Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Neuntes Kapitel

Vom Hof aus einige Sprünge schräg über die Straße wohnte in einem hübschen, villenartigen Hause der ältliche Apotheker Linke mit seiner jungen, schönen Frau. Alfred, ihr Sohn, war jünger als ich, und ich bin wohl noch nicht zur Schule gegangen, als er zum erstenmal in meinen Gesichtskreis trat. Sein Gehabe erschreckte mich. Dinge, die schlechterdings nur imaginiert sein konnten, behandelte er als Wirklichkeit. Er habe, sagte er, eine Apotheke in Weißstein und eine Apotheke im Niederdorf. Sein Provisor in Weißstein mache ihm Sorge, sein Provisor im Niederdorf sei ein tüchtiger Mensch und arbeite zu seiner Zufriedenheit.

Diese krankhafte Art zu imaginieren hatte mit der meinen, wenn ich Märchen erzählte, durchaus nichts zu tun. Sie war mir ebenso neu wie unheimlich. Wirklichkeit blieb in meinem geistigen Haushalt Wirklichkeit, und Vorstellungen der Einbildungskraft wurden von mir nur als solche gewertet.

Alfred Linke war ein Knabe, den man mit jeder erdenklichen Sorgfalt betreute. Ausgesuchte Lehrkräfte leiteten seinen häuslichen Unterricht, der sich auch auf Musik erstreckte. Er erwies sich besonders klavieristisch als ein hochbegabtes Kind. Aber die Behauptung der Dorfjugend in solchen Fällen »Der ist ja aus Glas!« hatte auf ihn bezogen seine Richtigkeit. Ein natürliches Wort, ein Stoß vor die Brust, eine Prügelei hätte ihn, wie mir vorkam, in Scherben zerfallen zurückgelassen.

Alfred war gegen mich nicht abweisend. Seine Eltern erzeigten mir allenthalben viel Freundlichkeit, und doch hatte ich ihm gegenüber die Empfindung, wie man heute sagen würde, half-caste zu sein.

Dabei lag es durchaus nicht an meiner Mutter, wenn ich mit grauen, schlechten, fleckigen Kleiderfetzen und durchweichten Stiefeln vagabundierte. Sie sann sich die hübschesten Kittel aus, die ich jedoch, außer am Sonntag, mit Entrüstung ablehnte. Aber selbst sonntags, weil ich sie schonen mußte und weil sie mich von meinen Kameraden, den Gassenjungen, unterschieden und von ihnen glossiert wurden, litt ich sie nur mit gemischten Gefühlen kurze Zeit.

 

Es wird gesagt, daß die meisten Jugendspiele den Kampf nachahmen. Von einem gewissen Alter an vielleicht. Das Kapitel Kinderspiele verlangt ein Buch, das trotz einzelner Anläufe noch nicht geschrieben ist. In gewissen Jahren strebt das Kind, etwas anderes als es selbst zu sein. Es ist Hund, Pferd oder Dampfmaschine. Es kommt das einfache Fangespiel, worin sich Jäger und Wild nachahmen. Mit dem Versteckspiel mag es das gleiche sein. Wochenlang, besonders im Herbst, spielte die proletarische Unterwelt »Räuber und Gendarm«. Und nicht nur hierbei, sondern im ganzen hatte ich mich unter den Banditen der Straße, so zart ich war, zu einem Räuberhauptmann aufgeschwungen. Sie folgten mir, ich führte sie an. Das war beinahe mehr als ein Spiel, weil man eigentlich war, was man vorstellen wollte. Mit wie mancher Schwiele, Beule und Kratzwunde bin ich in mein Bürgerbereich zurückgekehrt. Von meinem siebenten Jahre aufwärts gewannen diese Spiele an Ernsthaftigkeit, und sie lehrten mich Menschen kennen.

Eine Gefolgschaft von zwanzig bis dreißig Jungens brachte ich wohl mitunter zusammen. Im allgemeinen standen sie bei größeren Unternehmungen hinter mir. Hie und da aber wurden sie aufsässig, konspirierten zum Teil oder in ihrer Gesamtheit gegen mich. Gelegentlich ging das so weit, daß man die Acht über mich verhängte. Wenn ich dann eine Zeitlang gemieden worden war und keiner der Anführer mit mir gesprochen hatte, bahnten sich meist Verhandlungen an. Dann wurden von mir Offiziere ernannt, ich gebrauchte meine Überredungskunst und brachte, wo das nichts half, Widerspenstige durch Geschenke auf meine Seite.

In Fällen von dauernder Widersetzlichkeit griff ich zur Exekution. Ich ging zum persönlichen Angriff über; dann kam es darauf an, daß ich obsiegte. War das der Fall, so entfernte sich meist der Unterlegene schimpfend, heulend, unter Drohungen. Trotzdem ich mein Bürgertum nie hervorkehrte, spürte ich doch bei diesem und jenem den Klassenhaß. Ich wurde mit Schimpfnamen traktiert. Ich erinnere mich, wie bei einer solchen Gelegenheit sich ein Kampf zwischen mir und meinem Verlästerer entspann, der wohl eine Viertelstunde dauerte. Er ging beinah auf Leben und Tod. Erwachsene rissen uns auseinander.

Die Jungen von Hinterhartau bei Salzbrunn waren damals berüchtigt. Sie belästigten Kinder und Erwachsene. Da organisierte ich eines Tages eine Strafexpedition. Es entstand eine Steinschlacht, die lange hin und her tobte. Die Hinterhartauer waren im Vorteil, denn wir mußten zu ihnen den Berg hinanstürmen. Aber wir taten es, ich voran, umsaust von einem gefährlichen Steinhagel. Die Hartauer räumten das Feld und verflüchtigten sich.

Ich selbst trug eine schwarzblaue, blutunterlaufene Zehe davon, und zwar trotz des Schuhleders, das die Wucht des Steinwurfes nicht wesentlich abschwächte. Wenn dies an der großen Zehe geschah, dachte ich mir, so kannst du von Glück sagen, daß deine Nase, dein Auge, deine Stirn heil geblieben sind.

 

Immer nach solchen Ausbrüchen meldete sich jedoch der Hang zur Träumerei und in seiner Folge zur Einsamkeit. Dieses Träumen war ein freies Schalten mit Vorstellungen, wie sie mir meine Sinne bisher vermittelt hatten. Es war zugleich eine innerliche Betrachtertätigkeit.

Dabei drängte sich mir eines Tages die Frage nach der Herkunft der Materie auf, als ich das Fensterbrett, die Steinwand daneben, die Marmorplatte unter dem Spiegel und allerlei Gegenstände forschend anfaßte. Wieso seid ihr da? Wo kommt ihr her? fragte ich mich. Ich geriet über das Etwas in Verwunderung, während ich das Nichts als selbstverständlich voraussetzte.

Einmal verlor ich mich in Meditationen über ein grünes Blatt. Ich wurde nicht müde, es zu betrachten: das Blattgerippe, die Farbe, die Form. Die unendliche Feinheit und Zartheit des Gebildes versetzte mich in staunende Bewunderung. Ich tat die Frage nach dem Zusammenhalt, ich dachte das unlösliche Rätsel der Kohäsion.

Meine Betrachtungen endeten wunderlich. Könntest du dieses kleine, unscheinbare Blatt irgendwie manuell konstruieren und herstellen, sagte ich zu mir, so würdest du trotz deiner Jugend der berühmteste unter den Menschen sein.

 

Als Knabe, ja wohl noch als Kind kam ich dem Begriff des Kantischen Dinges an sich nahe. Ich betrachtete einen Baum, ich beroch und berührte seinen Stamm. Ich stellte mit meiner Stirn dessen Härte fest. Ich sagte: Nun ja, ich nenne dich Baum, ich weiß, du bestehst aus Holz, das brennbar ist, doch was du eigentlich bist, weiß ich nicht.

Ich ging auch weiter und machte mich selbst zum Objekt. Was bist du ursprünglich selbst? Was ist ursprünglich dein eigenstes Wesen? Diese beiden Fragen stellte ich an mich. In einem solchen Augenblick vermochte ich hinter mich selbst zu dringen und als Einzelwesen mich aufzugeben.

Ich war im Sommer viel allein, und das wurde mir, wohl auch durch Gewöhnung, mehr und mehr angenehm, aber doch nicht so, daß ich Einsamkeit und Zurückgezogenheit nicht immer wieder gern durch einen Sprung ins bewegte Leben unterbrochen gesehen hätte. In weiten Streifen bewegte ich mich während meiner einsamen Stunden in entlegenen Teilen der Anlagen umher, saß in Wipfeln von Bäumen, den promenierenden Kurgästen unsichtbar, oder lag auf den grünen Rasen gestreckt an den Kieswegen.

Verschollen ist heute der Typus des Bonvivants. Sanitätsrat Doktor Valentiner konnte damals als solcher genommen werden. Er machte im Winter als Schiffsarzt Weltreisen und war bei den Damen allbeliebt.

»Wilhelm von Oranien!« sagte er einmal mit einem Blick auf mich in einem Tone, der Friedrich Haase Ehre gemacht haben würde, als er mich im Grase liegend erblickt hatte und pathetisch heiter seinen Zylinder schwingend vorüberschritt. Ich schließe daraus, daß ich vielleicht einen nicht ganz so schlimmen Eindruck gemacht hatte, als ich von mir selbst vermutete, und daß meine Mutter mich kleidsam ausstattete.

 

Die Salzbach, im Dialekt kurzweg Baache genannt, teilte den Ort, der als Ober-, Mittel- und Nieder-Salzbrunn die Erstreckung von mindestens einer deutschen Meile hatte, in zwei Teile. Ober-Salzbrunn begann mit dem Kurländischen Hof, der einem Fräulein von Randow gehörte. Nieder-Salzbrunn dagegen schloß mit den beiden Ortskirchen, der katholischen und der evangelischen, ab, die sich zu beiden Seiten der Chaussee, wenn sie gewollt hätten, die Hand reichen konnten. Der eigentliche Ort lag seiner ganzen Länge nach an der Westseite der Baache, aber es gab, wie in vielen Dörfern des nahen Böhmens und selbst in Prag, eine Kleine Seite. Ich war auf der Großen und Kleinen zu Hause. Ich ging nicht nur in den Weberhütten, sondern auch in den übrigen Werkstätten der Kleinen als ein Dazugehöriger ungehindert, ja unbeachtet aus und ein, ebenso auch in den einzelnen, bis dahin versprengten Elendsquartieren der Bergleute aus dem nahen Industrie- und Kohlenbezirk. Dem Schmiede sah ich zu, wenn er Hufeisen auflegte, dem von Tuchfetzen umgebenen Schneider auf seinem niederen Tisch bei der Stichelei, dem Schuhmacher auf seinem Schemel vor dem Arbeitstisch, wo hinter den wassergefüllten Glaskugeln die Ölfunse brannte.

In diesen engen Schuhmacherwerkstätten sah ich zuerst mit Verwunderung, inwieweit sich kleine Vögel, hier meist Rotkehlchen und Rotschwänzchen, mit den Menschen vertraut machen können. Ohne durch Familien- und Werkstattlärm der eng zusammengedrängten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften gestört zu sein, stelzten und flatterten sie herum und behaupteten furchtlos die seltsamsten Plätze: den Kopf der Katze oder den Arm des Handwerksmeisters, während er den Hammer schwang.

Meist gab man diesen bedrängten Tierchen winters Unterkunft und ließ sie beim ersten Hauch des Frühlings ungehindert davonfliegen.

Als ich irgendwann eines Morgens eine solche mir bekannte Werkstatt betrat, wußte ich nicht sogleich, wo ich war. Alles zum Handwerk gehörige Mobiliar und Gerät war fortgeräumt. Ich kam vom Spiel, hatte mich im Brunnensaal mit Salzbrunnen erquickt, das Leben dankbar in mich gesogen. Es hätte für mich keinen Himmel gegeben, der mich hätte mehr anlocken können als dieses bloße, gesunde Sein.

Ich weiß nun nicht, wie ich plötzlich in die Schusterwerkstatt geraten bin, ein Dorfjunge mag mich dahin verschleppt haben, um mich mit etwas zu überraschen, was das Ereignis des Tages war.

Der Schuhmachermeister nämlich hatte den Schusterschemel mit einem Sarge und die sitzende Stellung mit der waagrecht-ausgestreckten vertauscht. Ich begriff nicht sogleich, daß es so war und wen ich in dem hier aufgebahrten Toten vor mir hatte.

Er lag da mit geöltem, sorgsam frisiertem Scheitel, das Gesicht wachsgelb und wohlrasiert, Hemd- und Halskragen blütenweiß, einen schwarzen Schlips um den Hals, im schwarzen Rock, weißer Weste und schwarzer Hose, weiße Glacéhandschuhe an den über dem Magen gefalteten Händen und, wahrscheinlich ein Werk des Toten selbst, zwei nagelneue Schuhe an den Füßen.

Das weiße, abgeschabte Sohlenleder, das noch nie den Boden berührt hatte, ist mir in Erinnerung, und ich sehe bis heut nie dergleichen Sohlen, ohne an den Handwerksmeister im Sarge zu denken.

 


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