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Die Jahre bis zur Vollendung des zehnten sind Schöpfungsjahre in jedem Sinn, und sie enthalten Schöpfungstage. Das Kind ist in dieser Spanne Zeit sein eigener geistiger Schöpfer und Weltschöpfer. So war denn auch ich der Demiurg meiner selbst und der Welt.
Aber wie gesagt, sieben Tage genügten mir nicht, denn ich hatte deren bis zum Beginn des siebenten Jahres bereits zweitausendeinhundertneunzig nötig gehabt.
Die Sonne ging auf, und ein neuer Schöpfungstag meiner selbst und der Welt begann. Vielfach ging ich darin wie ein Künstler vor, der sich durch provisorische Formgebung dem vollendeten Ganzen annähert.
Die immer wiederkehrende Mahnung meines Vaters sowie meiner Mutter lautete: »Gerhart, träumere nicht!« oder: »Träume nicht!« Es betraf dies natürlich die Zeiten des Ausruhens, wenn mein Bewegungsdrang in der freien Luft nicht mehr weiterzutreiben war. In der Tat, ich versann mich bei jeder Gelegenheit, so daß man die Frage immer wieder mit Recht an mich richten konnte: »Komm zu dir! Wo bist du denn?!« Ich versann mich etwa, wenn ich vor der Zeit meines ersten Schulgangs, das Kinn in die Hände gestützt, am Fenster lag und auf den fernen Hochwald starrte, den heiligen Berg, hinter dem die Welt zu Ende war und von dessen Spitze aus man in den Himmel stieg. Dieser Berg und seine Bestimmung waren mir immer wieder anziehend. Wenn nicht ich selbst, so ist mein Geist von dort aus unzähligemal in den selbstgeschaffenen Himmel gestiegen und hat sich mit der Rätselfrage der Weltbegrenzung abgemüht.
Dabei erwog ich die menschliche und meine eigene Einsamkeit, die ich schon sehr früh erkannt habe. Die unbegreifliche Größe des Schicksals erfüllte mich, solange ich ihr nachhing, mit einer schauervollen Beklommenheit.
Ich fragte mich: Wie rettet man sich aus der eigenen Verlassenheit? Halte dich an Vater und Mutter! – Vater und Mutter teilen dieselbe Verlassenheit und Verlorenheit! – Wende dich an Bruder und Schwester, die Tausende und Tausende deiner Mitmenschen! Und nun gab ich die Antwort mir selber mit einem Bilde aus meiner bildgenährten Traumes- und Vorstellungswelt: die Gesamtheit der Menschen sah ich als Schiffbrüchige auf einer Eisscholle ausgesetzt, die von einer Sintflut umgeben war. Kinder in den frühesten Bewußtseinsjahren nach der Geburt fühlen vielleicht stärker als Erwachsene das Rätsel, in das sie versetzt worden sind, und bringen vielleicht von dort, wo sie kurze Zeit vorher noch gewesen sind, Ahnungen mit.
Ich hatte die Masern. Ich war glücklich darüber, denn ich brauchte ja nicht zur Schule zu gehen. Es war winters, etwa vier Wochen vor Weihnachten. Mein Krankenbett überstrahlte bereits der kommende Glanz. Aber es gab recht trostlose schlaflose Nächte. In einer habe ich am Zifferblatt der Uhr, die von Vaters Nachtlicht beleuchtet wurde, eine ganze Stunde lang die Sekunden aus verzweifelter Langerweile abgezählt.
Einmal dann gegen Morgen hatte ich einen kosmischen Traum. Es waren Größenverhältnisse der allerungeheuersten Art, die mir dabei anschaulich wurden. Nicht weniger sah ich als die im Raume rollende Weltkugel. Ich selber aber war hoffnungslos wie ein schwindelndes, todgeweihtes, minimales Leben darangeklebt, jeden Augenblick in Gefahr, in unendliche Räume abzustürzen.
Ich war erwacht, das Dienstmädchen kam, das Feuer im Ofen anzumachen. Ich glaubte, es müßte ebenfalls sehen und gesehen haben, was mir im Wachen fast noch wirklich vorschwebte, und fragte sie mehrmals in diesem Sinne. Ich glaubte, es werde mit mir in das gleiche, nicht endenwollende Staunen ausbrechen. Aber die Schleußerin hatte nur einen leichten Schreck davon.
Die Sonne ging auf, sie ging täglich auf. Sie brachte Farbe und Form und erweckte das Auge, beides zu sehen. Sie bildete beides in mich ein. Immer reicher und von immer größerer Vielfalt wurde auch meine nachtgeborene Traumeswelt. Auch der Wachtraum in seiner bewußten Form malt sich, entsteht auch wohl auf dem Urgrund der Nacht. Materie und Leere offenbarten sich mir zugleich in einer nie wieder gesehenen Furchtbarkeit.
Es wurde bereits gesagt, daß ich sowohl in der bürgerlichen Welt wie in der des damals so genannten niederen Volkes zu Hause war. In dieser Beziehung glich ich entfernt dem Euphorion, da ich mich immer wieder von der einen zur anderen hinab- und von jener zu dieser emporbewegte. In gewissem Sinne ging dies Auf und Ab immer höher hinauf, immer tiefer hinunter: etwa von der Réunion im kleinen Blauen Saal, wo sich die Elite der Badegesellschaft, Adel, Schönheit, Reichtum, Jugend, zusammenfand, irgendein namhafter Pianist sich hören ließ, von Beethoven, Liszt, Chopin und andern großen Künstlern gesprochen und dabei Champagner, Mandelmilch, Sorbet und anderes getrunken wurde, bis zu einer gewissen Treppe Unterm Saal, wo arme Frauen, Töpfe im Arm, stundenlang anstanden bis zur Küchentür und auf Abfälle warteten. Und was die Breite meiner Euphorionbewegung betrifft und die Antäuspunkte ihrer Absprünge, so lagen diese bald in der vorderen, bald in der hinteren Welt, die durch den Hauptbau des Gasthofs getrennt wurden und von denen die eine die der glücklich Genießenden, die andere die der Arbeit, der Sorge, des Verzichtes, der Verzweiflung war.
Ohne die Sonnenseite des Daseins vor der Fassade des Hauses scheel anzusehen, rechnete ich mich doch durchaus zur andern Partei, die gewissermaßen im Schatten lebte. Wieder und wieder stürzte ich mich ins Licht, doch nie, ohne bald in den Schatten zurückzukehren.
Meine Träumereien, wachend wie schlafend, tags wie nachts, mochten vom Niederschlag meiner Erfahrungen gespeist werden, aber sie gingen weit darüber hinaus. Jägerszenen, Kämpfe mit Bären, Gegenwärtigsein bei sterbenden und gestorbenen Menschen, meine Eltern als Geister wiederkehrend, Fliegen ohne Flügel, wie ich oft im Traume tat, das konnte mit keiner meiner Erfahrungen irgend etwas zu tun haben.
Wer mir die ersten Märchen erzählt hat, weiß ich nicht, ich nehme an, meine Mutter. Ich selbst aber habe sehr früh den Kindern des Fuhrmanns Krause, Gustav und Ida, Märchen erzählt, und zwar in der Stube der Krauseleute, winters, zur Zeit der Dämmerung. Wir hockten auf Fußbänkchen in der »Helle«. Das war ein gemütlich beschienener warmer Winkel zwischen Ofen und Wand.
Ida und Gustav wurden nicht müde, mir zuzuhören, selbst wenn ich Erfindungen auf Erfindungen stundenlang gehäuft hatte. Ich wurde von ihrem Hunger nach dem Wunderbaren ohne Gnade weitergepeitscht, bis meine Geisteskräfte den Dienst versagten, übermüdet und mißbraucht.