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Selbst im Sommer an schönen Tagen lockte mich nichts auf die Straße hinaus. Ich mochte den Lärm und die Menschen nicht. Unser Zimmer ging auf den stillen Hof und ebenso auch das Kinderzimmer. Das war wie ein Bad, in dem ich Unrat und Wunden des ersten Pensionspferches und seines Ungeziefers abspülte. Hatte mich doch dort eines Tages der allgemeine Wirrwarr so weit gebracht, daß ich Federhalter und Tintenfaß mit aller Gewalt unter die mich hänselnden und verhöhnenden Pensionskameraden schleuderte.
Welche Wohltat dagegen die Ruhe, der Frieden, den ich im Gaudaschen Kinderzimmer genoß!
Mein Verhältnis zu Carl muß sich um jene Zeit wohl gebessert haben. Der Unterricht, den mir der Pastor gab, scheint meinen Bruder entlastet zu haben. Schließlich war uns beiden in der neuen Umgebung ganz erheblich wohler geworden.
Man nahm im Pastorhaus wenig Notiz von der neuen Zeit. Nun aber drang doch eines Tages diese mit einer gewaltigen Woge in die unpolitische Welt des Masuren ein. Kronprinzenbesuch war angesagt. Die Haupt- und Residenzstadt Breslau traf ihre Anstalten. Handwerker arbeiteten außen und innen am königlichen Schloß, an dessen Fassade und Rampe ich täglich, wenn ich über den Exerzierplatz zur Schule ging, vorbei mußte. Eine Via triumphalis mit Fahnenmasten und Girlanden wurde vom Freiburger Bahnhof, der die Ehre des Empfanges hatte, längs des Stadtgrabens bis zur Schweidnitzer Straße gelegt und mit ihr bis zum Theater und meiner Realschule weitergeführt, um vor der Rampe des Schlosses zu enden. Die ganze Stadt war hohe Erwartung und Festlichkeit.
Das Ereignis fand mich neben Carl und dem pastörlichen Ehepaar an einem Bogenfenster des Inquisitoriats, das über dem Eingangsportal gelegen war. Wir konnten die Straße bis zum Bahnhof hinauf übersehen und den Zug der Equipagen, der die hohen Herrschaften heranführte. Hinter Soldaten, die Spalier bildeten, stand eingekeilt Kopf an Kopf die Bevölkerung. Wir waren alle aufs tiefste erregt und riefen begeistert unser »Hurra!«, aber ich wurde ein wenig gestört, da mir plötzlich die flinke und sichere Tätigkeit eines Taschendiebes, der grade während der hohen Momente mit einer Gewandtheit ohnegleichen die Taschen der Patrioten von rückwärts ausplünderte, ins Auge fiel. Ich wollte schreien, die Leute warnen, bis mir meine völlige Ohnmacht zu Bewußtsein kam und ich dem Verbrecher unter den Fenstern des Zuchthauses nur noch fasziniert zuschaute.
Ich kroch in mein Kinderzimmer zu meiner Milka, Paula, oder wie die Kinderchen hießen, zurück. Vergessenheit schlug über mir zusammen. Ich kaute sozusagen mein Haschisch, rauchte meine Art Opium. Es war abermals eine Weltflucht, ein Stillstand, darin ich mich einhegte.
Die Schule nahm keine Rücksicht darauf. Mit Widerwillen, am Ende lethargisch, trat ich jeden Morgen den Schulweg an.
Wenn ich in den Bänken saß – mir schliefen die Glieder vom Sitzen ein, und mein Hirn versagte die Aufmerksamkeit –, konnte wohl keiner der Lehrer ahnen, mit welcher Reife ich über meine Lage, über die einzelner meiner Mitschüler, über die Krankheit meines Vaters, über die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten, über die Ehe meiner Eltern, über die Frömmigkeit meiner Tante Auguste, über mein ganzes vergangenes Leben und über das Richtige oder Falsche der Unterrichtsmethoden meiner Lehrer nachdachte. Was hatte die Strenge für einen Sinn, die finstere, drohende, immer wieder erschreckende Art, mit der man dem Schüler das Wissen einpaukte? Warum appellierte man nicht an die Kraft des Verstandes, die in mir schon zur Reife gekommen war, und setzte sich mit ihr auseinander? Warum hielt man nicht mit mir Rat, wie man gemeinsam die in mir vorhandenen vielfachen Vermögen entbinden und nützen könnte? Aber da waren nur Larven – keine Wärme und keine Kameradschaftlichkeit.
»Hauptmann, du fliegst in Arrest, paß auf! Ich habe dich zweimal angerufen!« – Wenn ich aufwachte, kam ich wirklich jedesmal von weither ins Schulzimmer. Die Entrückung führte meine Seele zumeist ins Elternhaus. Dort lebte und schwebte sie überall gleichzeitig. Augenblicke verbanden Zeiten und Räume. Einen Begriff zu geben von der Vielfalt und Fülle der Gesichte, ginge weit über das hinaus, was Schrift und Wort ausdrücken können. Manchmal befand ich mich, wenn der Lehrer anrief, mitten in Spielen mit den Dorfjungens, zu denen ich die Ideen gab. Bemooste Dächer, Hintergärten mit Glashaus und Eiskeller, Hof und Ställe, Unterm Saal waren die Schauplätze unseres Herumrasens. Ich sah die Hunderte junger Hühner sommers im leeren Glashause untergebracht und mich als Kind, wie ich den mit dem Messer erscheinenden Koch anflehte, wenigstens doch das Kücken leben zu lassen, das ich zärtlich im Arme hielt. Ich sah mich um die Baracke des Eiskellers mit indianischem Federschmuck umherstreifen, einsam indianischen Phantasien verfallen. Diese verwitterte Bretterhütte, die innen in einer tiefen Grube zusammengefrorene Eisblöcke über den Sommer konservierte, konnte recht wohl die Bretterhütte eines Trappers im nordamerikanischen Urwald darstellen, zumal sie, geöffnet und mit der Laterne beleuchtet, in der Hauptsache Jagdbeute zeigte: ausgeweidete Rehböcke, Hasen und sonstiges Wildbret, sickernd von schwarzem Blut; die Grube selbst mit ihren spiegelnden und schimmernden Eisblöcken und dem ihr entsteigenden Eiseshauch mitten im glühenden Sommer versetzte in fremdes, fernes Land. Ohne Gesellschaft, für mich allein, frönte ich meiner Sucht, mich in eine imaginierte Existenz hineinzuverlieren, die ich auf Grund der gegebenen Motive, Jagd, Frost, Hitze, Gefahr, Blut, Kampf mit feindlichen Menschen und Mächten, ausbaute.
Aber soviel auch das Abenteuer in mir rumorte und der Abenteuerdrang, so verweilte doch meine Seele mit der stärkeren Sehnsucht nur in dem Bereich der Säle, das für mich durch den sakralen Schimmer der Madonna Sixtina und der Kreuzabnahme seine Weihe erhielt. Es war das Darben nach Schönheit, das Darben nach schöner Festlichkeit in einer Umgebung, in der man davon keinen Hauch verspürte. Oft waren Konzerte im Großen Saal. Ein Pianist, Flötist oder Geiger ließ sich hören, der den Raum und die Bilder gleichsam erblühen machte. Wenn der Lehrer mich anrief und weckte, war vielleicht Reunion im Blauen Saal. Der polnische Adel, die schönen Polinnen tanzten Mazurka, oder man hörte ein Konzert, wobei ich mich über die Galerie lehnte. Selbstverständlich, daß diese Art Träumerei in der Schulstube nicht gesund und auch ungehörig war. Aber ob sie nicht doch vielleicht einen Ausweg bedeutete, den die Natur mir in meinem sonst vielleicht bis zur Erstickung gehemmten Zustand zu eröffnen für notwendig hielt?
Dein Charakter ist eben dein Schicksal, wie dein Schicksal dein Charakter ist.
Die Familienverhältnisse der Gaudas strahlten eine auch mir zugute kommende Wärme aus. Der neue Bau, in dem wir wohnten, war nach einem damals aufgekommenen Berliner Schema ausgeführt. Er zerfiel in Vorderhaus und Hinterhaus. Das sogenannte Berliner Zimmer mit seinem einzigen Fenster nach dem Hof war das Verbindende. Flügeltüren eröffneten nach vorn den großen Salon, gegenüber die einfache Tür die Wirtschaftsräume und Schlafzimmer. Ich durfte mich überall herumtummeln.
Meine Funktion im Kinderzimmer gewann an Bedeutsamkeit, als dem Pastor von der jungen Gattin der Stammhalter geschenkt wurde. Man mußte die Kinder und ihre Neugierde von all den mystischen Vorgängen im Geburtszimmer fernhalten. – Alles verlief ohne Zwischenfall, und drei Wochen darauf hatte man bereits den Säugling im Kinderwagen mit seinem Geschrei und seinem Schnuller als selbstverständlichen Hausgenossen.
Die junge Mutter war freundlich zu mir, und ich durfte nun immer beim Trockenlegen, beim Baden und bei sonstigen Prozeduren zuschauen, die mir vor Augen führten, welche Mühe einst meine Mutter mit mir gehabt hatte. Ich habe der Pastorin jezuweilen mit Überreichung trockener Windeln, Talkum und dergleichen gern assistiert.
Übrigens war dafür gesorgt, daß mein Kinderstubeninteresse lebendig erhalten wurde, da etwa vier Wochen später als der Neffe sein Onkel ins Leben trat. Der Gatte der Schwiegermama war als Polizeiinspektor drüben im Inquisitoriat, wie der Pastor, angestellt. Sie selbst war schön, sie konnte es mit der Tochter aufnehmen. War diese Tochter jetzt neunzehn Jahr, so durfte man wohl das eben geborene Kind einen Spätling nennen. Soviel ich mich dessen erinnern kann, waren ihre beiden außerdem noch vorhandenen Söhne zehn- und zwölfjährig.
Lustig war es, wenn die beiden Damen, Tochter und Mutter, den älteren Neffen und den jüngeren Onkel auf dem gleichen Tisch säuberten, puderten und wickelten. Wir genossen gemeinsam die harmlose Komik der Situation.
Bruder Carl war bei den Damen besonders beliebt, weniger dagegen bei dem Pastor, was eine gewisse Rechthaberei, die uns Hauptleuten eigen war, verständlich machte. Die Gepflogenheit Carls, außer den Schulbüchern andere zu lesen und überhaupt über das Pensum der Schule hinaus geistigen Bildungsbedürfnissen nachzugehen, kam hinzu. Sie wurde von Gauda durchaus mißbilligt. Besonders erschwerend war es zuletzt, daß eine Lektüre, wie sie Carl trieb und verteidigte, im Pastorhause Konterbande war und als atheistisch empfunden wurde.
Marquis Posa mit seinem Schrei nach Gedankenfreiheit mochte noch hingehen. Aber da war Ludwig Büchner mit seinen Angriffen gegen die Religion. Da war Carus Sternes »Werden und Vergehen«, ein Buch, das das gesamte neue naturwissenschaftliche Weltbild auf populäre Weise darstellte. Da waren Zitate aus Goethe, wie: »Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße«, und Bruchstücke aus Spinoza, den Carl vermöge seiner philosophischen Anlagen, nicht zwar infolge gründlichen Studiums, aber witterungsweise, mehr ergriffen als begriffen hatte.
Dem Pastor war dies alles nicht nur auf Grund seines eingefleischten Dogmas, woraus er am Ende wohl kaum viel machte, unangenehm, sondern weil er sich nicht sehr beschlagen fühlte. In den Duellen bei Tisch mit Carl unter den Augen der beiden verehrten Damen kam es vor, daß er statt mit Gründen den Gegner mit einem »Das verstehst du nicht – dazu bist du noch viel zu jung!« abtun wollte, was die Damen mit niedergeschlagenen Augen, innerlich auf der Seite Carls, hinnahmen.