharma erschien, und der Kaiser hielt ein Gespräch mit ihm, bei welchem die beiden Arten der Lehrauffassung hart zusammenstießen. Der Kaiser sagt: »Seit meiner Thronbesteigung habe ich unablässig Tempel erbaut, heilige Schriften herstellen lassen, neuen Mönchen Erlaubnis zum Eintritt in die Klöster gegeben. Wieviel Verdienst mag ich mir dadurch erworben haben?« Die Antwort lautet: »Gar keins.« Der Kaiser fragt: »Warum kein Verdienst?« Bodhidharma erwidert: »All dergleichen ist nur die wertlose Wirkung einer unvollkommenen, in sich nicht Bestand habenden Ursache. Es ist der Schatten, der dem Gegenstand folgt, und ist ohne wirkliches Sein.« Der Kaiser erkundigt sich weiter: »Was ist denn wahres Verdienst?« Der Patriarch erwidert: »Es besteht in Reinheit und Erleuchtung, Tiefe und Vollkommenheit, es besteht darin, daß man, umgeben von Leere und Stille, in Denken versunken ist. Dergleichen Verdienst läßt sich durch weltliche Mittel nicht erwerben.« Der Kaiser, wohl unsicher über den Sinn des Gehörten, stellt eine andere Frage: »Welches ist die wichtigste der heiligen Lehren?« Wieder bekommt er sofort etwas auf den Mund: »In einer Welt, die völlig leer ist, kann man nichts heilig nennen.« Der Kaiser, verwirrt und unwillig, ruft: »Wer ist es, der mir so entgegnet?« Bodhidharma, seine Lehre von der Leerheit auch in dieser Antwort festhaltend, sagt: »Ich weiß es nicht.« Eine positive Aussage über die Phänomene des Zauberspiels der Welt ist eben nicht zu geben, auch nicht in bezug auf die eigene Person. – Der Kaiser vermochte die Gedanken des Gastes nicht zu fassen, und dieser verließ den Hof wieder, überschritt den Yangtse (auf einem Bambuszweig, sagt die Legende, der ihm als Fahrzeug diente) und begab sich in die Gegend von Loyang, um dort seinem Buddhismus zu leben.
Deutlich spricht sich in diesem Berichte aus, daß Bodhidharma als den wahren Buddhismus das Erfassen der Leerheit ansah. Dies Erfassen aber war ein rein innerlicher Vorgang, dessen Besonderheit mit Worten nicht wiedergegeben, sondern nur still erlebt werden konnte. Das spiegelt sich in einer andern kleinen Geschichte wieder. Bodhidharma habe einst, um seine Schüler zu prüfen, gefragt, warum sie sich über ihr religiöses Erlebnis nicht aussprächen. Einer erwidert, sein religiöses Erleben sei von formulierten Worten nicht abhängig, wenn es auch mit ihnen (in Unterweisung) zusammenhänge. Der Meister erklärt, dieser Jünger habe seine Haut (ein oberflächliches Verständnis). Eine zweite Antwort, die einer Nonne, lautet, das im religiösen Erleben Geschaute sei wie ein Paradies, schwinde aber sofort wieder hin, so daß es sich nicht äußern lasse. Bodhidharma urteilt, diese Nonne habe sein Fleisch. Ein dritter sagt, da alles Existierende nur Scheindasein habe, so sei der Inhalt seines Erlebens, in Worte gefaßt, eben auch Schein und Leerheit. Ihm billigt der Meister zu, daß er seine Knochen habe. Ein vierter aber tritt, anstatt zu antworten, in verehrender Haltung vor den Meister hin und verharrt in Schweigen. Diesen charakterisiert der Patriarch mit den Worten: »Du hast mein Mark«, d. h. meine tiefste Wesensart. Ihn bestimmte er dann weiterhin auch zu seinem Nachfolger im Patriarchat [R442].
Man hat den Bodhidharma wohl den Mystiker des chinesischen Buddhismus genannt [R432], und sicher hat er etwas vom Mystiker, insofern sein eigentlicher Besitz etwas so tief Innerliches und so stark Subjektives ist, daß er nicht äußerlich darstellbar und ausdrückbar ist. Der Schüler des Bodhidharma, der innerlich zum Verständnis gekommen ist, bemerkt zu seinem Resultat: »In demselben Augenblicke, da du es aussprichst, ist es ein Etwas (oder ein Nichts), und damit triffst du vorbei«, ganz ähnlich wie die muhammedanische Mystik es (bei Gazâlî) in dem hübschen Bilde ausdrückt: »Ein heiliger Mann wollte für seinen Freund Blumen aus seinem Frühlingsgarten mitbringen; er füllte seine Schürze, war aber vom Dufte so berauscht, daß ihm die Schürze entglitt, ehe er den Garten verließ.« Der Mystiker kann rein Erlebtes nicht in Worte fassen. Aber man darf bei Bodhidharma doch den Unterschied nicht vergessen, daß das innere Erlebnis für ihn eine ganz bestimmte Richtung und einen fest beschränkten Inhalt hat, nämlich die Leerheit, den Kernsatz der prajña-pâramitâ. Das wird oft unbeachtet gelassen. Die Schule des Bodhidharma wird auch die Meditationsschule genannt, und viele verstehen das Wort dahin, daß Bodhidharma der Meditation wieder ihren gebührenden Platz an erster Stelle gegeben habe, wie der Buddha selbst es gelehrt. So liegt die Sache aber nicht. Der chinesische Gelehrte Yang Wên hui in seiner Abhandlung über die Schulen des chinesischen Buddhismus [R444] bemerkt zur Meditationsschule: »Die richtige Bedeutung (des Ausdrucks Meditation) hat aber nicht Bezug auf die Meditation, die die fünfte pâramitâ ist, sondern auf die sechste Stufe der prajñapâramitâ.« Die pâramitâ waren nämlich in der buddhistischen Dogmatik eine Anzahl von Heilsmitteln (ursprünglich sechs, später zu zehn erweitert) besonderen Wertes, unter denen als fünftes die Meditation ( dhyânapâramitâ) genannt wird. Das war die allgemein im Buddhismus von Anfang an geübte Meditation oder Konzentration (Kontemplation), deren Methoden sehr mannigfaltig waren. Diese aber ist bei Bodhidharma nicht gemeint. Er führt vielmehr eine besondere Meditation für seine Schule ein, deren Objekt die prajña, die Weisheit, ist, die in der Aufzählung der pâramitâ die sechste Stelle einnimmt. Diese prajña war nach der Schule der Mâdhyamikas eben die Leerheit, úûnyatâ. Bodhidharma nun wies seine Jünger auf besondere Meditationen hin, welche die Leerheit zum Gegenstande hatten. Nur auf dem Wege dieser Meditationen erreichten sie das Erleben der Leerheit, dieser Vollkommenheit der Weisheit, und nur in der Meditation besaßen sie diesen unaussprechlichen und unbeschreiblichen Schatz. Ueber ihn konnte man nur schweigen, konnte nur schweigend, vielleicht mit symbolischem Zeichen, dem, der ihn gleichfalls aus eigenem Erleben kannte, davon Zeugnis geben. Im Grunde mußte bei der Erreichung dieses Zieles der Jünger selbst die Hauptsache tun. Er mußte, über die Natur der Dinge und seiner selbst meditierend, jenen eigenartigen Zustand gewinnen, in welchem die Leerheit der Dinge in voller Sicherheit und Deutlichkeit erfaßt war. Viele drangen natürlich nicht bis dahin vor, da es sich offenbar um einen besonderen psychischen (oder parapsychischen) Prozeß handelte, für den nur Wenige Anlage besaßen. Und selbst diese mußten, wie uns bezeugt wird, oft jahrelang darum ringen.