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Lederose schluckte mich also für ein Jahr gleichsam ein. Man sah das Dorf, obgleich es Lohnig benachbart war, da es eine Bodenfalte verbarg, von dort aus nicht. Seine Lage an einem von Erlen verhüllten, still fließenden Wasser war recht anmutig. An einem Ende der geraden Dorfstraße lag der Kretscham, am andern der Hof des Dominiums. Ihn wieder beherrschte ein Herrenhaus, das rückwärts in einen alten, gepflegten Park blickte, in dem sogar ein kleiner See mit Schwänen vorhanden war. Am lehmigen Dorfteich, einer besseren Pfütze, auf der sich die Enten und Gänse der Ortschaft zu treffen pflegten, erhob sich ein zerfallener Turm, der Rest einer Kirche, die im Dreißigjährigen Krieg zerstört worden war. Der ganze Ort war in Bäume und Büsche gebettet, so daß vor dem Lärm aller Arten von Vögeln manchmal das eigene Wort nicht zu hören war.
Aber nun gerade, hier in Lederose, bedeckte mich allmählich irgend etwas ähnlich einem Leichentuch. Es fehlte Brinke, es fehlte das weitverzweigte Gutsleben.
Wir hatten zwei Gespanne auf dem Gut, in Lohnig waren des Morgens wohl dreißig ausgezogen. Acht Kühe und ein Bulle standen im Stall, die von einer Magd bedient wurden. Zwei Pferdeknechte waren da, ein reichlich besetzter Taubenschlag, einige Hühner, Enten und Gänse. Das war alles und bot keine große Abwechslung.
Mein einziger Kamerad war ein Hund, der Pudel Fido, der meinem verstorbenen Vetter gehört hatte. Er schloß sich hingebend an mich an, hatte aber die Räude und war ziemlich abstoßend.
Ein Stamm von einem Dutzend Tagelöhnern und Tagelöhnerfrauen kam hinzu, die, wo es not tat, in Arbeit genommen wurden.
Das neue Dasein schien mir anfangs idyllisch und recht angenehm. Ich unterdrückte das Gefühl der Beängstigung, sooft es in mir aufsteigen wollte. Gewiß, um mich in die neue Lage zu finden, mußte ich mir einen kleinen Ruck geben. Unausgesprochen, nur halb bewußt, war irgendein Widerstreben in mir, verbunden mit einer Empfindung von Sinnlosigkeit.
Der Sohn eines Bauern war ich nicht, ebensowenig wie Onkel Schubert ein Bauer. Und doch war dies Gütchen, das erkannte ich selbst sofort, nur von einem Bauern und seinem Sohne, Leuten, die selber zugriffen, zu bewirtschaften. Und ebendiese Erkenntnis mit dem Schluß, daß wir beide nun wirkliche Bauern werden müßten, wurde mir eines Tages von Onkel Schubert vorgetragen. Dabei mußte ich merken, wie wenig er mit mir zufrieden war. »Wenn du nicht das und das und das und das und das und das gelegentlich verrichtest«, sagte er, »muß ich mir einen Großknecht anschaffen.«
Seltsam fiel es mir in den Sinn, daß ich nun nach den Ausblicken des Dominialbetriebes, den ornithologischen Anfängen, den Bestrebungen zur Wiedererweckung der Reiherbeize und Falkenjagd als höchstes Ziel den vollendeten Großknecht in mir sehen sollte, eine Möglichkeit, die mir zu keiner Zeit ins Bewußtsein getreten war. Aber um ernsthaft über die Torheit einer solchen Bestimmung bei meiner knabenhaft zarten Konstitution nachzudenken und dagegen zu protestieren, ruhte ich noch zu sehr im Gefühl blinder Anhänglichkeit. Es dauerte noch geraume Zeit, bevor ich das Selbstbestimmungsrecht des Menschen erkannte und mir zubilligte.
Ich versuchte zu einem Großknecht heranzureifen. Um Onkel und Vater nicht zu enttäuschen und mich womöglich untauglich zu erweisen für einen Beruf, an den ich mich nun für immer gebunden glaubte, unterzog ich mich einer strengen, selbstgesetzten Disziplin: einer Regel, die einzuhalten nicht weniger anstrengend war als die irgendeines Mönchsklosters. Überm Bett meines ebenerdigen Schlafzimmers, eines dumpfen Raumes des alten bäuerlichen Wohnhauses – der Neubau war noch nicht ausgetrocknet –, brachte ich eine Schelle an, deren Schnur durchs Fenster auf die Straße ging, wo sie, und zwar um dreiviertel drei des Nachts, der Nachtwächter, um mich zu wecken, ziehen mußte. Dann stand ich auf – es war Spätherbst und kalt –, in welcher Verfassung ist leicht zu ermessen, und machte mich durch das Wecken von Knechten und Mägden unbeliebt. Nun gab ich im Dunkel fröstelnd und frierend Heu und Hafer in vorgeschriebenen Mengen heraus und mußte mich von den mißgelaunten und geärgerten Leuten angrobsen lassen. Um fünf Uhr waren die Pferde angeschirrt, die Gespanne begannen ihre Tätigkeit. Die Knechte bestiegen jeder sein Sattelpferd und ritten auf die Felder, um zu pflügen, oder es wurde Dünger geladen und hinausgebracht. Jetzt begann das Melken, dem ich gelangweilt beiwohnte. Die Mägde zogen im Halbschlaf die Zitzen oder brachen, wenn die Kuh sich unangemessen bewegte, in unflätiges Schimpfen aus. Der Stall war dunkel bis auf das Licht einer kleinen Ölfunsel. Diese Frühstunden waren überhaupt in Nacht getaucht. Aber im Kuhstall war es warm, und man konnte womöglich ein kleines Nickerchen nachholen.
Die Rinder hatten klassische Namen, der gewaltige Bulle zum Beispiel hieß Jupiter. Man las es von einer Holztafel, die vor und über ihm an der triefenden Mauer hing. »Venus«, »Juno«, »Minerva« und so weiter stand in weißen Lettern über den Häuptern der Milchkühe. Das alles und das monotone Rauschen der Milch in die Blechgelten, dazu die wohlige tierische Wärme, regte zu Träumereien an. Ich gewöhnte mir außerdem an, hier, wo ich die Mägde bewachen und das Unterschlagen von Milch verhüten sollte, selbst eine Milchkur zu gebrauchen, aus eigener Machtvollkommenheit.
Das Aufstehen war keine Kleinigkeit, und doch liebte ich diese Frühstunden. Sie nahmen dem Leben ein gut Teil seiner Reizlosigkeit. Es war eine Art Mysterium, in dessen Tiefen ich vor Tagesanbruch mit einer Art Wollust herumtastete. Im Morgengrauen und Tagwerden, das mich ernüchterte, freute ich mich schon auf den Abend und wieder auf die dunklen Morgenstunden des kommenden Tages. Der Onkel schlief, die Tante schlief, ich war geborgen in Nacht und Einsamkeit.
Meine Stimme veränderte sich, ich war nicht wenig erstaunt darüber. Mein ganzer Körper unterlag einer Umwandlung. Es war in mir eine seltsame Unruhe, die mit vielen sonderbaren Symptomen befremdend in mein Leben trat. Eine gewisse Scheu stieg in mir auf. Es zog mich überall ins Verborgene. Hatte ich ein schlechtes Gewissen, oder wurde mir halb bewußt, daß der eigene Körper in seinen heimlichen Tiefen schöpferisch ward? Noch war nichts Denken, alles Instinkt, alles Gären, Drängen und Werden im Dunkeln. Das vielleicht größte Wunder des Lebens kam in schwülen Spannungen, irdisch-überirdischen Ahnungen, Süchten und Sehnsüchten über mich. Zugleich eine Furcht, eine Angst, der Ansturm des Neuen könne meine Kraft übersteigen. Natürlich litt ich an heftigem Herzpochen. Diese Zustände hatten ihre Gefährlichkeit. Sie konnten den Sinn des Lebens einleiten, aber ebensogut den Tod.
Was da vorging, in mir rang, ich spürte das, war keine Geringfügigkeit. Ich behielt es für mich, ich hätte es niemand verraten mögen. Auf den Gedanken, mein Zustand könne nach außen bemerkbar sein, kam ich nicht. Ich sah überall Dinge, die mir neu waren: die Waden und nackten Arme der Mägde, wenn sie mit Gabeln an langen Stielen das Grünfutter abluden, seltsam reizende Formen in der Natur, betörende Münder, lockende Augen; Kühe wurden zum Stiere gebracht, ein landwirtschaftlicher Akt, dem ich beiwohnen mußte. Er hatte jedesmal etwas Spannendes. Schwüle Träume kamen des Nachts. Es herrschte darin eine im Anfang bestürzende Zuchtlosigkeit. Morgens tauchte die Frage auf, ob das, woran ich mich klar erinnerte, wirklich geschehen sein konnte und wie es überhaupt möglich war. Dem Teufel diese frappanten Ereignisse zuzuschreiben, darauf verfiel ich nicht. Aber ich hatte Gewissensbisse.
Körperliche Arbeit ging nebenher. Da ich mir schon in Lohnig die meisten technischen Handgriffe im Bereich des Hof- und Feldbetriebs angeeignet hatte, konnte ich sie auf dem Gütchen ausüben. Ich verstand mit dem Pfluge, der Sense, der Zuckerrübenhacke umzugehen, konnte dreschen und Garben binden und übte nach Maßgabe meiner allerdings schwachen Kräfte dies alles je nach Bedürfnis aus. Ein wirkliches Eingreifen in den Betrieb des Gütchens war das nicht. Und da Knechte, Mägde und Gutsarbeiter das Ihre gewohnheitsmäßig taten, quälte mich allenthalben ein Gefühl der eigenen Überflüssigkeit.
Zum Großknecht konnte ich mich nicht entwickeln. Ich hätte nötig gehabt, es als Schwerarbeiter allen voran zu tun. Aber wie hätte ich können einen Sack voll Weizen, der etwa zwei Zentner wog, auf den Oberboden hinaufbuckeln? Das halbe Gewicht hatte mich eines Tages zum Straucheln gebracht. Ich kämpfte gegen die Schwäche an, ich suchte trotzdem meinen Mann zu stehen, half Dünger laden und Ställe ausmisten, übernahm ein Gespann, bediente den Pflug einen halben Tag oder führte die Egge über den Acker. Am liebsten war mir das entlegenste und einsamste Arbeitsgebiet.
Die Jahreszeit wurde immer unwirtlicher. Wir kamen in den Dezember hinein. Onkel Schubert hatte eine Dreschmaschine mit Dampfbetrieb angeschafft, die im ganzen Striegauer Kreise herumreiste. Zuweilen, was eine Art Fest bedeutete, arbeitete die Maschine bei uns. Da war das eiserne Schwungrad, da war der Treibriemen, da war das Geratter und Geklapper, das alle erregte, die Leute schreien und lachen machte, und nicht zuletzt der Lokomotivenpfiff, der die große Welt des Verkehrs vortäuschte.
Ich drängte mich zu der wichtigen Arbeit des Einlegens und übte sie eine Weile aus. Eine vom Bunde frei gemachte Garbe wird einem in die Arme gelegt, und man muß sie dem brausenden Maul der Maschine, auf bestimmte Weise gelockert, einschütten. Wieviel die Maschinentrommel in einer Stunde verarbeitet, das hängt von der Schnelligkeit, der Ausdauer und Geschicklichkeit des Einlegers ab. Die Arbeit strengt an, man muß viel Staub schlucken, und da man sie nicht lange hintereinander ausüben kann, wird nach einer mehr oder weniger langen Zeit der Ersatzmann nötig. Aber die Stellung auf dem Maschinendach, der Reiz des Vorgangs und seine Wichtigkeit machten die Arbeit begehrenswert.
Nachdem wir das neue Wohnhaus bezogen hatten, wurde es durch eine kleine Feier eingeweiht. Zugegen war der fromme Maurermeister, der es gebaut hatte, mit seiner Frau sowie Pastor Vetter mit seiner Hausdame. Damit begann die im Vergleich zu Lohnig allerdings sehr erheblich eingeschränkte Geselligkeit. Im übrigen war das Haus recht trübselig.
Der Onkel, wie er gesagt hatte, freute sich über jeden Tag, der vorüber war, weil ihn das dem Wiedersehen mit seinem Sohne näher brachte. Das Leben von Tante Julie aber war ein einziger Totenkult. Niemals sang sie ein Lied, das nicht ein Choral war, spielte sie ein Musikstück auf dem Klavier oder Harmonium, das nicht kirchlichen Charakter gehabt hätte.
Damals fingen die Beratungen über den Grabstein an, den man dem kleinen Georg setzen wollte. Sie gingen anderthalb Jahre fort, bis dann das Kreuz aus dem schwarzen Granit des nahen Streitbergs mit der goldenen Inschrift »Dein, Herr Jesu!« im Eingangsraum des Hauses lag. Dieses schwarze Kreuz als Wunsch, Idee, materieller Beratungsgegenstand, zuletzt als Wirklichkeit war die geistige Dominante dieser Zeit.
In diese dem Tode zu-, dem Leben abgewandte Gemütsverfassung wurde ich, ohne es zu merken, mehr und mehr eingelullt. Zuweilen sträubte ich mich dagegen, schloß mich sonntags von den Kirchgängen und von den Wallfahrten zum Grabe aus, die mehrmals wöchentlich stattfanden und zu denen mich die Tante schließlich nicht mehr aufforderte. Das hinderte meine wachsende Abkehr vom äußeren Leben nicht und die Zunahme meiner Verdüsterung.
Das wachsende Dunkel war in seiner Wirkung recht vielfältig und ebenso mein Verhältnis dazu. Es machte mich traurig einerseits und hatte doch auch mit jenem fruchtbaren Dunkel zu tun, in dem sich Keime aus Samen entwickeln. So sehnte ich mich immer mehr aus dem Dunkel zum Licht, noch mehr aber aus dem Licht zum Dunkel, so daß der Tag und besonders jegliche Art von Geselligkeit als Störung, ja manchmal als Raub empfunden wurden.
Die Essenz und der Kern meines Lebens war Heimlichkeit. Das wahre große Ereignis, in dem ich stand, war das Erwachen des Geschlechtslebens. Eros nistet sich in uns ein. Er nimmt Quartier, gestaltet sich seine neue Wohnung. Der Jüngling fühlt und erkennt und begreift schließlich seine unabwendbare Gegenwart. Er parlamentiert, er verhandelt mit ihm, muß aber schließlich fühlen, daß er diesem Gast gegenüber ohnmächtig ist. Er sieht sich zu unbedingtem Gehorsam gezwungen, zum willenlosen Sklaven gemacht. Nun beugt sich der Sklave und huldigt dem Gott. Und wie er in seinen Mysterien fortschreitet, verachtet er endlich jedes andere irgendwie geartete Glück in der Welt.
Ich tat meine Arbeit, versah meinen Dienst. Ich striegelte Pferde, eine kleine braune Stute – sie war dreijährig –, die weder geritten noch gefahren war. Ich stand im ammoniakbeizenden Stall und mistete aus. Ich reinigte den Taubenschlag. Uns fiel ein Pferd an Kolik. Es litt entsetzlich. Wir dokterten vergeblich eine ganze Nacht an ihm herum. Ich half es vergraben, als es am Morgen zusammengebrochen war. Ich sah das Leiden der Kreatur: der Kühe, wenn das Kalb seine Hinterhufe wie zwei Stöcke aus der Mutter hervorstreckte. Daß ein ganzes, großes, vierbeiniges Tier durch eine so kleine Öffnung nachdringen sollte, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Einige Stunden später war es da, lag neben der Mutter und wurde von ihr zärtlich und eifrig abgeleckt. Dann stand es auf, dann wurde es an das Euter gelegt und wieder einige Tage später vom Fleischergesellen abgeholt und zur Schlachtbank geführt. Der ganze Kuhstall geriet außer sich. Die verwaiste Mutter tobte, riß an der Kette und brüllte verzweifelt tagelang.
Ich konnte beobachten, ich hatte Zeit, über die Mysterien der Zeugung, der Geburt und des Todes nachzudenken, da mir der ganze Tag dafür zu Gebote stand. Natürlich bewegte sich mein Denken nicht über den mir zugewiesenen Raum. Dagegen sah ich mich eines Tages auf dem Wege meiner Beobachtungen wiederum dahin gedrängt, Eindrücke, die sich mir immer wiederholten, mit Papier und Bleistift festzuhalten, was mir mit den Kühen sowie den übrigen landwirtschaftlichen Haustieren über alles Erwarten gelang.
Das Zeichnen brachte meinen dumpfen Stunden Erleichterung. Es kam mir vor, als könne diese mir in den Schoß gefallene Tätigkeit irgendwie und ‑wann ein Glück für mich sein, ganz abgesehen von der Freude, die mir schon jetzt dadurch zuteil wurde.
Eine schwache Regung von Ehrgeiz mochte dabei im Spiele sein. Er würde sich dann auf meine Zukunft als Landwirt nicht bezogen haben, und schon darum gehörte das Zeichnen ins Gebiet meiner Heimlichkeit. In ihrem Schutze habe ich auch meine ersten Gedichte gemacht, die gleich den Zeichnungen unerwartet und plötzlich da waren. Ich sage deshalb, daß es meine ersten gewesen sind, weil ich die früheren nicht dafür halte.
Lederose war für mich eine Sackgasse. Ich empfand es dumpf, ohne mir dessen bewußt zu sein. Sicher ist, daß der kurze Vorstoß von Rittergut Lohnig ins Große, Freie in sie mündete. Leider brachen in ihrem Halblicht, ihrer Aussichtslosigkeit alle überwunden geglaubten hemmenden Mächte, die Erbschaft der Schule, wieder herein. Der Schlag, den mir die ersten Breslauer Schulstunden versetzt hatten, brachte sich durch eine Schwäche des Rückgrats in Erinnerung. Ich unterlag, womöglich verstärkt, meinem Kleinheitswahn. Ich hielt nichts von mir. Und wann hätte ich mir auch während der Breslauer Schulzeit irgend etwas diese Überzeugung Entkräftendes beweisen können? Noch sah ich die Schule als etwas Gottgegebenes, Infallibles, etwas furchtbar Vollkommenes an, dessen Anforderungen ich ganz einfach nicht gewachsen war. Ich wurde mit Recht deshalb ausgeschieden. Ich war, wie der Ausdruck lautet, in jeder Beziehung untauglich. Und schon wieder, ganz im Innern, meldete sich oder schien sich zu melden, auch diesem neuen Beruf gegenüber, dumpfes Bewußtwerden von Untauglichkeit.
Ich litt unter dem Gedanken, Onkel und Tante könnten Vergleiche zwischen mir und ihrem verstorbenen Sohn anstellen. Äußeren Anhalt für die Befürchtung hatte ich nicht. Aber die bloße Vermutung nahm mich gegen die Schuberts ein. Bald war es keine Vermutung mehr, sondern es hatten sich Vermutung und Befürchtung aus meinem Minderwertigkeitsgefühl als eine schmerzliche Beule zusammengezogen. Nach nicht allzulanger Zeit trug ich meiner Mutter diese Sache bereits als bestimmte Anklage gegen ihre Lieblingsschwester und ihren Lieblingsschwager vor.
Eine andere hypochondrische Idee nahm gelegentlich Besitz von mir: die Furcht vor der Verwirklichung des irgendwie in der Luft hängenden Gerüchts, daß ich von Onkel und Tante an Sohnes Statt angenommen werden sollte. Der Gedanke, meine Eltern könnten in einen derart unnatürlichen Handel einwilligen, also mich loswerden wollen, kränkte mich. Und weil ich sie damals noch mit einer ungeteilten, grenzenlosen Liebe liebte, empfand ich gegen meine möglichen Adoptiveltern wachsende Abneigung. Mehr und mehr kühlte das einstmals so warme Verhältnis zu ihnen ab.
Ganz aus der Luft gegriffen war meine Befürchtung sicherlich nicht. Die Arbeitsleute zum Beispiel sahen in mir den zukünftigen Gutserben, und vielleicht erschien meinem Vater und meiner Mutter meine Zukunft so aussichtslos, daß sie die Möglichkeit dieses sicheren Unterschlupfs nicht durchaus von der Hand weisen wollten. Aber der bloße Gedanke empörte mich. Ich hatte seltsamerweise einen gewaltigen Namensstolz: den Familiennamen aufzugeben wäre für mich dasselbe gewesen, als ob ich, seiner unwürdig, von den Meinen vor die Türe geworfen, das heißt, ausgestoßen worden sei.
Es konnte in dieser Sache ohne mich nichts geschehen, aber daran dachte ich nicht. Ich war vor mir selbst zu klein, mein Dasein zu aussichtslos, und ich steckte, wie schon gesagt, in einer Sackgasse: mich rückwärts und vor den Eingang zurückzuziehen kam nicht in Betracht. Es hätte mich und voran meine Eltern nur von meiner wirklichen und völligen Unfähigkeit zu jedem ernsten Beruf überzeugt. Wo hätte dann ich und wo hätte man mit mir hin sollen?
Da ich, auch wenn ich gewollt hätte – einen Freund oder Kameraden hatte ich nicht –, mich niemand eröffnen konnte, wühlte ich mich immer tiefer in mich selbst hinein, in dem gefährlichsten Zeitraum zwischen Knaben- und Jünglingsalter allen Zwiespältigkeiten seelisch-sinnlicher Regungen preisgegeben. Dem natürlichen Zustand der Vereinsamung folgte die Verfinsterung.