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Neben den bekannten Repräsentanten der altchinesischen Philosophie, Lao tse und Konfuzius, haben, wie wir schon in der Einleitung bemerkten, noch ganz andere Gestalten gestanden, deren Bild später verdunkelt wurde und heute wenig mehr beachtet ist, obwohl sie ein Fortleben in der Geschichte wohl verdienten. Einige geringere unter diesen, Têng Hsi und Yen Ying, haben wir bereits erwähnt. Aber da sind noch mehr und größere. Der bedeutendste dieser weniger gekannten dürfte Mê Ti sein, den ein moderner chinesischer Gelehrter (Hu Shih) »vielleicht einen der größten Geister, die China je hervorgebracht hat«, nennt [R222].
Mê Ti (auch Meh Ti, Mo Ti, Mi Ti transskribiert, in Latinisierung Micius, von Mi tse, »Meister Mi«) hat im fünften Jahrhundert vor Christo gelebt. Sein Geburts- und Todesjahr sind nicht bekannt, doch muß er ungefähr geboren sein um die Zeit, als Konfuzius starb, und sein Lebensende wird um 400 v. Chr. zu suchen sein [R223]. Er war also ein Zeitgenosse des Enkels von Konfuzius, von dem oben (S. 104) im Zusammenhang mit den Werken Tschung yung und T'ai hsiô die Rede war. Den größten Teil seines Lebens hat er in dem Staate Lu, der Heimat des Konfuzius, zugebracht, wo er auch nach großer Wahrscheinlichkeit geboren wurde. Doch ist er einige Zeit in dem südlich benachbarten Staate Sung Beamter gewesen und hat sich auch an den Höfen einiger anderen Feudalfürsten zeitweilig aufgehalten; manchmal scheint er, ähnlich wie Konfuzius gegen Ende seiner Jahre, ein Wanderleben geführt zu haben.
Seine Gedanken entwickelte er in der Unterweisung von Schülern, denen er auch die Weiterüberlieferung anheimgab. Die Zahl seiner Schüler soll sehr groß gewesen sein, und was wir heute als die Werke des Mê Ti besitzen, hat sich in ihrer Mitte gebildet. Dabei konnte nicht ausbleiben, daß sich auch allerlei fremdes Gedankengut den Worten des Meisters ansetzte. Den Untersuchungen chinesischer und japanischer moderner Kritiker und der Analyse von A. Forke verdanken wir die Ausscheidung dieses Fremdgutes. Bei manchen Fürsten seiner Zeit war Mê Ti angesehen und von Einfluß; doch fand er keinen, der seine Lehre ernsthaft in die Praxis umzusetzen versucht hätte. Es ging ihm da ähnlich wie Konfuzius. Uebrigens aber zeigt das Bild seines Geistes ganz andere Züge als wir sie bei jenem beobachteten.
Mê Ti ist eine stark religiös angelegte Natur. Das Dasein einer höchsten Gottheit, die über Welt und Menschen waltet, ist ihm eine feststehende Tatsache. Er nennt die höchste Gottheit »Himmel« ( T'ien) und sieht in dem atmosphärischen Himmel über unsern Häuptern eine Art sinnenfälligen Beweises ihrer Existenz. Doch faßt er den »Himmel« als ein persönlich geistiges Wesen nach Menschenart, aber ins Große und Rein-Gute gesteigert. Er ist der Hort der moralischen Ordnung, die er durch Lohn und Strafe aufrecht erhält. Darüber hinaus aber – und das ist merkwürdig genug – nimmt Mê Ti als gewiß an, daß dieser Gott die Menschen liebt. Sie gelten ihm als seine Kinder. Aus Liebe zu ihnen sorgt er für sie, gibt ihnen immer wieder das Nötige, und waltet väterlich über ihrem Schicksal. Seine Vergeltung ist ein Ausfluß seiner Liebe. Daß er zugleich allweise, allgegenwärtig und unentrinnbar, allwissend ist, versteht sich von selbst [R224].
Der Glaube an diesen gütigen höchsten Gott, den Mê Ti offenbar nicht nur theoretisch und intellektuell, sondern mit der ganzen Wärme persönlicher Frömmigkeit festhält, ist eine der Quellen für den bezeichnendsten Zug seiner Philosophie, nämlich für die Forderung, daß die Menschen einander lieben sollen. Davon wird nachher weiter zu reden sein.
Neben (oder besser unter) dem höchsten Gott kennt nun Mê Ti noch mancherlei andere übersinnliche Wesen, denen man gleichfalls Verehrung schuldig ist. Das sind die Geister der Natur, z. B. der Berge und Flüsse, des Erdbodens und der Feldfrüchte, dazu aber auch die Geister der Verstorbenen, die Ahnen. Geister und Ahnen sind weiser und mächtiger als der Mensch und nehmen an der Weltregierung des höchsten Gottes, insbesondere an der moralischen Lenkung durch Vergeltung, tätigen Anteil [R225].
Auf die Probleme, welche sich aus der Kollision seines Gottesglaubens mit dem wirklichen Leben ergeben, geht Mê Ti nicht tief ein. Das Vorhandensein des Bösen in der Welt, der ungerechte Gang des Schicksals, das Leiden der Guten und der Triumph der Bösen wird wenig oder gar nicht ernstlich erwogen. Nur eine Frage dieser Art wird lebhafter erörtert, nämlich die Frage nach der Bestimmungsfreiheit des Menschen gegenüber dem Willen des Jenseits, dem »Schicksal« ( Ming). Zwar kann unser Philosoph hier natürlich das letzte lösende Wort nicht sprechen; aber er vertritt doch energisch den Standpunkt, daß der Wille der Gottheit oder der Geister, obwohl zweifellos wirksam in der Welt, darum keineswegs eine starre Vorherbestimmtheit und Unabänderlichkeit einschließe, wobei ja jede Verantwortlichkeit aufgehoben wäre, sondern daß der Mensch sich sein Schicksal doch selbst schaffe und damit Verdienst erwerbe oder sich verschulde, wonach dann die Vergeltung der höheren Mächte einsetze. Mê Ti hält es für praktisch ungemein wichtig, daß man in dieser Frage richtig urteile, denn alles Gemeinschaftsleben werde durch den Glauben an ein starres übermächtiges Schicksal und durch den Determinismus zerrüttet und vernichtet. Solche Ansicht »ist eine Lehre für Frevler«. Mê Ti wendet sich an dieser Stelle in seiner Polemik gegen Konfuzianer, welche aus gewissen, bei Konfuzius unzweifelhaft vorhandenen Ansätzen zum Determinismus (vgl. S. 79) entschiedene Konsequenzen gezogen hatten [R226].
Gehen wir nun von den religiösen Voraussetzungen des Mê Ti über zu seinen im engeren Sinne philosophischen Auffassungen, so haben wir da zunächst festzustellen, wie und auf welchem Wege der Philosoph seine Einsicht gewinnt. Denn darüber hat er eine bestimmte Vorstellung, sozusagen eine Methodenlehre, ausgebildet. Anläßlich seiner Polemik gegen den Fatalismus (Kap. 35) sagt er: »Wenn man eine Lehre kritisieren will, so muß man dafür eine feste Methode besitzen. Ohne diese kann man zwischen Wahrem und Falschem, Vorteil und Nachteil nicht unterscheiden.« Mê Tis Methode nun besteht darin, daß man jede Frage nach drei Gesichtspunkten untersucht. Der erste ist der Gesichtspunkt des Ursprungs; dabei prüft man die Erfahrungen und Aussprüche der weisesten Männer des Altertums und stellt fest, wie sie sich zu der Frage verhalten. Der zweite ist der Gesichtspunkt des Grundes; dabei prüft man, wieweit die Tatsachen der Sinneswahrnehmung (der empirischen Kenntnisse) für oder gegen die aufgeworfene Frage sprechen. Der dritte ist der Gesichtspunkt der praktischen Anwendung; dabei prüft man, ob sich aus der Anwendung einer Theorie in Rechtswesen und Verwaltung Vorteile oder Nachteile für die Allgemeinheit ergeben [R227].
Diese Untersuchungsmethode ist sicher nicht übel, obwohl Mê Tis eigenes Beispiel an vielen Stellen zeigt, daß man bei ihrer Anwendung auch große Mißgriffe begehen kann [R228]. Am meisten charakteristisch für ihn ist der dritte Gesichtspunkt. Mê Ti legt großes Gewicht darauf, daß man Theorien nicht einfach aus sich selbst entwickle und dann als gültig hinstelle, sondern daß man sie in der Praxis ausführe und damit erprobe, was sie wert seien. Er findet sehr treffende Worte für den großen Unterschied zwischen rein gedanklicher Beschäftigung mit Problemen und dem wirklichen Ausführen, zwischen Reden und Handeln, Abstraktionen und dem harten Boden des Tatsächlichen. Er bemerkt einmal: »Man spricht einem Menschen Kenntnis zu, nicht weil er Dinge zu benennen weiß, sondern weil er mit ihnen umzugehen vermag.« Wir werden diese Vorliebe für Erprobung an der Wirklichkeit, die schließlich immer vor allem eine Probe auf Vorteil oder Nachteil sein wird und deshalb bei Hu Shih den Namen »Pragmatismus« trägt, an der zentralen Stelle von Mê Tis Lehre deutlich wieder herrschend finden.
Sich kontrollierend nun an solcher Methodenlehre stellt Mê Ti eine eigenartige Gesellschafts- und Pflichtentheorie auf, die eine Physiognomie zeigt nicht unähnlich gewissen sozialen Theorien moderner Zeit. (Deshalb haben auch Bearbeiter wie E. Faber und A. David, wenn gleich ohne zureichende innere Berechtigung, geradezu den Namen Sozialismus darauf angewandt.)
Unterbaut wird die ganze Theorie des gesellschaftlichen Lebens durch eine Art geschichtlichen Rückblicks auf die ältesten Zeiten, auch dies ein modern-wissenschaftlich anmutender Zug. Im frühsten Altertum, sagt Mê Ti, lebten die Menschen ähnlich den wilden Tieren, sie wohnten in Höhlen oder auf Hügeln, benutzten Felle als Kleidung, flochten sich Gürtel aus Pflanzenfasern und aßen die Früchte, die die Natur ihnen bot. Daß sie aus diesem Zustande zur höheren Zivilisation erhoben wurden, verdankten sie einer Reihe weiser und kraftvoller Männer, die in der Erinnerung der Späteren als Könige der Urzeit erscheinen. Diese »Kulturheroen«, wie die moderne Wissenschaft solche Gestalten nennen würde, lehrten die Leute Häuser bauen, Kleidungsstoffe herstellen, das Feuer zur Bereitung von Speisen benutzen, Waffen für die Jagd und zur Verteidigung anwenden, Wagen und Schiffe bauen u. dgl. m.
Wie der Mensch nun durch den Einfluß einzelner Großer über das äußerliche Lebensniveau des Tieres erhoben wurde, so ging es auch in geistigen Dingen. Ursprünglich herrschte nämlich ein beständiger Streit aller gegen alle, eine allgemeine Anarchie. Meinung stand gegen Meinung, Absicht gegen Absicht, Ich gegen Ich. Keiner unterstützte den andern, belehrte den andern, ließ ihn an seinem Besitze teilnehmen. Man lebte nach allen Seiten in Zwietracht und Feindschaft, selbst die Familien waren von Haß zerrissen. Die trüben Erfahrungen, die man so machte, führten aber schließlich dazu, daß man ein Haupt an die Spitze einer Gruppe von Menschen stellte, die dadurch nun einen festen Zusammenhalt bekamen. Daraus entwickelte sich allmählich ein Staatsorganismus mit einem Fürsten (dem »Himmelssohne«) und seinen Beamten. Die führenden Persönlichkeiten waren naturgemäß Leute von besonderen Gaben und besonderen sittlichen Qualitäten, eine Hilfe und ein Vorbild für den gemeinen Mann [R229].
So ungefähr stellt sich Mê Ti den Uebergang des Menschen aus ursprünglicher Roheit zu zivilisiertem Gemeinschaftsleben vor, und aus dieser Vorstellung leitet er nun die für das gemeinsame Leben geltenden Grundforderungen ab. Nur infolge der Beherrschung der Vielen durch Einzelne, nur infolge der Leitung der Unbegabten durch Begabte ist es zu einem Fortschritte gekommen. Darum muß es immer in der Gemeinschaft Herrschende und Untertanen, Führende und Geführte geben. Aber alle Leitung ist begrenzt, relativ: über jeder Autorität steht eine höhere Autorität, selbst über dem Kaiser steht der Himmel. Jeder Gebietende hat also auch wieder zu gehorchen; aber vor allem freilich gebührt es den großen Volksmassen, zu gehorchen. Doch soll der Gehorsam nicht blind sein. Auch der Mann aus dem Volke soll aufmerken, wenn ein Vorgesetzter Unrecht tut, und soll darüber Vorstellungen machen; auch der Mann aus dem Volke kann eine wertvolle Idee haben und soll sie dann der Obrigkeit mitteilen. Im ganzen jedoch muß der Weg des Gehorsams und der Gefügigkeit für die Massen bewahrt bleiben. Die Regierten müssen fest zu den Regierenden halten, ihren Weisungen nachkommen und dem entgegentreten, was jene mißbilligen. Auf diese Weise wird der Zusammenschluß gewahrt. Gruppenweise hält man zueinander, die Gruppen wieder vereinigen sich unter höherer Leitung, bis alles einheitlich zusammenläuft in der Spitze, dem »Sohne des Himmels«.
Damit nun aber diese Einheit wirklich zustande komme, bedarf es vor allem dessen, daß der Platz der Führenden richtig besetzt werde. Nur die Fähigsten und Besten dürfen zu Beamten ernannt werden. Dem Tüchtigen freie Bahn zur Führerschaft, aber zurück von solchem Platze mit dem Unfähigen! Reichtum, Familienansehen, berühmter Name befähigen an sich noch nicht zum Amtsträger. Mê Ti bemerkt: als Schlächter, Köche u. dgl. stellt man nur Leute an, die diese Berufe gut gelernt haben und verstehen; für hohe Staatsämter aber verwendet man nur zu oft irgendwelche Verwandte oder Günstlinge von Fürsten und Mächtigen. Wie wenn es so viel leichter wäre, einen Beamtenposten auszufüllen, das Reich zu verwalten und das Volk zu regieren, als ein Handwerk auszuüben! Vielmehr soll man zu Führern nur begabte Leute nehmen, die zugleich tugendhaft und vorbildlich leben, die Erfahrung haben in den betreffenden Geschäften und auch gute Redner sind. In der Regel werden solche Männer aus dem Gelehrtenstande hervorgehen. Das darf indes nicht unverbrüchliche Regel sein. Hauptsache ist nicht die soziale Schicht, aus der der Mensch stammt, sondern Begabtheit und Gesinnung. Die Besten, in welchen Volksschichten sie sich auch finden, müssen in den Dienst der Gemeinschaft gestellt werden. Mê Ti weist auf Beispiele des Altertums hin, wo einfache Handwerker, etwa ein Fischer oder Ziegelbrenner, ein Koch, ein Maurer, zu den höchsten Stellungen gelangt seien, weil sie tüchtig und ehrenhaft waren.
Hat nun aber jemand die nötigen Eigenschaften, und kann er die leitende Stellung ausfüllen, dann gebühren ihm auch gewisse Auszeichnungen, die die Untergebenen ihm neidlos zugestehen müssen. Solche Auszeichnungen sind: überragender Rang, hohes Gehalt, besondere Machtbefugnisse. Dergleichen ist nötig, damit die Menge vor den Führern Respekt empfinde, und damit diese ihren Willen in dem, was sie für gut und richtig halten, auch durchsetzen können [R230].
Nachdem Mê Ti den Aufbau des Gemeinschaftslebens soweit gekennzeichnet hat, kommt er zu der Hauptsache. Denn – so etwa ist sein Gedankengang – wenn dieser Gemeinschaftsbau dauerhaft aufgeführt werden soll, so bedarf es dazu vor allem eines gewissen Mörtels, der die Bausteine eng und fest miteinander verbindet. Eine innere Gemeinschaftskraft muß da sein [R231]. Und welche? Es muß die Kraft gegenseitiger Menschenliebe sein, die alle untereinander eint.
Von Menschenliebe ( Jên) hörten wir auch schon bei Lao tse, Konfuzius und Yen Ying. Hier aber, bei Mê Ti, bekommt sie einen ganz neuen Akzent und wird mit ganz anderer Energie in den Vordergrund gerückt. Auch wählt unser Philosoph einen andern Ausdruck als das wohl etwas kühl klingende » Jên«; er gebraucht den Ausdruck » Ai«, welcher die Liebe mehr als Affekt ausdrückt, und er nennt sie noch stärker verdeutlichend » Tchien ai«, die »einigende, zusammenfassende, allgemeine Liebe« (Forke), um damit die Signatur seiner Philosophie ebenso klar wie eigenartig zu prägen. Die einigende, allgemeine Liebe ist die Signatur der Lehre Mê Tis geblieben, sie hat ihn für seine Landsleute immer charakterisiert, um ihretwillen wird er von den Gegnern vor allem angegriffen, sie gibt ihm in der Geistesgeschichte Chinas seine Stelle.
Die meisten Uebel im Staat wie in jeder kleineren Gemeinschaft, sagt unser Philosoph, gehen hervor aus dem Mangel an gegenseitiger Liebe. Weil sie lieblos sind, darum überwältigen die Starken brutal die Schwachen, darum verspotten und verachten die Reichen das Elend der Armen, darum sind die Vornehmen übermütig gegen die Geringen, darum betrügen die Schlauen die Törichten. Daß überall Zwietracht herrscht, selbst zwischen Fürst und Beamten, zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Bruder, daß auf diese Weise eine schreckliche Entartung eingetreten ist, woher kommt es? Alles aus dem Mangel an gegenseitiger Liebe. Jeder liebt nur sich und das Seine. Wenn dagegen jeder den andern wie sich selbst liebte, so würden alle jene Uebel wegfallen und das ganze Volk würde glücklich werden. »Wenn man alle Bewohner des Reiches veranlassen könnte, sich zu gegenseitiger Liebe zusammen zu tun und andere ebenso zu lieben wie sich selbst, würden sie dann noch wohl unkindlichen Sinn zeigen? Würde es dann noch unfreundliche Personen geben? – Würden noch Diebe und Räuber existieren? Wenn man das Haus anderer wie sein eigenes ansieht, wer würde es da noch bestehlen? Und wenn man fremde Persönlichkeiten seinem eigenen Ich gleichstellt, wer würde da noch Gewalttätigkeit üben?«
So weist Mê Ti auf die gegenseitige Liebe als die Kraft, die ein Staatswesen zu innerer Gesundheit und Blüte bringen müsse. Aber er bleibt dabei nicht stehen. Er blickt über die Landesgrenzen hinaus und fordert, daß die Beziehungen von Staat zu Staat und von Volk zu Volk ebenso durch allgemeine Liebe geregelt werden. Damit wendet er sich gegen den Krieg. Allerdings macht er hier nun einen bemerkenswerten Unterschied: er ist entschiedener Gegner jedes Angriffskrieges, dagegen erlaubt er den Verteidigungskrieg, er erlaubt auch, kleinen Staaten, die durch Eroberungsgelüste mächtigerer bedroht werden, Hilfe zu leisten, so wie er selbst militärische Strafexpeditionen, wo sie nötig sind, billigt. Aber der Krieg, der weitaus der gewöhnlichste war, der Krieg zum Zwecke der Eroberung und Machtvermehrung, der Krieg, durch den der Starke den Schwachen zu überwältigen trachtet, solch ein Krieg gilt ihm durchaus als verwerflich. Auch hier liegt die Ursache an dem Mangel allgemeiner Liebe. Sie muß darum über die Landesgrenzen hinüber sich geltend machen. Aber weil man solche Liebe zu den Angehörigen eines fremden Staates nicht kennt, darum halten die Menschen Kriegstaten geradezu für etwas Bewunderungswürdiges, Hohes, Edles. Doch wie liegt die Sache in Wahrheit? Stehlen, Rauben, Morden im beschränkten Maßstab, das gilt für Verbrechen und wird verurteilt und bestraft. Aber Raub, Kampf und Mord im großen, das gilt als Krieg und wird damit ruhmvoll und berechtigt; es wird für die Nachwelt aufgezeichnet als etwas Glänzendes und füllt die Geschichtswerke. Das ist gerade so, wie wenn jemand schwarz und bitter in geringen Mengen für schwarz und bitter erklärt, in großen Mengen aber es weiß und süß nennt! Mächtige Staaten, die ihre schwächeren Nachbarn mit Krieg überfallen, handeln um nichts besser als ein reicher Gewaltmensch, der arme Leute ihrer Habe oder ihres Lebens beraubt, weil er stark genug dazu ist [R232].
Wenn Mê Ti die allgemeine gegenseitige Liebe als das Heilmittel für die menschliche Gemeinschaft bezeichnet, so weiß er wohl, daß es damit keine einfache Sache ist. Er hört seine Gegner sagen: »Solche Liebe wäre freilich etwas Schönes, aber sie ist auch das Schwierigste auf der Welt.« Kann er einen Weg weisen, wie die allgemeine Liebe in den Menschen zu wecken wäre?
Wir sahen oben, daß Mê Ti die Aufforderung zur Liebe aus der religiösen Vorstellung von der Liebe Gottes zu den Menschen ableitet (S. 111). Ohne Zweifel ist für ihn selbst diese Gedankenverbindung wichtig genug. Er führt aus, daß der »Himmel« dem Menschen ein Vorbild sein müsse. Nun wolle der Himmel offenbar, daß die Menschen einander lieben und fördern sollen, da er selbst alle Menschen liebe und ihnen helfe. »So ist es klar, daß nach dem Wunsch des Himmels die Menschen sich lieben und unterstützen, aber nicht sich hassen und schädigen sollen.« Mê Ti steht in diesem Gedankengange so ziemlich auf demselben Boden wie Jesus in Mt. 5, 48. Hätte er diese enge Verbindung der Ethik mit der Religion durchgeführt, so würde man ihn zwar nicht, wie Hu Shih in seinem Enthusiasmus einmal tut, einen Religionsstifter nennen können [R233], wohl aber hätte seine Pflichtenlehre dadurch ein warmes religiöses Lebensblut bekommen, so wie man es eigentlich von der religiösen Anlage des Mê Ti erwarten sollte. Aber tatsächlich läßt unser Philosoph da, wo er die Motive zur allgemeinen Liebe behandelt, die Verbindung mit der Religion völlig fahren und greift einen anderen Faden auf, dem er vielleicht mehr Haltbarkeit zutraute. Das Motiv zur Erweisung gegenseitiger Liebe sieht er in der Erkenntnis, wie nützlich solche Liebe für alle sein müsse. Es steht nämlich für ihn fest: »Wer andere liebt, dem vergilt man mit Liebe, wer ihnen Vorteil bringt, dem vergilt man mit Vorteil; wer andere haßt, dem vergilt man mit Haß, und wer ihnen schadet, dem vergilt man mit Schaden. Was ist dabei schwierig? Die einzige Schwierigkeit ist, daß die Herrschenden ihre Regierung und die Gelehrten ihr Handeln nicht danach einrichten« [R234]. Wenn nun die »Edlen« auf dieser Bahn mit gutem Beispiele vorangingen und die Fürsten das Volk dazu durch Lob und Belohnungen anfeuerten oder durch Strafen warnten, so würde im Laufe einer einzigen Generation leicht ein totaler Umschwung in der Haltung der Menschen gegeneinander zu erzielen sein, so daß sie alle sich gegenseitig lieben und einander unterstützen würden. »Ihr Drang würde so stark sein wie der des Feuers, nach oben zu steigen, und der des Wassers, herabzusinken, und ließe sich durch nichts in der Welt hemmen« [R235].
Als eine Stütze seiner Meinung führt Mê Ti an, daß doch auch sonst Menschen, wo sie sich davon einen Vorteil versprächen, sich viel gefallen ließen, wie z. B. viele Beamten die sonderbarsten Launen ihrer Herrscher getragen und sich darein gefunden hätten [R236]. Wie sollte man dann nicht zur Uebung allgemeiner Liebe bewogen werden durch den Blick auf die unabsehbaren Vorteile, die sich sicher daraus entwickeln würden? Ferner weist er hin auf die großen Vorbilder der Könige des Altertums. Sie hätten sich in vollkommenster Liebe für ihr Volk bemüht und aufgeopfert, wie die Taten eines Yü, eines Wên Wang, eines Wu Wang bezeugten. Das sei also ein wohl gangbarer Weg, den man heute eben nur wieder einschlagen müsse.
Daß die meisten Schäden des Gemeinschaftslebens in dem Mangel an allgemeiner gegenseitigen Liebe ihren Grund haben, fiel Mê Ti nicht schwer nachzuweisen. Solange man also einfach einem rationalen Kalkül folgte und die Kraft und Eigenart des Affektes ganz beiseite setzte (wie Mê Ti tut), schien die Begründung der allgemeinen Liebe auf die Erwägung des allgemeinen Vorteils einwandfrei. Nur vielleicht nicht in der Anwendung auf den Eroberungskrieg, denn der scheint doch dem lieblosen Eroberer Vorteil zu bringen. Aber Mê Ti bemüht sich nachzuweisen, daß der scheinbar aus einem Kriege erzielte Gewinn immer illusorisch und der Nachteil weit überwiegend sei. Die Vernichtung von Menschen, Tieren, Vorräten, Gebäuden, fruchtbaren Feldern u. a. ist so ungeheuer, daß kein Gewinn an Beute und Land dagegen aufkommt. Vom Standpunkt der Menschheit aus ist also der Krieg als etwas durchaus Schädliches zu betrachten und darum zu verwerfen. Menschenliebe und freundliches gegenseitiges Betragen der Staaten muß den Kriegen ein Ende machen [R237]. Allgemeine Menschenliebe, hervorgerufen durch die Einsicht, wie vorteilhaft sie für alle sei, gilt Me Ti also als die Retterin aus den Nöten des Gemeinschaftslebens. Eine Hilfsmacht für die Herstellung der allgemeinen Wohlfahrt führt er aber daneben noch ins Feld, der er auch keine geringe Bedeutung beimißt, nämlich das Prinzip des Maßhaltens und der Einfachheit. Hierdurch meint Mê Ti die Produktivität des Volkes sehr erhöhen und die Volkskraft mehren zu können.
Wir bemerkten die Tendenz auf Einfachheit und Einschränkung des Luxus schon bei Yen Ying. Hier bei Mê Ti tritt sie nachdrücklicher und radikaler hervor [R238].
Alles nicht unmittelbar zum Leben Notwendige, alles was nur dem Schmuck und dem Genusse dient, also Luxus, Kunst und Ueberfluß verwirft Mê Ti und sucht dahin zu erziehen, daß man es ablehne und unterdrücke. Nicht als ob er gegen die Verfeinerung des Daseins durch solche Mittel unempfindlich gewesen wäre; aber er meint, es sei ein Genuß, dem Einzelne sich auf Kosten der großen Masse des Volkes hingäben, und das Wohl des Volkes leide darunter. Die Kraft des Arbeiters, die das den Massen unmittelbar Notwendige produzieren sollte, würde durch Verwendung im Dienste des Genußlebens Einzelner vergeudet, und der wahre Volkswohlstand gehe so zurück. Die Mittel zu Genußsucht und Wohlleben würden ferner durch Steuern und Abgaben aus dem Volke erpreßt, während die einfachen Leute zugleich oft aus Mangel am Nötigsten zugrunde gingen. Wieder meint der Philosoph in den Herrschern des Altertums Vorbilder des echten Ideals zu sehen. Sie, versichert er, seien in Kleidung, Wohnung, Speise und Trank, Herstellung von Geräten und Waffen immer nur auf das Nötige, Zweckentsprechende bedacht gewesen, und ebenso hätten sie die Handwerker zu strenger Einfachheit angehalten. Dagegen sähe man regelmäßig bei den berüchtigten Tyrannen des Altertums die bösen Beispiele von Luxus, Ueppigkeit und Genußleben. Das müsse den Späteren eine Warnung sein.
Besonders gegen zwei Aeußerungen des Luxus trat Mê Ti lebhaft auf und zog damit den besonderen Zorn der Konfuzianer auf sich, nämlich gegen Musik und gegen prunkvolle Begräbnisse.
Wenn hier Musik erwähnt wird, so geht aus den Worten des Philosophen hervor, daß er vor allem festliche Musik am Hofe von Fürsten und hohen Herrn im Auge hat, Aufführungen, die die Großen in ihrem Kreise zu ihrer Vergnügung veranstalteten. Musik ist für Mê Ti nur der besonders markante Zug üppiger Feste der Vornehmen, wie er denn auch Tänze und Pantomimen im Zusammenhange mit der von ihm verpönten Musik erwähnt. In Gegensatz dazu stellt er die einfachsten Lebensbedürfnisse des Volkes und die Aufgaben der gewöhnlichen Berufsarbeit. Diese leiden unter der Musik: der mit Musikaufführungen verbundene Kostenaufwand wird der Notdurft des Volkes entzogen, und die Ausführung der Musik entzieht viele Leute der nötigen Berufsarbeit, einmal die Musiker (die, wie es scheint, gezwungen und ohne Bezahlung tätig waren), sodann die Veranstalter und die Gäste der Vergnügungen, die an Erfüllung der Amts- und Menschenpflichten gehindert, dagegen zu üppiger Untätigkeit verleitet würden. »Durch Musik«, sagt Mê Ti, »werden die Hungrigen nicht satt, die Frierenden nicht gekleidet, die Müden nicht gekräftigt« [R239]. Das soll heißen: indem man sich den Musikbelustigungen hingibt, vergißt man und vernachlässigt man die so gewichtigen elementaren Bedürfnisse des Volkes; üppige Genußsucht unterdrückt das Mitgefühl und die Verantwortlichkeit.
Neben der Musik bekämpft unser Philosoph sehr energisch die bestehenden Trauergebräuche, ihre pomphafte Verschwendung und die sozialen Nachteile in ihrem Gefolge. Auch hierbei muß man die chinesischen Sitten der Zeit vor Augen haben. Die Veranstaltung eines Begräbnisses war in China von jeher, wenn die Verhältnisse es erlaubten, sehr kostspielig. Bei vornehmen Toten verwendete man mehrere Särge, sogenannte äußere und innere; man entfaltete gewaltigen Luxus in Gewändern und Decken für den Toten, in Seidenstickereien für Zelte und Baldachine, in Herrichtung der oft hügelartig großen und parkartig angepflanzten Grabstätten, auch in wertvollen Gaben, die den Toten ins Grab begleiteten. Ausdrücklich wird von Mê Ti erwähnt, daß bei den gestorbenen Fürsten zu den Totengaben auch getötete Menschen gehörten. Ferner mußten sich die Angehörigen allerlei Trauersitten unterwerfen, die den Körper angriffen und eine empfindliche Unterbrechung der Berufstätigkeit nötig machten. In manchen Fällen dauerten die gewissenhaft innegehaltenen Trauerriten drei Jahre lang. In alledem sieht Mê Ti eine Schädigung des Volkslebens. Durch die großen Ausgaben für den Beerdigungsluxus erfolgt Verarmung, nötige Arbeiten werden versäumt, Scheunen und Speicher leeren sich, während die Felder unbebaut liegen, Hausstand und Handwerk werden vernachlässigt. Kostbarkeiten, die man den Toten mit ins Grab gibt (Mê Ti hebt hervor: steuerpflichtige Güter, die aber der Steuer entzogen werden!), sind ein Raub an den Lebenden. Die langen Trauerzeiten, während deren Mann und Frau nicht in ehelichem Verkehr stehen durften, bedeuten eine Geburtenhemmung und eine Verminderung der Bevölkerung, ein großer Nachteil des Landes! Auch entarten Justiz und Verwaltung, da die Beamten so häufig und lange ihren Pflichten nicht nachkommen können. Um seinen Reformen den nötigen geschichtlichen Hintergrund zu geben, bekämpft Mê Ti die Meinung, daß auch die alten Idealherrscher schon so üppig und umständlich bestattet wurden; im Gegenteil wären Männer wie Yao, Schun und Yü ganz einfach und unzeremoniell zu Grabe gebracht worden [R240].
Bemerkenswert ist, was der Philosoph in diesem Zusammenhange über das Festhalten traditioneller Sitten und Einrichtungen im allgemeinen sagt. Es scheint ihm durchaus nicht unter allen Umständen empfehlenswert, überkommene Gewohnheiten beizubehalten. Gäbe es doch unter den China durchsetzenden und an China grenzenden Barbarenstämmen altüberlieferte Sitten genug, deren Abschaffung jeder Chinese sehr wünschenswert finden werde. Hier erwähnt er allerlei recht Interessantes. »In alter Zeit lag östlich von Yüeh (also in der heutigen Provinz Chekiang) das Land Tschên mu. Wenn dort ein ältester Sohn geboren war, so zerstückelte und verspeiste man ihn; man hielt das für gut für die (etwaigen) jüngeren Brüder. Wenn der Großvater starb, so nahm man die Großmutter auf den Rücken und setzte sie aus, indem man behauptete, daß man mit der Frau eines Geistes nicht zusammen wohnen könne. – Südlich von Tsch'u lag das Reich der Leute von Yen. Wenn deren Verwandte starben, so ließen sie ihr Fleisch verwesen und warfen es weg, dann begruben sie die Knochen. Dadurch konnte man sich den Namen eines pietätvollen Sohnes erwerben. – Westlich von Tch'in war das I-tchü-Reich. Starb dort ein Verwandter, so schichtete man Holz und Reisig zusammen und verbrannte die Leiche. Wenn der Rauch nach oben ging, so hieß es, daß er (der Tote) in weite Ferne emporsteige. Auf diese Weise konnte man zum pietätvollen Sohne werden« [R241]. Dergleichen Sitten, obgleich altehrwürdig, würden doch jedem Chinesen gefühllos und ungehörig erscheinen, argumentiert Mê Ti, woraus man ersehe, daß Sitten als solche durchaus nicht über aller Kritik stünden.
Um seinen Anhängern einen festen Anhalt zu geben, stellte Mê Ti selbst einige einfache Regeln zusammen, wonach man bei Beerdigungen verfahren sollte, das Nötige erfüllend, aber das Ueberflüssige vermeidend, »weder die Interessen der Toten noch die der Lebenden schädigend« [R242].
Hiermit haben wir die für Mê Ti besonders charakteristischen Gedanken überblickt. Er hat mit ihnen keinen geringen Eindruck auf seine Zeit gemacht. Eine starke Schule ging von ihm aus, die »Mehisten« ( Mê tchiâ), die einzige Philosophenschule des chinesischen Altertums, wie Hu Shih bemerkt, welche nach dem Namen ihres Stifters genannt ist. Seine Anhänger galten als besonders begeistert für ihren Meister; Huai nan tse, der spätere taoistische Schriftsteller, bemerkt von ihnen, daß sie für ihren Lehrer ins Feuer gesprungen wären oder sich in Schwerter gestürzt hätten. Sein Ansehen stand dem des Konfuzius anfänglich nicht nach [R243], ja manche gaben ihm in der Reihe der Philosophen den Ehrenplatz an der Spitze, vor Konfuzius. Später veränderte sich das. Doch die weiteren Schicksale seiner Schule und seiner Lehre werden zu seiner Zeit unsre Aufmerksamkeit beschäftigen, hier haben wir noch nicht mit ihnen zu tun.