Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Dreißigstes Kapitel

Den ersten wahrhaft erneuernden und beglückenden Atemzug sog ich, vor dem Waggon auf und ab schreitend, in der Schneeluft des Brenner ein. Nun wollte ich erst mein Leben anfangen. Wollte es anfangen, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt der Heimat und nur der Heimat gehörend.

Außerdem gelobte ich mir, meine Krallen ganz einzuziehen. Du bist zu klein und die Welt zu groß, sagte ich mir. Wie willst du entscheidend auf sie einwirken? Wer es versucht, hat den Schaden davon. Ich wollte von nun an meine Zunge im Zaum halten, schweigend lernen, den anderen das Reden überlassen. Wie eine Offenbarung kam diese Erneuerung damals über mich. Es ist keine Übertreibung, wenn ich dabei an das Damaskus des Saulus denken mußte. Die große Besinnung war eingetreten.

Wer nicht alles hatte an mir herumerzogen in Rom! Ich ließ es zunächst dahingestellt, inwieweit mein Betragen dazu den Anlaß gab. Im wesentlichen lief es freilich nur darauf hinaus, daß ich mein volles Herz nicht zu wahren wußte. Daß dies fortan zu geschehen habe, hämmerte ich während des Promenierens bei der Rückkehr nach Deutschland auf der Höhe des Alpenpasses in mich ein.

Der Gedanke der Pflicht gegen andere, also der des sozialen Verhaltens blieb. Allein ich verwarf die bisherigen Mittel, also das Weltverbesserertum. Und außerdem stellte ich diesem Gedanken das Recht und die Pflicht gegen mich selbst an die Seite. Zu welchem Ende und wem zuliebe, fragte ich mich, verschwendet man seine Persönlichkeit?

Die Krankheit hatte mich innerlich älter, wenn nicht alt gemacht. In meinen besten Stimmungen wollte ich weder Italien noch auch mehr Griechenland, sondern einen stillen deutschen Winkel, wo Wiese und Wald dominierten und ich mit Mary eigentlich nur um des Lebens willen leben konnte. Das Schweifen ins Uferlose war nicht mehr, das Illusionen gebärende Organ, es war nicht mehr oder war steril geworden.

Hatte ich durch eine Überspannung meiner Kräfte mich erschöpft?

Es kam mir vor, wenn ich an Rom dachte, als hätte ich dort in einem Tunnel gearbeitet. »Es freue sich, wer da atmet im rosigten Licht! Da unten aber ist's fürchterlich . . .« Und bei der Schwäche, in der ich lag, bei dem Verlust meines Illusionsorgans war mir auch meine Neigung zur Bildhauerei abhanden gekommen.

Es ist eben etwas in der Seele, das da und dort wie ein Licht aufflammt und ebenso erlischt.

 

Nicht enttäuscht, nicht besiegt, nicht geschlagen noch an irgend etwas verzweifelnd, kroch ich zunächst nach instinktivem Gebot unter die Hut meiner Eltern zurück. Sie bewohnten in Hamburg ein kleines, düsteres Quartier, das mich trotzdem mit der Nesthaftigkeit, die ich suchte, umgab. Der Mensch von gestern war nicht mehr, man mußte mich gleichsam von neuem ausbrüten.

Alfred Ploetz befand sich, um die Kolonie Cabets, die längst ein anderer leitete, zu studieren, in Amerika. Er wußte nicht, daß auch die Idee unserer utopischen Kolonie bei mir nicht mehr zündete. Die Verengung meines Wesens nach der Weitung hatte während jener Hamburger Zeit, in der kaltes, nasses und stürmisches Wetter vorherrschte, beinah nur noch einen ängstlichen Hypochonder zurückgelassen. So war, allerdings unter den merkbaren Nachwehen meiner Typhuserkrankung, mein Wesen zusammengeschrumpft.

Es sollte sich langsam wieder ausweiten.

Carl stand in Dresden beim Militär. Nachdem seine Dienstzeit vorüber war, zu Ende des Sommers, wollte er heiraten. Die Schwestern waren nach Hohenhaus zurückgekehrt, und bald wurde ich in ihren Bannkreis gezogen.

Dresden war damals die berühmte Bildhauerstadt. Schilling arbeitete an seiner für den Niederwald bestimmten Germania, und der in seiner Weise hochbedeutende Meister Ernst Hähnel lebte noch.

Er hat Jahrzehnte darüber zugebracht, seiner Statue des Raffaello Santi die letzte, klassische Harmonie und vollendete Form zu geben.

Mit einer Empfehlung von meinem alten Meister Haertel in Breslau besuchte ich ihn. Ich sah einen alten Mann, nicht mehr.

Hätte als Bildhauer etwas aus mir werden sollen, so hätte ich von Jugend an in eines solchen strengen Meisters Lehre hineinwachsen müssen. Das Dümmste von allem aber, was ich mir zufügen konnte, tat ich nun: ich verdammte mich dazu, in der Zeichenklasse der Königlichen Akademie auf der Brühlschen Terrasse nochmals von Grund auf anzufangen.

 

Es war dies ein Schritt, wie er törichter nicht zu denken ist. Daß meine Braut ihn wünschte, erklärt ihn nicht. Nie wäre ich vor meiner Krankheit zu bewegen gewesen, in den Selbstmord meiner Begabung einzuwilligen: mit der Weite meines Gesichtskreises und meinem Wissen von großer Kunst in die Blindenanstalt dieser Strichelklasse unterzutauchen!

Nein, es war der Zusammenbruch des den Barditus singenden Kolosses, war mein eigener Zusammenbruch, war der zerbrochene Wille auf diesem Gebiet, der mich gegen Ja oder Nein in dieser Sache gleichgültig machte.

Der bildende Künstler in mir wäre damals noch zu retten gewesen. Wäre die Geliebte während des Aufenthaltes in Capri nicht das Opfer der Schulmeisterei eines Nonnenbruch geworden, hätte sie seinen platten Ratschlägen nicht allzu willig geglaubt, sondern mit vollem Vertrauen zu mir gestanden, was ich immer wieder leidenschaftlich von ihr erbat, so hätte sie mich besser bevormundet. Denn da es mir wirklich ein wenig den Atem verschlagen hatte, war mir eine gewisse Bevormundung nicht unangenehm.

So aber gab ihres guten Willens Ungeschick meinem geschwächten Willen zur bildenden Kunst den geschicktesten Todesstoß.

Richtig beraten, hätte sie gerade jetzt mein Selbstvertrauen durch einen rückhaltlosen Glauben wiederherstellen müssen. Sie hätte begreifen und es mir zu Gemüte führen müssen, welche ungeheure Leistung in Rom hinter mir lag, da mir die Erinnerung daran fast entschwunden war. Sie hätte mir sagen müssen: Ruhe aus und dann beginne in deiner Art, auf die ich allein vertraue, neu! Hast du Bedenken, dein Körper könnte dem nicht gewachsen sein – wirklich hatte ich die Bedenken! –, so wollen wir uns die Bedingungen schaffen, die du mir oft als die besten für deine Arbeit bezeichnet hast. Wir werden heiraten, erwerben ein Gartengrundstück auf den Elbhöhen bei Blasewitz mit einem der alten sächsischen Landhäuschen und bauen im Garten ein Atelier, in dem du gesund und bei offenen Portalen arbeitest.

So hast du Ruhe, hast die Natur, eine gesunde Wohnung, eine gesunde Ernährung und schließlich mich!

Statt dessen landete ich bei den Klippschülern.

 

Dort hielt ich es freilich nicht lange aus. Allmählich wuchs auch wieder mein Haar, und ich kam in Besitz eines Teiles meiner alten Kraft, obgleich ich mich ganz gewiß nicht als Simson betrachtete.

So erhob ich mich denn eines Tages mitten im Unterricht, trat auf die Brühlsche Terrasse hinaus und hatte die Freiheit wiedergewonnen.

Und nun begann, recht unerwartet, ein bis zum Herbst währendes Sommeridyll, eine herrliche, unbeschwerte Gegenwart, ein Stück Jugend, das ich mir oftmals zurückwünsche.

Ich bezog in der Neustadt eine Mansarde. Sie war mit irgendeinem blaubemalten, schon teilweise raschelnden Papier tapeziert: ein kleines, seelenvolles Philosophen- und Dichternest, das romantischer nicht zu denken ist. Es befand sich nicht weit vom Linkeschen Bad, dem bekannten Vergnügungsetablissement, also in dem geweihten Gebiet am Elbufer, dem Schauplatz von E. T. A. Hoffmanns Meisternovelle »Der goldene Topf«. Und außerdem würde ich nicht wissen, wie eine Hexe aussehen muß, wenn meine Vermieterin nicht gewesen wäre. Zwischen der Spitze ihrer Nase und der Spitze ihres Kinns hätte sie, wie in einer Zuckerzange, gut ein Stück Zucker halten können.

Diese Witwe, Frau Pickert, die eine hübsche Enkelin bei sich hatte, hat sich mir gegen allen äußeren Schein als die wandelnde Seelengüte eingeprägt. Sie sorgte für mich, als ob ich ihr einziger Sohn wäre.

Unter dem klassischen Fenster dieser deutschen Poetendachstube schlug ich nun in aller Form meine Werkstatt auf. Ein länglicher, ungedeckter Tisch wurde mit einigen Büchern, Konzeptpapier, mit neuen Schreibfedern, Federhaltern, Faberbleistiften und einem entkorkten Fläschchen Tinte ausgestattet. Andere Bücher, darunter das Neue Testament von Lederose, nahm eine mit Plüschtroddeln verzierte Etagere auf. An der Wand hing ein Buntdruck: Mazeppa auf ein wildes Roß, einen Apfelschimmel, gebunden.

»Hic Rhodos, hic salta!« hieß es nun wiederum.

Ich begann das Drama »Tiberius«.

 

Bruder Carl, der damals bereits Gefreiter geworden war und dessen Kaserne in der Nähe lag, wohnte im Hause nebenan. Wir sahen uns, wenn er keinen Dienst hatte, verbrachten manchen Sommerabend im Gartengewühle des Linkeschen Bades und fuhren des Sonnabends meist zu unseren Bräuten nach Hohenhaus. Damals haben wir ohne allen Mißklang aneinander nur Freude gefunden.

Auch Max Müller, der Musiker, dessen Mutter in Dresden ansässig war, tauchte wiederum auf. Er führte uns seinen jüngeren Bruder Oskar zu, der damals Medizin studierte, einen schönen Jüngling, an Theodor Körner erinnernd. Auch auf Hohenhaus stellte er ihn vor, und es gab dort musikalisch belebte Sonntage.

Das Einsiedlerwesen meiner Mansarde behagte mir. Der Geist des innigen Kleinmeistertums, wie es Ludwig Richter hat, verbunden mit seiner kindlichen Frömmigkeit, kam über mich. In dem, was ich schrieb, hat er jedoch keinen Ausdruck gefunden. Selbsttätig, gleichsam unbewußt, drängte alles in mir nach Enge, Beschränkung, Konzentration. Meine seit Jahren von Eindrücken, jähen Schicksalswechseln überlastete und überweitete Seele zog sich zusammen in einem Prozeß, in dem sie ihre noch vorhandene Elastizität bewies.

Mir war zumute wie Hans im Glück, nachdem er seinen Mühlstein in den Brunnen geworfen hat. Ich war nicht mehr der ächzende Lastträger, der einen fast unerreichbaren Gipfel zu ersteigen sich vorgenommen hat.

Die liebe Mansarde bewies mir, daß eine Seele selbst in frei gewählter Enge nicht gefangen ist, sondern ein fast schwereloses Dasein erreichen kann. Nun erst begriff ich das Übermenschentum eines Michelangelo, auch in seinem übermenschlichen Arbeitsmysterium. Man ist ein Gott, und dann hat die Arbeit kein Gewicht, oder ist ein Mensch wie er, und dann steht man in einem lebenslangen, unlösbaren Galeerenzwang, den man wohl mit den Wehen einer Kreißenden vergleichen kann, nur daß sie in diesem Falle nie, außer mit dem Tode, aufhören.

War es Schwäche, war es Trägheit oder Feigheit, daß ich mich so bald von meiner Last entbunden, den Ehrgeiz, mit den Größten in der bildenden Kunst zu wetteifern, von mir getan hatte? Ich konnte darüber im Zustand meiner Erlösung nicht nachdenken.

In der Mansarde, nahe dem Linkeschen Bade, wurde von mir in Ruhe und Stille das winzige Saatkorn in die Erde gelegt, das ich fortan allein zu begießen und zu pflegen wünschte. Das war eine Gärtnertätigkeit, bei der die Ungeduld nichts zu tun hatte. Es kam da weniger auf ein Tun als ein Lassen an, weniger auf ein Eilen als ein Warten, da hier äußerlich nichts zu erzwingen, sondern nur ein Wachsen und Werden von möglichen Hemmungen zu befreien und zu fördern war. Glauben und Vertrauen, Harren und Hoffen mußten dabei das Beste tun.

Meine Empfindungen sind dabei doch wohl zu den engen, häuslichen Blumentopfgefühlen zurückgekehrt. Die Philosophie meiner Mutter, die in Hamburg wieder auf mich eingewirkt hatte, vertrat ja immer eine fast bedürfnislose Einfachheit. Eine Topfpflanze konnte man hin und her tragen, man konnte mit ihr von dem einen Ort an den anderen, von einem Quartier in ein anderes übersiedeln, aber nur im Sommer und in bestimmten Wetterverhältnissen durfte man sie an die freie Luft tragen.

Den Gedanken, es würde das Topfgewächs eines Tages zu groß für ein Zimmer sein und dann, ins Freie ausgesetzt, überhaupt kaum noch wissen, was eine Bürgerwohnung ist, hatte ich damals nicht. Und so sind ja auch sogar tragische Naturen wie Otto Ludwig über Kachelofen- und Bratapfelzustände äußerlich nicht hinausgekommen.

 

Meine gute Mutter hielt ein stilles, gesichertes Pflichtleben für die glücklichste Lebensform. Und ich hatte ein Beispiel in nächster Nähe, wie heilsam ein strenger Pflichtenkreis auf einen geistig übertätigen Menschen wirken konnte. Der Militärdienst hatte aus Carl einen gar nicht mehr reizbaren, kerngesunden jungen Mann gemacht. Er, der sich zu Leibesübungen nie berufen gefühlt hatte, stürzte sich mit wahrer Lust in die gebotenen körperlichen Strapazen hinein. Seine Müdigkeit war die gesunde, der ein totenähnlicher Schlaf beschieden ist, nicht mehr die kranke der Reizbarkeit und Schlaflosigkeit.

So waren es gesunder Sinn und gesunde Eintracht, worin wir uns immer wieder begegneten.

Ein Wesen ist, nach Leibnitz, eine Entelechie, weil es seine Zustände strebend aus sich selbst entfaltet und eine gewisse Vollkommenheit in sich schließt. Bei einem anderen Philosophen ist Entelechie die Tendenz und Fähigkeit der Person, sich selbst zu verwirklichen. Wie weit ich auf diesem Wege damals gelangt war, ist zweifelhaft. Sicher ist, daß ich selten so im Augenblick gelebt, den Augenblick, kindhaft wiedergeboren, genossen habe.

Meine Seele war nur noch Lebenslust. Ein Bach mit grünem Ufer und Gänseblümchen, eine Libelle oder ein Schmetterling brachte größere Wonnen für mich als der ganze Süden. Einen Gang nach Hohenhaus, wo mich die Geliebte am Gitter erwartete, hätte ich gegen einen Empfang an der Pforte des Paradieses nicht ausgetauscht.

Meine Breslauer Zeiten waren in meinem Gedächtnis ausgelöscht. Ganz Schlesien lag nicht mehr in der Welt! Was ich dort erlebt haben mochte, fiel in ein Vorleben, von dem mich ein Tod und die darauffolgende Wiedergeburt getrennt hatten. Manchmal war es, als träfe mich eine Erinnerung, aber ich konnte und wollte sie nicht nachprüfen. Ähnliches geschieht etwa an einem Ort, den man in diesem Leben zum erstenmal betritt, wenn er einem plötzlich bekannt erscheint, was dann nur durch ein früheres Leben erklärlich sein würde.

Da war doch ein Mensch, der soundso aussah, sagte ich mir. Ein anderer hatte doch dieses Äußere und pflegte das und das zu sagen oder zu tun. Es gab einen Menschen, der Thilo hieß: war er nicht aus Wien und hat er mir nicht Turgenjew und anderes zu lesen gegeben? Es gab doch auch einen Hugo Schmidt? Ob er wohl noch am Leben ist? Was mag er tun? Eigentlich sehne ich mich nach ihm. Wir würden sehr fröhlich miteinander sein, Mary und die Schwestern würden viel Freude an ihm haben. Ein schöner und kluger Junge, mit der Liebe zum Schönen imprägniert. Sollte man da nicht einmal nachforschen?

Aber der Arme wird, wie immer, kein Geld haben. Nun, so rede ich mit Mary, wir laden ihn ein, wir schicken ihm das Geld für die Herreise und sorgen für seinen Unterhalt. Wir bezögen dann, vielleicht schlösse der junge Oskar Müller sich an, zu dreien, er, Hugo Schmidt und ich, eines der kleinen, lieblichen Dörfchen am Elbufer, die Nähe von Meißen wäre in Betracht zu ziehen, wir hätten auch Hohenhaus in der Nähe, und es würde ein Götterleben sein!

 


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