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»Ihre Söhne haben keinen praktischen Sinn!« hatte der Meister der Mnemotechnik, Weber-Rumpe, auf Bahnhof Sorgau zu meinem Vater gesagt. Praktischen Sinn hatten wir in Jena sicher nicht, wenn man nicht mein inneres Ringen nach allgemeinen Wirkungen durch Kunstwerke dafür gelten lassen will. Ich dachte wohl etwas realer als Carl, dessen hoher Sinn von irgendeinem Brotstudium nichts wissen wollte. Um der Wissenschaft willen und aus keinem anderen Grund betrieb man die Wissenschaft. So tat man das Gute um seiner selbst willen. Wir, und besonders Carl, wurden nicht müde, die Schalen unseres Zorns, unserer Verachtung über eine Gesinnung auszuschütten, die auf Erden das Gute tat, um im Jenseits belohnt zu sein. Wir gerieten in Wut, wenn man uns die geringste Handlung eines äußeren Vorteils wegen zutraute. Das Wort meiner Mutter: »Ihr seid zu ideal!« schien überboten zu sein. Wen sollte es wundern, wenn bei studierenden Jünglingen dergleichen Gesinnungen in einer putzigen, ja ärgerlichen Form zutage treten. Rechthaberei ist in jungen Jahren allgemein, ebenso Unduldsamkeit gegen andere Meinungen. Ich vermute, wir müssen nach unserer Anlage das Menschenmögliche darin geleistet haben. Was hätte aus all den Mittelmäßigkeiten werden sollen, von denen die Bänke der Hörsäle gedrückt wurden, wenn sie nur ideale Ziele gehabt hätten, was aus dem Staate, wenn es nur Leute wie wir gegeben hätte?
Wir bedachten nicht, wie die freien und freiesten Lehren der Philosophen zu verstehen waren: sie waren für die Mehrzahl der Hörer kaum ernstlich gemeint. Man brauchte sie nicht zu befolgen und weiterzubilden, sondern sie nur zu wissen, wenn man im Examen oder als Oberlehrer danach gefragt wurde. Hätten wir mehr von Platon gewußt, so würden wir zu unserem Entsetzen selbst bei ihm auf den Punkt gekommen sein, wo er im »Staat« und in den »Gesetzen« nur noch der Mittelmäßigkeit das Wort redete, nur noch die Gedankenlosigkeit, aber nicht mehr die Philosophie gelten ließ. Es war der Punkt, wo für Platon selbst in seiner eigenen, eingebildeten Welt kein Platz mehr war.
Der Typus des gewöhnlichen Brotstudenten ist ganz gewiß aufreizend. Er faßt mit breitem, behäbigem Zynismus alle Wissenschaft, alle Philosophie lediglich als Mittel zum Zwecke, wodurch ein Mißbrauch des Heiligen etwas Selbstverständliches wird. Wie anderwärts hohe Gesinnung, läuft hier platte Gesinnung in Dünkel aus, der seinerseits wieder, unähnlich dem bei hoher Gesinnung, meist mit Stumpfsinn und Roheit verbunden ist.
So gab es denn viele, allerdings harmlose Rempeleien, weil das gleiche, das uns bei wenigen beliebt machte, den Hohn der Mehrheit auf uns zog.
Ferdinand Simon hatte, wie sein Vater mit ihm selbst, von jung auf praktische Ziele im Auge gehabt. Er wurde von Carls extremem Idealismus und Individualismus ins Schlepptau genommen. Wohl war ich ebenfalls extremer Idealist, aber ich wollte doch wenigstens etwas in die Wirklichkeit stellen: Epos, Drama oder Bildsäule, und arbeitete stetig darauf hin. Carl schien nicht zu wissen, wo er hinwollte, wenigstens sprach er niemals davon.
Das philosophische Wesen zog mich nicht in dem Maße wie Carl und Simon an. Statt Sprünge zu machen, blieb ich dabei, meine eigene Maulwurfsarbeit im Denken fortzusetzen. Nicht Carl und Simon, wohl aber andere junge Hörer der Philosophie warfen auf eine peinliche Weise mit Spielmarken, nämlich Fachbegriffen, um sich herum, die man für echte Münzen halten sollte. Und dieser Betrieb, hinter dem kein erlebtes Denken stand, wurde mir, weil ich ihn durchschaute, abstoßend.
Freund und Bruder waren überzeugt von meinem Dichterberuf. Sie spornten mich an, sie förderten mich, indem sie an meinen Plänen teilnahmen. Was ich werden wollte, ein Dichter, war ich sogar in ihren Augen schon. Das verschwiegen sie niemand, mit dem sie etwas näher vertraut wurden. Bald sprach es sich allgemein herum, und wir erhielten Besuche von unbekannten Studierenden, die den Dichter kennenlernen und einen freundschaftlichen Verkehr mit ihm einleiten wollten.
Allein man hatte ihnen meist den feurigen Carl und nicht mich als den Dichter bezeichnet, und sie waren enttäuscht, daß er es nicht sein wollte.
Ich knüpfte keine Verbindungen an. Der normale Kommilitone würde den irregulären doch nicht verstanden haben. Sogar im Verkehr mit Simon und Carl berührte ich mein inneres Schicksal nicht, da es eigentlich nichts enthielt, wofür ich werben konnte und wollte. Auch hatte die glückliche Liebe, die ich in mir trug, verbunden mit dem leichten Wandel der Jenenser Zeit, die nächtlichen Tiefen meines Innern gleichsam in Licht eingesargt.
Was ich beim zweiten Einzug in Breslau erfahren hatte vom Recht auf die unbeugsame Souveränität der eigenen Vernunft, fand hier seine bisher höchste Entfaltung und Bestätigung. Wenn meine Seele damals im ersten Entschluß ihre schlafenden Flügel zu rütteln wagte, so flog sie in dieser freien, befreiten Sphäre frei dahin.
Mit einem »Impavidi progrediamur!« wachten wir auf und schwenkten die Beine aus dem Bett. Mit einem »Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen!« standen wir auf den Füßen. Die Morgenwanderung wurde mit einem »Eppur si muove!« eingeleitet. Jeder dieser Sätze war das erzen hingestellte Wort eines Verschworenen der Wahrheit, eines Bekenners, eines Märtyrers.
Der eine – und dies war etwas Ungeheures – lebte noch unter uns. Der zweite, Luther, hatte hier im alten Gasthof Zum Bären gewohnt, und übrigens war die Wartburg nahe. Der dritte, Galilei, hatte eine Wahrheit abschwören müssen und ebendiese Wahrheit unmittelbar darauf bekannt.
Auch das unverbürgte »Mehr Licht!« Goethes schwebte in der Luft, und zwar zum letzten Wunsch eines sterbenden Wahrheitssuchers umgedeutet.
Das Trinken wurde in der leichten jenensischen Luft nicht mit der düsteren Maßlosigkeit wie in Breslau geübt. Dafür sorgte schon das dünne Lichtenhainer Bier in den ausgepichten Holzkännchen. Von Kneipgelagen ähnlich den Breslauern weiß ich nichts. An den Hängen von Jena wuchs ein bekömmlicher Wein, der bei Ausflügen nach dem Fuchsturm oder nach Ziegenhain trefflich mundete. Auch weitere Wanderungen, so nach der Dornburg, wurden gemacht.
Eines Tages tauchte Max Müller in Jena auf und gesellte sich unserem Trifolium zu. Carl als der populärste Jenenser Student war der Anziehungspunkt. Man suchte in seinen Dunstkreis zu kommen. Auch Max Müller versuchte das. Er war immatrikuliert. Ob er Kollegs besuchte, weiß ich nicht. Seines Zeichens Musiker, hatte er damals schon den Grad seiner vollen Reife und seines höchsten Könnens erreicht. Die Gärung des jungen Mostes war nicht mehr in ihm, der bereits sechs Jahre länger als ich gelebt hatte.
Eine andere Art Gärung war in ihm freilich festzustellen. Ich erkannte es, als ich sein Vertrauter geworden war. Über philosophische Gegenstände sprachen wir nicht. Carls und Simons geistiger Kreis besaß für ihn keine Anziehungskraft. Aber auch musikalische Fragen schnitt er ab, weil er davon zuviel wußte, um sich für Dilettantengerede zu interessieren.
Wir trafen uns, abgesehen von der uns natürlich verbindenden Sympathie, in einem gewissen Außenseitertum, was wir auf langen Wanderungen in Gesprächen feststellten.
Sie drehten sich fast nur um unsere Vergangenheit. Widerstände, wie Müller sie innerhalb der eigenen Familie überwinden mußte, kannte ich nicht. Aber ich verfiel im Nu der gleichen Erbitterung, wenn sein Ingrimm von dort auf die Sünden der Erziehung überhaupt übersprang. Besonders die Gepflogenheiten der Schulen konnten uns aufregen.
Simon war durch die Schule in eine höhere Sphäre aufgerückt, er hätte uns nicht verstehen können, ebensowenig Carl, der wie ein feuriges Füllen mähneschüttelnd durch die Klassen aufwärts gesprungen war. Und augenscheinlich besaßen Müller und ich, verglichen mit Carl und Simon, den Schulgepflogenheiten gegenüber die größere Verletzlichkeit: unsere Seelen waren mit unvernarbten Striemen behaftet. Uns schien, die Schule habe den Versuch gemacht, unser geistiges Wachstum niederzuhalten, unser Rückgrat zu knicken, nicht stark zu machen. Und in der Tat kam es noch immer vor, daß ich nachts im Traum einem Lehrer bettelnd auf den Knien nachrutschte, einen meiner Mitschüler vor der ganzen Klasse vom Direktor durchprügeln sah und in Angstschweiß gebadet aufwachte.
In Max Müllers letztes Geheimnis konnte ich nicht vordringen, ich hatte auch kein Verlangen danach. Ebensowenig eröffnete ich ihm von einer gewissen Tiefenlage ab, was mir als mein eigenes Wesen ins Bewußtsein trat.
Müllers Wesen war Stillstand, Rückblick, aber nicht Vordringen. Ein »Impavidi progrediamur!« bestand für ihn nicht. Darum wurde durch ihn eher das Retardierende in mir unterstützt, nicht was »nach Flammentod sich sehnet«. Er bereicherte das jugendlich lebendige Wesen, das still umfriedete Griechenlicht von Jena nicht. Ich war jünger als je zuvor, Max Müller vertrat dagegen das reife Alter. Die Gedächtnislast meiner Leidenszeiten war abgeworfen. Die Stickluftschwaden meiner Vergangenheit, gegen die meine Lungen angstvoll gearbeitet hatten, fanden keinen Zugang hierher, und wo sie doch aufzudringen versuchten, wurden sie von dem Feuer, das sich in meiner Seele entzündet hatte, aufgezehrt.
Daran änderten auch all die düsteren Schatten nichts, die Max Müller heraufbeschwor: es war ihr Schicksal, sich in der Morgendlichkeit meiner Zustände aufzulösen.
Wie er mir gestand, trat Max Müller, als er Carl besuchen kam, nur mit Widerstreben aus seiner Vereinsamung. Er hatte sie gewählt, weil er vielfältig seelisch verwundet und außerdem durch eine Lähmung der Arme, die er durch rücksichtsloses Üben überspielt hatte, sich in seiner pianistischen Entwicklung unterbrochen sah. Es war, als ob er ängstlich bedacht wäre, über den Grad seiner Beziehung zu uns keine Täuschung aufkommen zu lassen und sich den Rückweg offenzuhalten.
Irgendwelche Idee, auch die der Freundschaft, hatte er nicht, sondern nur den Gedanken, sein Wesen der greifbaren Nähe anderer zu entziehen, um vor weiteren Verletzungen sicher zu sein.
Etwas dergleichen nun freilich hing auch mir noch an.
Eine mir heut unerklärliche Furcht drängte mir mitunter einen gänzlich unbegründeten Verteidigungszustand auf, der mich sogar veranlaßte, einen kleinen Revolver stets geladen bei mir zu tragen. Es war eine Waffe, die ich mir von Mary erbeten hatte und auf deren vernickeltem Schaft eingraviert ihr Name stand.
Aber das hinderte meinen Glauben und meine Menschenliebe im allgemeinen nicht, so daß ich einer furchtsamen Einsamkeit ebensowenig wie Carl das Wort redete. Wir brauchten Freundschaft und hielten sie hoch. Ich lebte, verglichen mit Lederose, eher in einer Veräußerlichung als einer Verinnerlichung. Ich, der ich Proben von einem banalen Leichtsinn genug gegeben hatte, steigerte mich nunmehr auf eine erkenntnishafte Weise in einen Kultus des Leichtsinns hinein. Er gebar sich aus der jenensischen Luft, die diesen Begriff alles Groben und Plumpen entkleidete, alle Gemeinheit von ihm nahm und ihn eher als einen geflügelten Genius denn als einen gemeinen Nichtsnutz erscheinen ließ.
Kein Zweifel, daß Platons Eudämonie aus Euckens Kolleg in diese Gedankensphäre herüberwirkte.
Kollegienhefte führte ich nicht, wie ich hier beiläufig einfüge. Dagegen hab' ich, sei hier erwähnt, die gehaltenen Vorträge der Gelehrten auf meine Art mit Notizen begleitet. Sie regten mich nämlich, solange sie dauerten, zu einem fast ununterbrochenen eigenen Denken an. Und wie – das Gleichnis sei gewagt – ein Blütenbaum im Frühlingswind den Boden mit Blütenblättern beschneit, so bedeckte sich mein Notizbuch mit Glossen, die mit der Materie des Kollegs meist nur bedingt zu tun hatten.
Nach wie vor stand auch der in Breslau studierende Ploetz fest im Freundeskreis. Ganz absichtslos ward der Platonismus auch von seiner Seite gefördert. Er predigte brieflich eine platonische Staatsutopie, für die man sich eine Kolonie suchen solle. Bald wurde Vancouver-Island, bald irgendein südamerikanisches Orangen- und Zitronenparadies ins Auge gefaßt, um sie zu verwirklichen, das heißt: zugleich in ihr die höchstmögliche irdische Glückseligkeit.
Müller hörte auch hier nur gelassen zu und ohne die geringste Teilnahme.
Im Ausbau dieser Kolonialutopie hat sich unser Freundschaftsbedürfnis und Freundschaftsglück ausgerast. Eigentlich wollten wir nur dieses Glück verewigen. Etienne Cabet mit seiner »Voyage en Icarie« war eine unserer Verlockungen. Wie dieser 1848 mit Freunden erst in Texas, hernach in Iowa Gemeinwesen nach seinen Grundsätzen gründete, sollten auch wir es tun, nachdem Ploetz sich in Iowa vom Stande der noch existierenden Kolonie überzeugt haben würde. Ikarien hieß die Kolonie, die Kolonisten also Ikarier. Der lichtbegierige Ikarus wollte mit Flügeln aus Wachs die Sonne erreichen. So verstanden, waren auch wir Ikarier.