Gerhart Hauptmann
Das Abenteuer meiner Jugend
Gerhart Hauptmann

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Elftes Kapitel

Damals erschloß ich Marien, soweit es mir selbst erschlossen war, das Gebiet der bildenden Kunst. Wir besuchten gemeinsam die Galerie, wo ich zum erstenmal den Originalen größter Werke der Malerei gegenüberstand und ein fast schmerzlicher Rausch mit neuen, übermächtigen Eindrücken sich verband. Wie sie bekannte, hatte keiner der Lehrer, bei denen sie literarische und künstlerische Erkenntnisse gesucht hatte, ihr solche zu vermitteln vermocht. Ich machte sie frei, lehrte sie ohne Bedenken zugreifen. Die trennende Wand war im Handumdrehen weggeräumt, und die ganze Welt der dichtenden und bildenden Kunst stand ihr offen.

Man hatte ihr mit den Schwierigkeiten, die das Kunstverständnis habe, dermaßen Angst gemacht, daß sie den Wald vor Bäumen nicht sah und anfänglich gar nicht begreifen konnte, wie man so einfach schön und voraussetzungslos das Allergrößte genießen konnte.

 

Muß ich nicht sein in dem, was meines Vaters ist? Diese Worte werden dem Jesuskind in den Mund gelegt, als die Mutter, der es verlorengegangen ist, es im Tempel wiederfindet. Ein Gefühl, dieser Antwort verwandt, empfand ich in der Dresdener Galerie, wo mich alte hohe Bekannte aus dem Elternhaus von den Wänden grüßten, allen voran Raffaels Jungfrau-Mutter-Königin, die Vertraute von Jugend an, und wenn mich vor ihr in der Stille des Raumes, den sie beherrscht, ein inneres Weihegefühl überkam, dem sich tiefe Bewegung beimischte, so geschah dies nicht nur, weil ich nach dem Abglanz nun der Himmlischen selbst gegenüberstand, sondern wegen der Vertrautheit mit ihr.

Natürlich erfuhr das alles Marie.

Wir standen einander schon sehr nahe, als ich noch immer nicht den Mut finden konnte, die entscheidende Frage zu tun, bis sie eines Tages dann doch über meine Lippen gesprungen war.

Als ob man einen Nachtwandler aufwecke, warf es Marie, die neben mir ging, auf dem Fuße herum, so daß ich umkehren und ihr folgen mußte. Wir durchschritten die Dresdner Bürgerwiese und hatten den Großen Garten zum Ziel. Nun strebten wir wieder nach der Stadtseite.

Wir sind, ohne weiter von dieser Sache zu sprechen, sehr wortkarg nach Hohenhaus heimgekehrt.

Es kam nun für mich eine schlaflose Nacht, hernach ein schrecklicher Vormittag, wo es mir war, als ob ich nicht leben, nicht sterben könne. Nach Tisch aber sagte dann Marie, sie wolle einmal versuchen, ob sie die Ruine, den höchsten Punkt des Parkes, ersteigen könne. Aber ich müsse ihr wohl meinen Arm bieten.

So reichte ich also Marien den Arm, und als wir ein wenig höher gelangt waren, schob ich den meinen unter den ihren, um sie besser stützen zu können. Da sah ich ihn wieder, den verräterischen dunklen Fleck, der die Grenze von Wange und Hals überzog. Marie war erregt und ich nicht minder. Langsam kamen wir höher und höher hinauf, schließlich in das verwilderte sogenannte Friedenstal, ohne daß irgendein mehr als beiläufiges Wort sich von ihren und meinen Lippen gelöst hatte. Ich sagte etwa: »Ein Stein!« oder »Ein bißchen mehr rechts!« – Oder: »Stehen wir lieber ein Weilchen still, wir haben ja Zeit, wir können ja ausruhen!« – Aber ich mußte sehen, wie sich ihre Brust immer höher und höher hob, sie mußte manchmal nach Atem ringen.

Wir erreichten den Turm, von dem aus man einen umfassenden Blick über das weite, herrliche Elbtal von Dresden im Osten bis Meißen im Westen hat. Von hier sieht man den Strom in sieben getrennten Windungen. Aller Augenblicke rauschen die Schnellzüge Dresden–Leipzig, Leipzig–Dresden, Berlin–Dresden, Dresden–Berlin. In jener Zeit hatten die sächsischen Lokomotiven noch seltsame, zwiebelartige Schornsteine, ihre Dampfpfeifen schrillten nicht, sie gaben einen heulenden Ton. Während solche Geräusche heraufdrangen, hatten wir uns auf einem steinernen Sitz in einer Nische des Turmes niedergelassen. Der Leidenden tat es not, zu ruhen.

Als wir dann eine Weile gerastet hatten, unsere Schultern berührten sich, bog sich plötzlich das schöne, süße und ach so bleiche Haupt zu mir hin, und ich fühlte in einem weichen Kuß jenes unausgesprochene, unwiderrufliche Wort, nach dem ich gelechzt hatte. Es war aus Marie meine Mary geworden.

 

Und nun kam eine der seltsamsten aller Erfahrungen, die ich zeit meines Lebens mit mir gemacht habe. Ich vernahm eine Stimme, die zu mir sagte: »Jetzt gehörst du mir, du gehörst nicht mehr dir.« Und zugleich empfand ich eine so überwältigende Traurigkeit, daß ich mir hätte mögen beide Hände vor die Stirn schlagen und davonlaufen.

Dieser Zustand schwand, wie er kam. Schon der folgende Tag und die drei oder vier nächsten waren reine Glückseligkeit. Es waren die Tage heimlicher Liebe, von der das Volkslied sagt: »Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß . . .« Es war die Erfüllung angebrochen, mein Wesen ergriff, wonach es den größten Teil meines Lebens ahndevollen Ausblick gehalten hatte.

Mary war Schönheit durch und durch, nicht nur mehr für das äußere Auge: die Vermählung der Seele und Sinne war vor sich gegangen. Vermöge eines magischen Vorganges besaßen Mary, wie ich sie unwillkürlich nennen mußte, und ich einander ganz. Wie wenig ist von einem solchen Erlebnis deutlich zu machen dem, der es nicht kennt, und welche Kunst ist erforderlich, das größte der Wunder, das in uns vorgehen kann, zu beschreiben! Das ganze Leben gipfelt darin.

Ohne daß die alte Dame aus Augsburg ahnte, was mit uns beiden geschehen war, wurden wir von ihr in die »Afrikanerin« und bald darauf in »Aida« mitgenommen.

Ich hatte nie eine Oper gehört: man mag erwägen, welcher Rausch mich armen Hungerleider ergriff, als ich Schulter an Schulter neben dem schönsten Mädchen im Parkett saß und, unbemerkt mit ihm Hand in Hand, versunken im unsichtbaren Reich der Töne, dem Prunk und Glanz der Bühne und des Hauses hingegeben, mich wiederfand oder wenn ich, durch einen Blick belohnt, hinter dem Rücken der Großmama und der Baronin Süßkind, den pelzverbrämten Mantel um Marys herrliche Schultern legte. Konnte ich eines solchen Glückes, eines so märchenhaften Aufstieges in die festlichen Bereiche des Lebens und der Kunst noch vor wenigen Wochen gewärtig sein?

War es ein Wunder, wenn ich die schmetternden Fanfaren von Meyerbeer und Verdi auf mich deutete, wenn ein immerwährendes, jauchzendes Gewölk von Feuer und Gold um mich war? wenn die farbigen und brennenden Immaterialitäten der Musik, diese unaussprechlichen Fluiden, eigentlich nur zwischen Mary und mir zu kommunizieren schienen? Es waren gleichsam goldene Wetter von Musik, die Chöre von Seraphim, allein für Mary und mich veranstaltet, um das Ungeheure zu glorifizieren, das an uns geschehen war.

Binnen kurzem, an einem der ersten trüben und regnerischen Herbstabende, mußte dann geschieden sein.

 

Wie kommt es, daß man beim Abschied von einem Menschen, den man vierzehn Tage zuvor kaum dem Namen nach gekannt hat, ein Abschiedsweh ohnegleichen empfinden muß? Konnte ich es doch jetzt kaum noch verstehen, wie ohne Mary zu leben mir jemals möglich gewesen war.

Sie hatte sich an einer versteckten Stelle der langen Parkmauer aufgestellt. Sie trug ein grau und weiß gestreiftes kurzes wolliges Jäckchen, das von uns das Zebra genannt wurde. Ich verließ das untere Hohenhauser Tor zu Fuß und sah sogleich das Zebra winken. Noch einen Schritt, und ich war allein.

Es sind seltsame Augenblicke, wenn auf einmal ein lautes und reiches Erleben, in dessen Mitte man eben noch gestanden hat, nur noch ein Erinnern ist. Der ganze Körper spannt sich ab, unwillkürlich senkt sich der Kopf, man schreitet fort, ohne des Weges zu achten, schreitet, sinnend, gleichsam in sich hinein, bleibt stehen, faßt sich leicht an die Stirn und fragt sich, ob das Erlebte wirklich war oder nur einer der vielen Träume, die uns heimsuchen.

So ging es mir, als ich mit nichts weiter als einem Handtäschchen den hübschen Weg nach Kötzschenbroda hinunter zum Bahnhof ging. Ich mußte nach Dresden-Neustadt hinein, um von dort mit dem Nachtzug über Görlitz, Kohlfurt den Bahnhof Sorgau und Nieder-Salzbrunn zu erreichen.

Es ist etwas über die Maßen Glückseliges geschehen, sagte ich mir. Aber nun bist du gerade dadurch einem Gefühl des qualvollsten Darbens, des peinlichsten Entbehrens, ja fast der Verzweiflung ausgeliefert. Hattest du dich bisher nicht durch die Widerwärtigkeiten des Daseins wie durch übelriechende, unterirdische Gänge durchschlagen müssen? Wie willst du jetzt noch leben ohne Lebensluft? Ohne Mary war mir die Sonne fortan kein Licht. Mit ihr hatte die Nacht eine Sonne.

Von meiner Bedürftigkeit hatte Mary natürlich keine Vorstellung. Mein Geldmangel war für mich kein Gesprächsthema. Ich hatte behauptet, ich brauchte weder eine Reisedecke noch einen Paletot. Die Nacht aber wurde bitter kalt, Heizung, wie heut, in einem Coupé dritter Klasse gab es nicht, und so fror ich trotz meiner Glücksbeladenheit, zusammengekrümmt auf dem Sitzbrett liegend, die ganze Nacht durch gottsjämmerlich.

In Kohlfurt war eine Stunde Aufenthalt. Ich sah, wie die einfachsten Leute sich mit heißem Grog oder heißem Kaffee stärkten, besaß aber leider keinen Pfennig mehr, als das Billett gekostet hatte.

Der alte Jammer war somit wiederum angebrochen, was keinen geringen Kontrast zu den Fleischtöpfen von Hohenhaus und den olympischen Freuden der »Afrikanerin« und der »Aida« ausmachte.

Ich zitterte, hustete, fror, setzte mich dicht an den glühenden Ofen, sog die schlechte, verräucherte Luft des Wartesaals dritter Klasse ein und meditierte wachend fort, wie der Halbschlaf in mir meditiert hatte.

Das Wunder also war eingetreten. Ich hatte in meinem Selbstvertrauen der Schustersfrau, meiner Wirtin, gegenüber recht behalten. »Machen Sie sich keine Sorgen!« hatte ich ihr geantwortet, als sie mich fragte, was aus mir werden solle.

Auch die Karten von dem Sorgauer Büfettfräulein, die mir meine nahe Verlobung voraussagten, hatten recht behalten. Trotzdem, meine Lage war immer noch nicht beneidenswert.

Mary und ich hatten eine über mehrere Jahre gehende Wartezeit, bevor wir einander heiraten wollten, verabredet. Was konnte nicht alles geschehen in dieser Frist! Würde und konnte Mary mir treu bleiben? Schon indem ich dies fragte, in dem nächtlich erleuchteten Kohlfurter Wartesaal, kamen eifersüchtige, peinliche Ängste. Ich war nicht mehr da, war weit weg von ihr. Konnte sie nicht schon heut erschreckt, ernüchtert und reuigen Überlegungen hingegeben sein, wie sich die Torheit gutmachen lasse? Und würden nicht, wenn sie sich verriete, die Schwestern, der Bruder auf sie einstürmen? Würde ihr nicht die Großmama mit Enterbung drohen, der Bankier Thienemann ihr ins Gewissen reden? Und könnte sie all diesen Mächten standhalten?

Ich brachte das Glück, begraben unter einem Berge von Sorgen, heim.

 

Meiner Mutter verriet ich mich. Ich nehme an, daß sie sehr bald meinen Vater verständigt hat. Er war nicht der Mann, von Dingen, die so völlig außerhalb aller Regel standen, anders als obenhin Kenntnis zu nehmen. Er glaubte und glaubte nicht daran, bereitete mir keine Hindernisse, sprach aber nie von der Sache mit mir.

 

Die Wohnung der Eltern in einem Gutshaus kam mir recht ärmlich vor: ein Zimmerchen im Parterre ging nach vorn, eines nach rückwärts, auf einen durch einen großen Düngerhaufen gezierten, von Ställen und Scheunen umgebenen Hof. Meine Mutter kochte selbst, sie hatte zur Hilfe ein billiges Hausmädchen. Im Keller hantierte das Individuum, das alles in allem zu besorgen hatte und außerdem neben dem grauen Leonberger vor dem Bierwägelchen in den Sielen ging.

Zwar war nun Georg in der Tat verheiratet. Adele hatte ihm einige hunderttausend Mark zugebracht. Aber er saß in Hamburg und mußte viel Geld ins Geschäft stecken. Die Misere von Nieder-Salzbrunn erlitt also keine Veränderung.

Tante Mathildens Möbel waren im ersten Stock des Gutshauses magaziniert. Paperle hieß ihr Papagei, den die Eltern in Pension hatten. Weil ich mir seinen Ruf »Ida, koch Kaffee!« noch deutlich vorstellen kann, weiß ich, daß unser damaliges Dienstmädchen Ida geheißen hat. Ich verweilte diesmal nur wenige Tage in dieser Winkelexistenz, um dann nach der peinlichen Auseinandersetzung, die Geldsachen meist herbeiführen, mit vierzig Mark Monatswechsel plus Reisegeld in meinen Breslauer Wirrwarr zurückzukehren.

Das war wie der Sturz in ein Vakuum.

Ich war nicht gesund. Noch jüngst, in Marys Gegenwart, hatte sich bei verschiedenen Besuchen der Dresdener Galerie jener migräneartige Anfall wieder eingestellt, der mich zuerst in Lederose befallen hat. Ich hatte meinen Blick auf ein Bild konzentriert, da erschien in dessen Mitte jene Mouche, jener graue Punkt, mit dem auf den Äckern meines Onkels Schubert sich ein Zustand nervösen Erblindens einleitete.

Ein so geschwächtes Nervensystem konnte nicht ohne Gefahr das Chaos innerer Tendenzen wieder aufnehmen und zugleich mit den Sorgen der neuen Gebundenheit fortleben. Da aber kam Gott sei Dank endlich der lange, ersehnte, erlösende Brief, der Bild und Locke Marys enthielt und jeden Zweifel an der völligen Hingebung ihres Herzens zunichte machte.

Waren somit meine Ängste erstickt und Mary mir zum zweiten Male geschenkt worden, so hatte ich in Locke und Bild zwei rasend verehrte Fetische, die mir über die Zeiten von Brief zu Brief hinweghalfen.

Außer ihrer Liebe war aber aus der Welt Marys nichts herübergedrungen, was mir den vulgären Kampf ums Dasein erleichtern konnte. Ich hatte mich weiter durchzuschlagen, so schlecht es ging, wenn auch nun mit besseren Aussichten.

Wie ich meine Schulden von einigen hundert Mark bezahlen sollte, wußte ich nicht.

 

Um diese Zeit schlug mein Freund Max Fleischer mir vor, ich solle zu ihm und seiner verwitweten Mutter übersiedeln, die für ein geringes das Mittagessen für mich besorgen werde. Ich könne bei ihnen leben, bis meine Schulden bezahlt seien, wenn ich mich nur verpflichten möchte, dann meinen Wechsel der Mutter auszuliefern. Ich sagte meinem Schuster sogleich Lebewohl.

Nie machte ein Umzug weniger Mühe: ich brauchte ja nur so, wie ich war, von einem Haus in das andere zu gehen. Mit diesem Gange jedoch – meinem Freunde und seiner Mutter sei Dank! – war eine Wendung zum Besseren eingeleitet.

Die Küche der alten Frau Fleischer in all ihrer ausgesuchten Einfachheit schlug bei mir an wie eine Kur. Das Essen: Linsen, Bohnen, Erbsen mit Speck, stand pünktlich auf dem Mittagstisch, so daß ich nun nicht mehr voll Neid und mit knurrendem Magen sehen mußte, wie etwa der Sohn des Pastors Primarius Späth von St. Magdalenen, die Freude auf die reichliche Mittagsmahlzeit im Gesicht, vor der Kunstschule einen Augenblick stille stand, das Hütchen lüftete und in Richtung der fetten Pfarrei davoneilte. Mein Tisch war so gut wie der seine gedeckt, ob mit weniger trefflichen Dingen, war mir gleichgültig.

 


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