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Die wilden studentischen Trinkexzesse dieser Zeit fanden in dem sogenannten Zobtenkommers ihren Höhepunkt.
Ich glaube, im Juli begann die ganze Studentenschaft von Breslau geeinigt dieses große Trink- und Sommerfest mit einem Umzug durch die Stadt. Die Chargierten in vollem Wichs führten, in Landauern sitzend, ihre Verbindungen an, die ihre Fahnen entfaltet hatten. Auch Alfred Ploetz trug ein gesticktes Käppi, Samtpekesche und Kanonenstiefel. Er hatte mich als bloßen Konkneipanten zu sich in den Wagen genommen.
Es war der herrlichste Sommertag, die Bläue des Himmels wolkenlos – und auch unsere Seelen, muß gesagt werden.
Alles atmete Jugend, Freude, festliches Glück, Kameradschaft und Burschenherrlichkeit.
Ich erfuhr hernach, wie manche, die mich kannten, erstaunt waren, mich unter den Studenten zu sehen und überdies an bevorzugter Stelle. Mir ist sogar etwas wie neidischer Spott erinnerlich.
Die endlose Prozession bewegte sich, von Musik begleitet, gegen den Freiburger Bahnhof hin, von wo die kürzeste Fahrt im Extrazug die Studentenschaft nach Kanth brachte. Hier standen bekränzte Leiterwagen bereit, die wiederum in endlosem, buntem Zuge Korps, Burschenschaftler, freie Studentenschaft und einen großen Teil der Finkenschaft gegen das Städtchen Zobten abrollten.
Dem Bier wurde schon in Kanth durstig zugesprochen, was nicht allein auf die Julihitze zu schieben war.
Vor manchen der Wagen waren vier schwere Pferde gespannt. Schon unterwegs kam es vor, daß Übermut seine Blüten trieb und sich die Chargierten mit Schlägern und Kanonenstiefeln auf ihren Sattelpferden beritten machten. Das Ganze ließ mit seinem Gesang, Jubel und wildfröhlichen Lärm an den Zug Alexanders durch die Provinz Karmanien denken, wo ebenfalls auf den langsam fahrenden, bekränzten Wagen von bekränzten Menschen geschmaust, getrunken, gesungen, gejauchzt und jubiliert wurde, nur daß man dort keine Waffe sah, während hier die Chargierten im Wagen und auf den Zugpferden mit dem Schläger in der Rechten herumfuchtelten, während die Linke das Bierglas hielt.
Jedenfalls wurde auch diesem Bakchoszug frisches Getränk in schäumenden Gläsern gereicht, überall, wo er einen Augenblick haltmachte.
Die Ausgelassenheit wuchs und wuchs.
Mitten auf dem vergrasten Markt des gleichsam vergessenen Städtchens Zobten lagerte sich an flüchtig zusammengeschlagenen Tischen und Bänken die Studentenschaft. Ihr erwählter Präside bezog einen kanzelartig erhöhten Platz, und als er auf das Holzbrett seines Tisches den Schläger niederknallen ließ, taten es ihm alle Einzelpräsiden nach, welche die Kneiptafeln ihrer Verbindungen leiteten.
Es saust ein Schlag – es saust ein Hagel von Schlägen nach. Der Präside brüllt: »Der Kommers ist eröffnet!« Es saust ein Schlag – ein Hagel von Schlägen nach.
Das erste Allgemeine steigt: und sofort wird das »Gaudeamus« von fünfhundert wilden Kehlen angestimmt.
Es saust ein Schlag und ein Hagel von Schlägen nach, so daß Schwalben, Tauben, Sperlinge und andere Vögel nicht zu wissen scheinen, wohin, und voll Entsetzen hin und her jagen.
Ein Salamander wird gerieben: »Exercitium salamandris incipit!« Eine Schlägersalve kracht wie Gewehrfeuer!
Wie nahm sich nun das Städtchen aus, das Carl und ich, nach nächtlicher Fahrt, mit dem Schlossermeister Mehnert besucht hatten! Pechfackeln lohten, als es dunkel ward. Die Philister lagen in ihren Fenstern. Straße, wie wunderlich siehst du mir aus . . .! Marktplatz, wie wunderlich siehst du mir aus . . .! Welt, wie wunderlich siehst du mir aus . . .!
Am Himmel treten die Sterne hervor. Dort glüht der Mars. Drüben neigt sich der Große Bär mit dem Reiterlein über der Deichsel.
Ich stürze Halbe und Ganze hinab . . . Alle Schwere ist von mir genommen . . . Ich löse mich in die Allheit auf . . .
Da sehe ich unseren Präsiden Ploetz. Eben hat er mit dem Rapier auf den Tisch gehauen. Er beugt sich beiseite, ihm schießt ein dunkler Strom aus dem Mund.
Aber nichts ist geschehen.
Zum zweiten, zum dritten knallt das Rapier. »Ich komme der Korona einen Ganzen!« brüllt Ploetz und gießt den schäumenden Inhalt eines Bierglases in die gleiche Öffnung, durch die er sich eben entleert hatte.
Und weiter geht die Trinkraserei . . .
Es ist wahr, daß hinter dem allem etwas steckt, wovon sich der bürgerliche Moralist, der Prediger weiser Mäßigung, der gesundheitshungrige und gesundheitsgeizige Hypochonder nichts träumen läßt. Hier ist ganz gewiß ein alter Kult elementar ursprünglicher Religiosität, der sich Luft schaffen muß und zum Durchbruch kommt. Ein ins Grenzenlose getriebener Rausch hebt das Enge, Persönliche auf, er entkörpert die Seele durch einen Prozeß, der den Körper ohne Gnade und rücksichtslos vergewaltigt.
Ich glaube, es ist Richard Wagner, der sagt: durch die Offenbarungen der Musik werde Kultur aufgehoben wie Lampenschein durch Tageslicht.
Was hier hervorbricht, ist terrestrischer Art, ist eine seherische Nacht, die in den Hirnen der Trinker scheinbar allwissende Zustände schafft, wie in dem Hirn der Pythia die verzückenden Kräfte der Dunstspalte.
Es wirkte, wie der sozial-pangermanische Ploetz hätte sagen können, das Bier, das Asen und Wanen, entzweite Gottheiten des fruchtbaren Erdbodens, beim Friedensschluß mit Hilfe ihres gemeinsamen Speichels brauten.
Noch heute erzeugt man das sogenannte Steinbier in Kärnten, indem man Gerste im Munde kaut, in Gefäße spuckt und so die darin enthaltene Stärke in gärungsfähigen Zucker verwandelt.
Jedenfalls ist es der Erdboden, aus dem die in immerwährender Wandlung befindlichen Säfte und Kräfte zu rätselhafter Machtentfaltung in die Köpfe der Menschen aufsteigen und sie belehren, daß sie nicht nur Müller und Schulze, sondern durchaus nicht abgenabelte Kinder der Erdmutter sind und außerdem nichts und alles als kosmische Wesen.
Für diese Kräfte sind nicht alte, sondern junge Leute, in denen, so wie damals in mir, alles in Gärung ist, die Medien. Ein solcher Kommers gleicht einem chthonischen Schleusenbruch, alles bewegt sich in ihm und unter ihm wie von Erdbeben, plutonische Mächte dringen auf mit immerwährenden Schlägen und Stößen. Doch sie erregen hier keine Angst, da sie mit dem Getöse der bakchischen Raserei untrennbar verbunden sind.
Es ist hier der Ausbruch eines Vulkans, wo immer neue Krater Qualm und blutige Flammen emporschleudern. Aber diese glühenden Wolken ersticken nicht, und dieses Feuer kann nur zum Jauchzen hinreißen. »Sprich furchtbar Weisheit um dich her, Mund, schwarz von Rebenblut . . .«, singt Klopstock. Es kommt vor, daß dem Trinker alles in Schwärze erlischt, alles Getöse plötzlich verstummt, die Weltkatastrophe nur noch in ihm ist. Dann fühlt er sich in einem verlöteten Sarg begraben und hört nur noch das Knirschen des wogenden Erdbodens. Er selbst ist ein hautbedecktes Skelett, zwischen dessen lederfarben verschrumpften Lippen die Zähne bloßliegen. Das ist der Wahnsinn und zugleich in seinen letzten Tiefen das Mysterium.
Äußerlich entwickelte sich mehr und mehr ein Brueghelbild. Wie wird der saubere Marktplatz bei Anbruch des Tages aussehen? Die Verunreinigung in jeder Form geschieht schließlich ohne alle Rücksichtnahme öffentlich.
Endlich ist dann die Stunde da, wo der letzte Bakchant im Stroh niedergebrochen oder unter den Tisch gesunken ist. Aber als die reinigende und beglückende Sonne sich um drei Uhr morgens erhoben hat, springt alles wiederum auf die Beine, die frischen Stadtbrunnen waschen Dunst und Schmutz aus den Köpfen fort.
Vor uns steht der Zobtenberg. In heiter bewegten Gruppen beginnt nach dem Kultus dämonischer Tiefen das Aufsteigen ins neugeborene, hohe und reine Licht.
Vorher schrien wir noch den Kommilitonen und Chargierten Drechsler aus dem Schlaf, der ein Bürgerquartier bewohnte: er erschien sogleich im bloßen Hemd, das Zereviskäppi auf den Scheitel geklebt, das Rapier in der Hand, über der Holzstiege, wobei er aussah wie Don Quijote.
Wir bändigten ihn, da er noch halb betrunken war, wir gossen ihm Wasser über den Kopf, bis auch er dem Morgen, der reinen Luft, dem reinen Licht und der Jugend wiedergewonnen war.
Mit diesem großen Finale wird meine zweite Breslauer Zeit abgeschlossen. Sie versinkt hinter diesem allgemeinen jugendlichen Rausch, der sie wie eine zuckende Wand sommerlicher Gewölke verbirgt.