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In Hamburg-Hohenfelde fanden wir Georg und Adele einquartiert. Sie bewohnten ein hübsches Parterre in der Uhlandstraße. Da wir der erste Verwandtenbesuch seit der Hochzeit waren, wurden wir vom Bahnhof mit allen Zeichen der Freude eingeholt. Zwei Gastzimmer waren bereitgestellt. Wir wurden über die Maßen verwöhnt mit allem, was man uns nur von den Augen absehen konnte.
Ich fand die Ehegatten und besonders meinen Bruder hingenommen von einer breiten Genußfreudigkeit. Die materielle Seite der großen Hansestadt hatte es Georg zuerst angetan. Er war stärker geworden. Dabei hatte das Rabelaissche in seiner Natur zugenommen. Nicht selten gingen seine Derbheiten über das erlaubte Maß und mußten, wollte man eine Verstimmung vermeiden, überhört werden.
Vor zehn Uhr früh stand niemand auf, der Frühstückstisch war mit leckeren Sachen überfüllt, Eiern, geräuchertem Lachs und anderen Rauchwaren, geöffneten Anchovis- und Sardinendosen, Spickaal, Gänseleberpastete, kurz mit allem, was ein hanseatisches Delikatessengeschäft zu liefern vermag. Georg, stolz auf seinen Straehlerschen Magen, stopfte sich voll damit.
Er war witzig, lebendig, zeigte unbändigen Übermut, dabei flammte sein rotbraunes Haar genialisch. Wir gerieten manchmal in ein Gelächter hinein, das uns für Minuten bis zur Hilflosigkeit schwach machte.
Mit Bolslikören, Allasch und ähnlichen Dingen wurde das Frühstück bis ans Mittagessen ausgedehnt.
Adele war mit dem derben Genußwesen einverstanden. Eheliche Unstimmigkeiten von Bedeutung zeigten sich nicht. Einige Zeit machten Mary und ich dieses Treiben mit. Auch trat es wohl ein wenig zurück, als die Freude des Wiedersehens abebbte. Endlich gingen wir dann unsere eigenen stilleren Bahnen.
Während der ersten Tage unserer Anwesenheit hielt es Georg nicht für nötig, seinem Kaffeegeschäft in der Steinstraße einen Besuch abzustatten. Dann gingen wir eines Tages gemeinsam hin, aber nur, um kurz hineinzublicken und uns mit den Damen zu treffen, weil wir in einem renommierten Bierlokal frühstücken wollten. Die Steinstraße war damals noch Mittelalter: verfallene Häuser, Giebel nach der Straße gekehrt, Hunde, Kinder, Stadtmusikanten, Viehtreiber, fischverkaufende Ausrufer, schmutzige Rinnsteine, schlechtes Pflaster, Hühner, Strohhalme gaben ihr das Gepräge.
Zum Kaffeegeschäft von Gebrüder Gläser, das mein Bruder gekauft hatte, gelangte man über drei ausgetretene Steinstufen, durch einen Flur, den man mit beiden Schultern streifte, und eine ziemlich wacklige Tür. Es hatte ein Fenster nach der Straße, eins nach dem Hof hinaus. Am vorderen stand das doppelseitige Pult mit dem Angestellten Nielsen daran, hinten hatte der Hausknecht seinen Bereich, der Säcke trug und Postpakete mit Kaffee zum Versand fertig machte. Von den Gerüchen dieses Raums war der nach gebranntem Kaffee der beste.
Ich war erstaunt und ein wenig verblüfft über das, was meinem Bruder bei seinem kurzen Besuch des Geschäftes zumeist am Herzen lag. Anstatt sich nach den Eingängen, erledigten und unerledigten Lieferungen zu erkundigen, fuhr er wie wild in dem kleinen Büro herum und wollte wissen, wo eine Katze mit ihren Jungen hingekommen sei, samt dem Korbe, in dem sie gelegen habe.
Man hätte sie, sagte Nielsen, der Kommis, fortgegeben, weil sie die Jungen im ganzen Büro herumgeschleppt und der Makler Soundso eines beinah totgetreten habe.
»Was! Dieser Esel, dieser Schafskopf . . .!« Georg geriet außer sich. Er konnte sich erst beruhigen, als wir den muffigen Ort wieder hinter uns hatten.
»Ihre Söhne haben keinen praktischen Sinn!« hatte Weber-Rumpe zu unserem Vater gesagt. Damit meinte er mich und Carl. Sollte es auf Georg ebenfalls zutreffen? Der Gedanke fuhr mir nun durch den Sinn.
Die Wirkung Hamburgs auf mich überstieg, hauptsächlich durch den Eindruck seines Hafens, aber auch durch die Gegenden um die beiden Alsterbecken, die von Berlin.
So spazierte ich denn endlich mit Mary über den Jungfernstieg, dessen Name in seiner idyllischen Harmlosigkeit, seltsam anziehend, besonders in Nieder-Salzbrunn aller Augenblicke über unsere Lippen sprang.
Die salzige Luft der Nordsee und der ozeanischen Gewässer darüber hinaus schlug in diese Stadt, wodurch etwas Wetterhartes, Haltbares, Unverwüstliches in ihre Bewohner kommt. Hier wehte die Luft von fernen Erdteilen. Die Berechtigung idealer seelischer Ballungen, geistiger Schicksale schien angesichts der gewaltigen Eisenkrane und ihrer mächtigen Ladearbeit und angesichts der massigen Schiffsrümpfe im Hafen und der Leistungen, die sie hinter sich und vor sich hatten, zweifelhaft.
Hier war Format, Weltwacht, Schicksale von Erdteilen in verfrachteten Warenmassen aufgehäuft. Man spürte, daß hier mit erdumspannendem Kontakt eine Weltmaschinerie im Gange war und in lebendigen Gliedern, in lebendigem Zusammenhang die alten, nur ein wenig gestauten Sintflutgewässer der Welt, sie bändigend, überbrückte.
Hier drang eine übermächtige Größe auf mich ein, gegen die gehalten zunächst das Ganze meiner bisherigen Lebenserfahrung klein werden mußte. Hier, nur hier hatte die heroische Kraft des Menschengeschlechtes ihre unwiderlegliche Selbstbestätigung.
Das Wort aus Erz: »Navigare necesse est, vivere non necesse!« preßte sich hier unwiderstehlich dem Geiste ein.
Die Menschen hatten ja nicht nur feste Städte und Dörfer, die sie bewohnten, nicht nur Wälder, in denen sie jagten, Felder, die sie bebauten und auf denen sie Nutztiere hielten: aus der Arche Noah war eine ungeheure Stadt von schwimmend durcheinander bewegten Häusern geworden, die auf immer mit der schwankenden Oberfläche der Weltgewässer verbunden blieb. Nach bestimmten Gesetzen bewegten sich diese gewaltigen Magazine, keine Spuren hinter sich lassend, von unerschrockenen Menschenhänden gelenkt, über die endlosen Wasser der Erdoberfläche. Schwimmende, festlich erleuchtete Paläste, gewaltige Wohnhäuser für Menschen, die von einem Ufer der Erde zu dem Tausende von Meilen entfernten anderen hinüberrollten. Und es gab auch schwimmende Festungen mit Türmen und Schießscharten, schwimmende, Vernichtung drohende Symbole des unter Menschen unausrottbaren, ewigen Kriegs.
Nichts in der Welt gleicht einem solchen Hafen, wie es der Hamburger ist, an Schicksalhaftigkeit.
Was war nun wiederum Jena, als sich hier die gorgonenhafte Romantik des Lebens in ihrem unabwendbar-gewaltigen Ernst aufrichtete? Nun ja: der Garten des Epikur!
Da lagen die Schiffe in einer Ruhe und Selbstverständlichkeit, die von den unablässigen Kämpfen und Gefahren auf den Meereseinöden nichts verriet. Von wieviel Stürmen, Tornados, Taifunen, die von ihnen durchkämpft wurden, hätten sie zu berichten gewußt! Und diese wilde, unverschämte, todesverachtende Klasse von Seefahrern, diese Blaujacken, Stoiker von Natur mit der Pose von Bequemlichkeit, als ob das Leben ein schlechter Witz wäre! Sie machten wahrhaftig nicht viel aus sich. Wer hätte sie Besseres zu lehren vermocht? Solcherlei Heroismus befähigte sie, in die unwegsamen Gebiete hinauszustoßen, die seit dem ersten Schöpfungstage unverändert sind und wo auf die Gegenwart des Menschen noch nicht Rücksicht genommen ist: Leere, Nacht, Wüstenei mit den furchtbaren Nebeln des Gott-Geistes über den Wassern. War mein Leben, dagegen gehalten, nicht bloßes Gedankenspiel? Diese Matrosen, die nichts vom alten Ägypten, Griechenland, Karthago und Rom wußten, waren selbst noch unverändert Menschenwesen aus jener Zeit ohne überflüssige Religion, höchstens mit etwas Aberglauben.
Es schien, die Zeit vermochte gegen diese harten und notwendigen Prägungen nichts, die sich meinem Nachdenken als allen anderen Prägungen überlegen und gleichsam klassisch darstellten.
Die Hamburger Aufenthalte wiederholten sich. Ich konnte, und so auch Mary, bald sozusagen dort Fuß fassen, da inzwischen auch meine Eltern und so Mathilde Jaschke mit meiner Schwester ihren Wohnsitz dorthin verlegt hatten. Dies war ein ungeheurer Schritt.
Wie das gemeinsame Leben dieser Familienglieder sich in vielen, auch wohl dramatischen Einzelmomenten gestaltete, darzustellen, vermag ich nicht. Das Leben ist eben allzu reich, um anders als andeutungsweise rekapituliert werden zu können.
Mary hatte der Idee meiner Griechenlandreise zugestimmt. Aber doch nicht so, daß ich unmittelbar an die Ausführung gehen wollte. Bis endlich der Hamburger Hafen und der Geist des großen Abenteuers, der über ihm lag, eines Tages den Ausschlag gab. Fast unter unwiderstehlichem Zwang drängte sich der Entschluß mir auf, mit einem Frachtdampfer um Europa herum das Ziel meiner Sehnsucht zu erreichen. Dies war, wie wir damals dachten, Mary und ich, zwischen unseren Seelen beinahe ein Riß. Wollte ich nicht unser stillgefestigtes Glück freiwillig aufs Spiel setzen?
Mary machte schmerzliche Einwände.
Aber ich konnte sie überzeugen, daß gerade diese Seereise für meine Selbsterziehung nötig sei.
So wurde die Fahrt denn vorbereitet.
Professor Gaedechens war Hamburger Kind. Da er seine Ferien hier zubrachte, konnte ich ihn besuchen und ihn für meine Pilgerreise nach dem Lande der Griechen um Ratschläge bitten. Er stattete mich mit Empfehlungen aus.
Sein Akropoliskolleg war für meine Fahrt das Entscheidende. Aber er hat uns auch in mehreren Stunden wöchentlich mit dem Schicksal und den Wundern von Herkulanum und Pompeji bekannt gemacht, so daß ich im vorhinein dort wie zu Hause war und die von eruptiver Asche des Vesuvs verschütteten und wieder freigelegten Städte nun auch mit Augen zu sehen wünschte. So stimmte ich zu, als er mir riet, in Neapel für längere Zeit das Schiff zu verlassen und spätere Fahrtgelegenheit abzuwarten.