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Es war wie der Sturz in eine eisige Gruft. Ich tastete um mich, griff die Zündhölzer, erlebte, was ich schon einmal erlebt hatte, indem es in meinem Grabe Licht wurde. Und nun hielt ich ein langes, erstauntes, mit Flüsterstimme geführtes Selbstgespräch. Das war mir denn doch noch nicht vorgekommen!
Ich habe in den folgenden Wochen immer wieder über dies Ereignis nachgedacht, von dem ich natürlich Onkel und Tante, denen ich davon sprach, keinen Begriff geben konnte. Sie sahen in der Sache nichts Merkwürdiges. Überhaupt: wir verstanden uns nicht. Auch was ich sonst hie und da von meinen Gedanken merken ließ, verschwand ohne Widerhall. Ja, die in ihrem männlichen Freimut musterhafte Tante Julie schüttelte meist ganz offen den Kopf und erklärte, sie verstehe mich nicht.
Mir selbst ist die Frage bis heut ohne Antwort geblieben, wie man in drei Sekunden oder in kürzerer Zeit einen ganzen, beschaulichen, reichen Tag erleben kann, mit Begrüßungen, Sackhüpfen, Unterredungen, weiten Ausflügen, die im einzelnen schriftlich wiederzugeben viel Arbeit erfordern würde, – wie das Verweilende, höchst Bequeme in diesem Augenblick seine Stätte finden kann und wie also dem uns eigenen Zeitgefühl eine objektive Zeit, wie sie von dem Zifferblatt einer Uhr mechanisch gegeben wird, nicht entspricht.
Etwa so aber deutete ich mir den Sinn der wunderbaren nächtlichen Kinderprozession: Schon der Chorgesang, mit dem sie in der Ferne einsetzte, war ein Gemisch von Wonne und Traurigkeit. So ziehen Schulkinder singend hinter dem Kreuz vor dem Sarge eines Verstorbenen her, ähnlich bei Schulfesten hinter der Fahne. Das Begräbnis des kleinen Vetters Georg und der nahe Kirchhof von Dromsdorf mochten wohl hier hereinspielen. Sooft ich mir die Empfindungen, die ich bei Annäherung des Zuges gehabt hatte, ins Bewußtsein rief, fand ich in ihnen ebenfalls eine Verbindung von Wonne und Weh.
In einer Beziehung war die Prozession ganz gewiß ein Trauerzug. Etwas wurde zu Grabe getragen, ohne daß ein Sarg sichtbar ward. Aber das Tote, das Verstorbene, von dem es Abschied zu nehmen galt, war trotzdem da. Es war jetzt noch da ohne Form und Gestalt, und ich konnte darauf hinabsehen. Der Begriff der Kindheit deckt sich vielleicht damit. Allein diese Kindheit war eine Welt, die mit vielen kleinen, trappelnden Unschuldsfüßen sich selbst zu Grabe trug und vorher zum letzten Abschied schritt.
Ich erlebte im Traum ein Totenfest. Im Totenbett dieser Nachtvision lag ein abgeschlossenes, in sich ganz vollkommenes Sein, und ich blieb auf ein anderes, ewig unvollständiges angewiesen. Die Bürger dieser vollkommenen Welt fanden sich auf der Plattform oder Bühne meines Inneren noch einmal zu einem gleichsam improvisierten Ziel zusammen. Das Todgeweihte begrüßte mich und ließ mich dann, verstoßen ins Unvollkommene, zurück. Der tote Knabe in seinem metallenen Sarg und ich trugen in dieser Beziehung den gleichen Verlust. Freilich konnte er in seinem erloschenen Zustand nicht einmal wünschen, das Verlorene zurückzugewinnen, was ich fortan, wie ich glaubte, ein Leben lang wünschen würde.
Ich danke euch, all ihr Lieben, die ihr mir diese Abschiedsfeier bereitet habt! Ich vergesse es nie, wie der hymnisch-heiter-ernste Choral einsetzte, vergesse alle die verklärten und geeinten Geister nicht, Vater, Mutter, Tanten, Onkel, getreue und ungetreue Nachbarn und dergleichen. Sie spürten, ich stand an einem Wendepunkt, und die Stunde des Abschieds war gekommen. In der Dorfschule, ja selbst in Breslau auf der Realschule schlug sie nicht. Diese Welt der Vollkommenheit war nur in mich zurückgedrängt. Trotz aller Störungen war sie in den Ferien und am Heimatort immer wieder ganz gegenwärtig.
Aber nun rang sich die Forderung des Geschlechts in mir auf. Gewölke bewegten sich durcheinander. Wege, Steige, Zugänge, Ziele wurden gesucht und tauchten auf. Das Unvollkommene verlangte Ergänzungen. Das große Darben begehrte Linderung und Beschwichtigung.
Dies alles drückte sich jedoch nur unbestimmt in einer dunstigen Enge aus. Der Wachtraum, der mein Tagesleben fast ganz erfüllte, war ein Pandämonium. Der zum Durchbruch gelangte Trieb mischte immer wieder Bilder hinein, die mein Gewissen belasteten, weil ich sie für sündhaft hielt. Die christliche Erziehung, die ich genossen hatte, durch das kirchlich fromme Haus, mit dem ich verbunden war, duldete keine natürliche Auffassung. So wurde ich in den allbekannten aussichtslosen Kampf mit mir selbst rettungslos verwickelt, in dem, wie ich glauben mußte, mein bestes Teil meist unterlag.
Onkel und Tante Schubert umgab eine kühle Atmosphäre von Geschlechtslosigkeit. So nahm mein Wesen etwas Verstecktes, Hinterhältiges, Insichgekehrtes an. Meine Verschlossenheit, die auf den herzensguten Onkel Gustav und auf das lebhafte Temperament von Tante Julie peinlich wirken mußte, ließ die Entfremdung zwischen uns zunehmen. Ich bin überzeugt, daß mein Lehrherr den Gedanken, es könne aus mir ein tüchtiger Ökonom werden, längst aufgegeben hatte, trotzdem er mir Pflichtvergessenheit nicht mehr nachsagen konnte. Immerhin hatte die Art, wie ich den ewig gleichen Tageskreislauf vollendete, etwas Schleppendes. Was ich tat, geschah ohne Plan und halbbewußt. Ich glaube, ich wirkte wie ein Nachtwandler.
Bekehrungsversuche machten meine Verwandten eigentlich nicht. Sie schienen ihnen bei dem Geiste meines Elternhauses wohl aussichtslos. Ich war eben ein verlorenes Schaf, kann mich aber nicht erinnern, daß einer der behäbigen Pastoren, der Seelenhirten, die oft und oft zu Besuch kamen, sich nach mir umgesehen hätte. Auch hätte ich bei der Gleichgültigkeit, die ich gegen sie empfand, ganz gewiß jeden Versuch, in mein Gemütsleben einzugreifen, abgelehnt. Aber während sie mich für verstockt und verloren hielten, hatte ich mir ein Taschenexemplar des Neuen Testamentes gekauft, das ich überall mit mir führte. Gott weiß, wie sehr ich eines lebenden Psychagogen bedurft hätte! Nun sollte es dies Büchelchen sein.
Ich war ein Sünder, ich wollte zu Gott. Ich wollte Gott meine Sünden beichten und meine Erlösung von ihnen verlangen. Er solle mich erleuchten, betete ich, da ich aus dem labyrinthischen Dunkel meiner Zustände keinen Ausweg sah. Vergeblich hoffte ich Tag für Tag, er werde mich dieser Gabe teilhaftig machen. Dazu sollte der heilige Talisman, das heilige Buch mit den Erzählungen von Jesu Christo, dem Gottessohn, das Beste tun.
Sein Inhalt wirkte wenig auf mich, darum wollte ich an mir selbst verzweifeln. Um so abergläubischer hielt ich an dem mit der Hand zu umspannenden heiligen Büchelchen selber fest, als ob seine Gegenwart endlich dennoch zur Erlösung von allem Übel führen müßte. Ich trug es am Herzen und leugne nicht, daß ich durch seine ständige Nähe einigermaßen beruhigt wurde.
Eines Tages – es war schon im neuen Haus, ich bewohnte bereits mein Zimmer in der Frontspitze – suchte der Onkel nach dem Kaffee ein Gespräch mit mir. Ich war betroffen. Er sagte das Folgende:
»Mein lieber Gerhart, ich möchte dir etwas in allem Guten anheimgeben. Du mußt dich auf den nun einmal ergriffenen Beruf beschränken. Es gibt da unendlich viel zu lernen und zu tun, und du mußt es lernen und mußt es tun, wenn du die Hoffnung hast, einmal ein großes Gut etwa als Verwalter oder Inspektor leiten zu können. Ich mache aber gewisse Bemerkungen, die mich befürchten lassen, du zerstreust, du zersplitterst dich.« – Er griff in die Tasche und holte eine große Menge kleiner Zettel heraus, deren Charakter und Bestimmung ich zunächst nicht verstehen konnte. – »Kennst du diese Zettel? Kannst du dir denken, welcher Art diese Zettel sind? und weshalb ich sie nach und nach gesammelt habe?«
Nein, wahrhaftig, das wußte ich nicht.
Er wiederholte: »Du weißt das wirklich nicht?«
Ich konnte das abermals versichern.
»Nun, so laß dir sagen«, fuhr er fort, »wo überall wir diese Zettel gefunden haben. Denn auch Julchen, die Tante, hat ihrer fünf oder sechs an den allerverschiedensten Orten entdeckt: in der Mangelkammer, unter der schmutzigen Bettwäsche, im Kehricht, wenn das Mädchen aufräumte. Ich fand den ersten im Futterkasten unter dem Hafer für die Pferde, wo er Gott weiß wie hingekommen ist.«
Es dauerte noch eine gute Weile, bevor der Onkel zur Sache kam. Das tat er etwa mit diesen Worten: »Die Kunst des Dichtens ist eine Gnadengabe von Gott. Ein Dichter, der einer ist, ist immer von Gottes Gnaden. Auf allen diesen Papierschnitzeln sind mit Bleistift Verschen geschrieben, deren Autorschaft du gewiß nicht leugnen wirst.« – Ja, nun wußte ich Bescheid, und wahrscheinlich bin ich nicht wenig erschrocken und über und über rot geworden.
»Ach, das sind so Scherze, das sind so Späßchen«, sagte ich.
»Nein, das sind keine Scherze, das sind keine Späßchen, das ist eine äußerst ernste Sache, die mit dir äußerst ernsthaft durchzusprechen ich mich für verpflichtet halte. Wären in diesen Gedichtchen Talentproben, ich wäre der erste, dich zu ermuntern, auf diesem Wege weiterzugehn. Andernfalls ist dies ein falscher Weg, durch den viel Zeit vertan werden kann und der nicht selten dazu führt, daß der, der ihn geht, in die schlimmste Selbsttäuschung hineingerät, dem Dünkel verfällt und als nutzloses Glied der menschlichen Gesellschaft durch Müßiggang im Elend endet.«
Diese Drohung des Onkels ließ mich gleichgültig. Das Weitere ließ mich ebenso gleichgültig. Er könne es mir nicht vorenthalten, erklärte er, daß in diesem Geschreibsel nicht das geringste, nicht das allergeringste Zeichen von Begabung festzustellen sei. Vielmehr springe das Gegenteil in die Augen . . ., und so fort, weshalb er mir dringend rate, lieber Berechnungen anzustellen über den und den und diesen und diesen Zweig der Landwirtschaft. Damit ging die Besprechung zu Ende.
Der Eingriff und die Ermahnung des Onkels hatten mir darum nicht den geringsten Eindruck gemacht, weil ich mit seiner Ansicht durchaus übereinstimmte. Daß meine Verschen Belanglosigkeiten darstellten, wußte ich. Die Anläufe, die ich immer wieder nahm, ließen mich immer das gleiche voraussehen. Aber ich hatte bei meinen Versuchen den verzweifelten Eigensinn eines Blinden, der sehen, eines Gelähmten, der gehen will. Schon der Anflug von Hoffnung schenkte mir jedesmal einen lindernden Augenblick, wenn auch ebensooft das traurige Verstummen mir bewies, daß für meine Schmerzenserfahrungen, meinen Erlösungsdrang eine Sprache noch nicht vorhanden war. Das jedesmalige Versuchen und Scheitern war mein einziger Trost. Hier ebenso wie im Verkehr mit dem Neuen Testament, von dem ich stündlich das Wunder erwartete, das mir einen Ausweg öffnen sollte, nicht nur aus meiner Sackgasse, sondern etwas wie einen Durchbruch in ein anderes Sein.
Verlust der Kindesunschuld, vermeintliche Sünde, Heimlichkeiten weckten den Wunsch nach Läuterung, nach einem Element, in das sich die Seele werfen, in dem sie sich wie der Körper in einem Bergwasser baden und reinigen konnte. Ohne Sokrates-Platon zu kennen, verlegte ich dieses Element in außer- und überweltliche Räume, sagen wir: in den reinen Äther ewigen Seins. Nicht anders, als wäre dort der Verbannten Heimat.
Mit der Einfachheit und Selbstverständlichkeit des höheren Sinns, der belanglose Eingriffsversuche aus unebenbürtiger Sphäre keiner ernsten Beachtung würdigen kann, ging ich über den überflüssigen Vorstoß des Onkels hinweg und las Tante Julien ein Gedicht vor, das ich nicht lange danach gemacht hatte. Das Poem war lang. Nur wenige Zeilen, nämlich die Schlußzeilen, hat mein Gedächtnis aufbewahrt. Es sprach, soviel ist gewiß, Sehnsucht nach der ewigen Heimat aus, wo verklärte Seelen in Liebe vereint in unendlichen Wonnen dahinleben, wo der Kampf, der Schmerz, das Trennende, das häßlich Sündhafte sich in Reinheit, wie Gewölk im Blau des Himmels, verflüchtigt hatte. Dort ist das Nichterkennen in reine Erkenntnis, die Betäubung und Verwirrung in wache Freude, träge Mühe in alldurchdringende glückselige Kraft aufgelöst. Davon heißt es dann:
. . .
wo aus dem Dumpfen, Hohlen, Leeren
der reinste Harfenton ersteht,
in jener Schöpfung herrlicher Fülle,
wo liebend alles sich umschlingt
und nur ein einziger hoher Wille
mit Donnerton das All durchdringt.
Auch in diesem Gedicht erkannte Frau Julie Schubert, geborene Straehler, nicht das religiöse Gefühl, aus dem es entsprungen war; die so durch und durch musikalische Natur mit der göttlichen Stimme ward von der sehnsuchtsvollen Musik dieser Verse nicht berührt, die sie für unverständlich und überstiegen erklärte.
Ich füge das folgende arme Elaborat dazu, das mit anderen der Konfiskation meines Lehrherrn verfallen war. Es zeigte mich auf dem Wege zu einer allen Philosophen gemeinsamen letzten und höchsten Vorstellung, woraus erhellt, daß schon in jungen Jahren ein Menschenwesen aus sich an der irdischen Zerschiedenheit leiden und den Rückweg zur All-Einheit mit Hilfe einer zunächst irdischen Synthese suchen kann.
Es ist da von einem Gott die Rede, von dem gesagt worden ist:
. . .
daß, als er Wahrheit schuf, das Götterganze,
sie in Myriaden Splitter ihm zersprungen,
die sich zerstreueten im Wirbeltanze.
Und schließlich heißt es:
›Wenn, Menschen, ihr des Werkes Splitter findet‹,
so sprach der Gott, ›sorgt, daß ihr sie verbindet!‹